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„Ich meine es ernst!“

20.11.2015

Anmerkungen zu den Begriffen Ernst und Lebensernst

Es scheint, als wären die Begriffe Ernst und Spiel nichts als einfache Gegensätze. Dem ist nicht so: Beobachten wir Kinder beim Spiel, gewahren wir oft einen hohen Ernst in ihrem Gebaren und ihren Mienen, die von einer Konzentration, einem Eifer und einer Selbstgegenwart zeugen, die uns von unserem Verhalten und Selbstgefühl im Verfolg der Erledigung ernsthafter schulischer oder beruflicher Aufgaben her bekannt sind.

Wenn Kinder mit einem Kaufladen Kaufen und Verkaufen spielen, hantieren sie mit Miniaturausgaben der echten Waren, ja oft verbergen sich in den Tütchen oder den winzigen Schubladen, auf denen „Mehl“ oder „Nüsse“ steht, echtes Mehl und echte Nüsse. Auch das Verhalten der Kinder im Verfolg ihrer Spielhandlungen spiegelt das Verhalten der Erwachsenen im Kontext echter Kauf- und Tauschhandlungen, bei denen materielle Güter gegen Geld getauscht werden: Wenn das Kind an der Kasse dem anderen, das eingekauft hat, nicht richtig herausgibt, zeigt dieses die Entrüstung oder Enttäuschung, die auch den Erwachsenen bei analogen Verhältnissen überkommen, wenn ihm die Kassiererin falsch herausgegeben hat.

Hier bemerken wir allerdings einen wichtigen Unterschied in den Anwendungen der Begriffe Ernst und Spiel: Das Geld der Kinder, die Kaufladen spielen, ist kein echtes Geld, sondern Spielgeld, es sieht in etwa so aus wie echtes Geld, aber der Versuch, es bei der Bank einzuwechseln oder gegen andere Devisen einzutauschen, würde denjenigen, der das versuchte, entweder der Lächerlichkeit preisgeben oder dem Verdacht aussetzen, nicht ganz bei Trost zu sein, denn mit Spielgeld als Betrüger auftreten zu wollen, kann kein Mensch ernst nehmen. Wir bemerken, daß reines Spielgeld nicht die gleiche Bedeutung hat wie Falschgeld oder sogenannte „Blüten“.

Hier kommen wir dem wahren Unterschied der Begriffe Ernst und Spiel allmählich auf die Spur: Das Kaufladen-Spiel der Kinder ist, auch wenn sie es mit allem Ernst und vollem Engagement betreiben, kein echtes Kaufen und Verkaufen, weil die gespielten Kaufhandlungen kein echter Teil des realen Marktgeschehens sind, das stattfindet, wenn morgens die Supermärkte ihre Tore öffnen. Wenn die Kassiererin dabei erwischt wird, wie sie sich aus der Kasse bedient, wird sie fristlos gekündigt und hat schmerzliche finanzielle Einbußen einzustecken und einen Strafanzeige am Hals. Das Kind, das dem anderen beim Kaufladen-Spiel falsch herausgibt, wird wohl eine Sanktion erfahren und muß eine Spielrunde aussetzen, bei der nächsten ist es vielleicht schon wieder dabei. Es ist nicht existentiell eingeschränkt oder bedroht wie die Kassiererin im Supermarkt.

Wenn Kinder Schule spielen, kann es passieren, daß das Kind, das den vorlauten oder rüpelhaften Schüler markiert, von dem Lehrer-KInd bestraft wird, dieses zückt gewichtig ein rotes Büchlein, blättert darin und macht einen amtlichen Strich an der vorgesehenen Stelle, wo unsichtbar der Name des Delinquenten prangt. Wenn das Schule-Spielen vorbei ist, ist der Vorfall schon aus aller Sinn und Gedächtnis. Er zeitigt keine Konsequenzen, während das Kind, das wegen schwerwiegender Fehlanpassungen oder ADHS-Symptomatik auffällig geworden ist, einschließlich seiner Eltern mit einschränkenden Maßnahmen rechnen muß.

Wenn Kinder Polizisten spielen, die Verbrecher jagen, kann es im wilden Gefecht dazu kommen, daß ein Polizist-Kind ein Verbrecher-Kind oder ein Verbrecher-Kind ein Polizist-Kind „erschießt“, daß heißt, das eine Kind tut so, als schieße es mit einer Spielzeugpistole auf das andere Kind, und das scheinbar getroffene Kind tut so, als sei es getroffen, läßt sich fallen und stellt sich tot. Gott sei Dank steht es gleich wieder auf.

Hier glauben wir den echten Unterschied in den Begriffen von Ernst und Spiel getroffen zu haben: Der Ernst des Lebens kann Folgen zeitigen, die einschneidend und irreversibel sind wie der Tod, während wir, wie man sagt, die Spielkarten immer wieder neu mischen können.

An diesem Punkt überschneiden sich auch die Verwendungsweisen der Begriffe Spiel und Kunst, denn wie Aristoteles gesehen hat, liegt der Spielcharakter der Kunst an dem, was er Mimesis nannte. Wir können es so wiedergeben: Der von Hamlet im gleichnamigen Stück von William Shakespeare für den verhaßten König gehaltene Polonius, der sich hinter einem Vorhang versteckt hält, wird vom Prinzen von Dänemark mit einem Säbelhieb niedergemacht und erledigt, während der Schauspieler, der den Polonius spielt, hinter der Bühne putzmunter wieder aufspringt.

