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Der Duft der Kindheit

25.02.2016

Franzosen an sich sind eine fiktive Gattung, es gibt indes Normannen und Bretonen, Bewohner des Languedoc und der Champagne, Lothringer und Flamen, Burgunder und Provenzalen. Es gibt den Pariser Schick und die normannische Dickschädeligkeit, es gibt den Bourgogneser Stolz und die provenzalische Traumseligkeit.

Jedes Ding hat seinen Ort, jede Blume ihr Licht, jeder Mensch sein Land.

Ein Mensch ohne Land, ohne den Teint und den Zungenschlag seiner Herkunft, ohne den Duft seiner Kindheit und den Geschmack der süßen und herben Früchte seiner Gärten, ein Mensch ohne die Impressionen des Himmelslichts und der Witterung seiner Heimat, der elementaren Geräusche und Klänge der Erde, des Hufschlags, des Wieherns und Blökens und Krähens, des Hämmerns und Sägens, ein Mensch ohne die Impressionen der lokalen Farben des Himmels, des Morgengrauens, des Abendschimmers, der Bläue des Sommertags – was ist er außer ein leerer Sack, ein lecker Krug, ein Windbeutel und unbehauster Affe der universellen Leere, eine gesichtslose Fassade der Langeweile und Indifferenz.

Ohne die böhmischen Wälder kein Adalbert Stifter.

Kein Jaccottet ohne Waadt und Drôme.

Kein George ohne Rhein.

Keine Lyrik der Troubadours ohne die luzide Sinnlichkeit und das geistige Licht Aquitaniens.

Keine Sappho ohne Lesbos.

Goethe bricht nach Italien auf, kehrt aber in sein Gartenhaus an der Ilm zurück.

Die Liebesmacht, die Goethe von Italien an die Ilm zurücklenkte, war nicht der sinnliche Zauber Ovids und der erotische Impuls, mit dem er auf den schönen Rücken seiner Römerin antike Rhythmen klopfte, es war die Sehnsucht nach Vollendung durch die schmerzhafte Verwandlung im Feuer- und Opfertod des Liebesfalters, eine deutsche Flamme in einer antiken Lampe.

Die natürlichen Verbündeten des lokalen Menschen sind die heimischen Blumen und Tiere, das Wetter seiner Himmelsregion, die windige Weite seiner Ebene oder seines Meers, die Verheißung des Schneelichts seiner Gipfel.

Der lokale Mensch hat sein Gesicht wie der Baum seine Rinde, die Rinde ihre Narben, der Uferstein seine Flechten, der Waldpfad seine Spuren und Verwerfungen.

Die Dekadenz der europäischen Kultur beginnt mit der Idee des Uomo Universale und gipfelt in der Idee der Globalisierung der einen Menschheit.

Der globale Mensch hat kein eigenes Gesicht, er spiegelt wie die Pfütze die vorüberziehenden Wolkenfetzen die visuellen Fetzen des Werbespots, der Illustrierten, der Nachrichten.

Der lokale Mensch atmet mit seinem Gedächtnis.

Der globale Mensch hat statt eines Gedächtnisses einen Terminkalender.

Es war der Geruch des Herdfeuers, die flackernde Glut an der Decke, wo der Fliegenfänger baumelte, der feierliche Klang der Glocken, der süßlich-betäubende Duft des Weihrauchs und der Lilien am Marienaltar, es war der mißliche Tritt in den Kuhmist, das Loch im Fuß des Großvaters, das er von Verdun mitbrachte, es war der Dunst in der Waschküche und das Wabern des großen Kessels mit den Einmachfrüchten, der Duft nach Lebkuchen und Kerzen zu Weihnachten, es war der allsonntägliche Gang auf den Friedhof, der Sand und Schlick am Moselufer, wenn das Schilf von den Wellen wogte, es war das Sehnsuchtsweh, ausgebreitet im Abendlicht über den Hügeln der Eifel, es waren all diese und tausend andere Dinge, die sich wie tote Mücken der Erinnerung wieder zu krabbeln bemüßigten, wenn der Atem der Liebe sie behauchte.

„Wir bleiben in der Provinz“ ist als Wort des Philosophen überliefert, der seine Weltgedanken aus dem Brunnen vor der Hütte von Todtnauberg schöpfte.

In der einzigartigen Maserung des Blatts, das dir von der Linde vor der Kirche der Wind zugespielt hat, liest du alle Rätsel des Lebens.

Der globale Mensch hat kein Geheimnis. Er kann durch einen Roboter ersetzt werden – der Traum aller Globalisierer und Internationalisten.

Sie tun so, als bliebe alles beim Alten, wenn statt der lebendigen Stimme der Mutter ein Band abgespult wird, um den Säugling in den Schlaf zu wiegen.

Sie tun so, als bliebe alles beim Alten, wenn die einzelnen Stimmen der Dichter in einem allgemeinen babylonischen Sprachengewirr untergehen.

Sie tun so, als bliebe alles beim Alten, wenn die christliche Liturgie mit Popmusik oder Jazz ins geneigte Ohr des Radiohörers geträufelt wird.

Sie tun so, als bliebe alles beim Alten, wenn der christliche Kalender globalisiert und die Feste umgewidmet werden.

„Weltmusik“, eine contradictio in adjecto.

Wer bayerischen, rheinischen oder sächsischen Dialekt spricht, kann nicht so leicht lügen wie der smarte Börsianer oder internationale Kunstagent in seinem fehler- und keimfreien Englisch.

Die großen Werke entstehen nicht aus der Befruchtung durch den Dunst der Metropolen, vielmehr sind ihre Hebammen die Kräfte der Bewahrung des Eigenen, das Dichter wie Benn nach Berlin oder Canetti nach Wien aus ihren Provinzen mitbrachten, im Widerstreit mit den Dämonen der Nivellierung und des Verwackelns und Verwaschens der eigenen Zunge im Geschwätz der Politik und der Zeitung.

Die Kirche ist in der Gefahr, sich selbst zu beschädigen, wenn sie das Katholische mit dem Globalen ineinssetzt.

Die Apostel und Jünger der neuen Kirche, die aus aller Herren Länder zusammengeströmt waren, haben bei der Ausgießung des Heiligen Geistes in Gestalt der Feuerzungen nicht in einer Einheitssprache reden und sich verständigen, sondern die Botschaft jeder in seiner eigene Sprache hören und verstehen und übersetzen können.

Wenn man die schlichten Veilchen Brentanos durch üppige Orchideen ersetzte, ginge der eigentümliche Duft und Sinn seiner Verse verloren.

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