Das liturgische Spiel mit dem größten Ernst ist die Heilige Meßfeier und Eucharistie, in der in symbolischen Handlungen und unter symbolischen Verkörperungen die Gemeinde die reale Gegenwart Gottes erfährt und empfängt. Die Feier ist kein reines Spiel wie das Spiel der Kunst, bei dem die Einsätze Gesten und Worte, nicht aber das Leben darstellen. Hier aber ist der Einsatz das Leben der Seele. Denn wer an der Feier teilnimmt, ohne ihrer würdig zu sein, nimmt Schaden an seiner Seele.

Der Ernst des Lebens wird fühlbar an der Höhe und dem Ausmaß der Kosten, die jedes Wort, jede Geste, jede Handlung an entscheidender Stelle mit sich bringen kann. Das nicht gehaltene Wort oder Versprechen kann die Freundschaft kosten, die Verweigerung des Grußes vor dem Offizier kann den Soldaten eine halben Tag Karzer kosten, der tödliche Hieb oder Schuß bedeutet ein Todesopfer und kostet den Mörder den Ausschluß aus der Gemeinschaft.

Wer glaubt, den schicksalhaften dunklen Druck des Lebensernstes für immer von sich abschütteln und das Leben gleichsam kostenlos kassieren zu können, ist ein fauler Lump und arglistiger Betrüger. Der Betrüger des Lebens tut so, als würden alle träumen oder ewig leben. Denn wenn alle träumen oder ewig leben, hat das einzelne Wort, die einzelne Geste, die einzelne Handlung nur das hauchartige Gewicht, für den Augenblick erschienen zu sein, um sogleich im Abgrund des Unwirklichen und Folgenlosen zu verschwinden. Würden wir ewig leben, wären wir unverletzlich und lebten daher wie die homerischen Götter in heiterer Gelassenheit und leichtsinniger Heiterkeit. Denn wo kein reales Blut fließen, kein Stich tödlich, keine Krankheit verzehrend sein kann, gibt es nichts, was uns ernstlich Sorgen bereitete, nichts Ernstes auf der Welt.

Wir bemerken, daß der Lebensernst sich am Gewicht von Entscheidungen und an der Bedeutung der aus ihnen entspringenden Handlungen zeigt, denn ihre Folgen sind stets mit mehr oder weniger großen Kosten belastet. Diese Kosten betreffen sowohl die Verletzlichkeit des Leibes wie die Verletzlichkeit der Seele. Denn da wir weder träumen noch unsterblich sind, bleiben wir versehrbar an Leib und Seele. Das Höchstmaß an Kosten aber ist der Tod, der leibliche Tod, aber auch das seelische Sterben in Form von seelischen Verletzungen und Störungen, Neurosen und Psychosen.

Der Lebensernst ist die Sinnhülle der menschlichen Person, die sie nur für gewisse Gelegenheiten und Stunden zugunsten unernster Spiele abwerfen kann und soll.

Was ist der Ernst des Lebens, der nicht nur das Spiel rechtfertigt, sondern auch dem heroischen Kampf Sinn verleiht, der sich seiner Bedrohung stellt?

Was meinen wir, wenn wir sagen: „Das meine ich ernst!“ Oder: „Damit ist es mir ernst!“? Wann sprechen wir davon, daß es um eine Sache oder einen Menschen ernst bestellt ist, daß der Ernstfall eingetreten sei oder vorliege?

Mit den rhetorischen Formeln bekräftigen wir die geäußerte Absicht oder Meinung. Der Ernstfall liegt vor, wenn Gefahr für Leib und Leben, Hab und Gut eintritt oder eine Verbindung zwischen Menschen durch schuldhaftes Verhalten zu zerbrechen droht, die für lebenswichtig oder wertvoll eingestuft wird.

Der Ernst ist mit der möglichen Gefahr für Leib und Leben, Hab und Gut gegeben, denn das Leben durch den Schutz des Eigentums von Wohnung und Haus, die Bewachung der Grenzen von Acker und Feld, Land und Nation sowie durch die Versorgung mit den notwendigen Gütern zu bewahren, ist der Versehrbarkeit des menschlichen Lebens in der menschlichen Gemeinschaft geschuldet und begründet existentiell den ernsten Sinn vom guten Leben oder die ernste Sorge, gut leben zu wollen und zu können.

Daß der Begriff Ernst einen biologischen Sinn hat, entnehmen wir Äußerungen, die die letzten Dinge oder die Todverfallenheit unserer Existenz betreffen, so wenn es ernst um das Schicksal des Kranken bestellt ist oder wenn sich der Bergsteiger, der Grubenführer oder der Melder zwischen den Fronten in ernsthafte Gefahr begeben haben. Der Tod, könnte man sagen, ist der Musaget des Lebensernstes.

Der soziale Sinn des Begriffes Lebensernst ergibt sich aus der Begrenztheit der uns zur Verfügung stehenden Ressourcen und Lebensmittel im weitesten Sinne. Der unaufhebbare Ernst der Lage besteht darin, daß nicht alle alles haben und nicht jeder alles sein kann. Wo einer beruflich oder sozial steht, muß er sich halten und bewähren, nimmt er seine soziale Position nicht ernst, muß er mit Sanktionen rechnen, die bis zum Ausschluß aus der sozialen Gemeinschaft führen können. Den sozialen Ernst zu leugnen ist ein lebensgefährliches Spiel. Das zeigen auch Ausnahmezustände im Falle von Katastrophen und kriegerischen Angriffen, in denen die Lebensgrundlagen der Gemeinschaft unter Einsatz des Lebens verteidigt werden müssen.

Der psychologische Sinn des Lebensernstes ergibt sich aus der Tatsache und dem Wissen um die Endlichkeit unserer Existenz, der eigenen und der uns Nahestehenden. Wenn wir ewig lebten, bedeutete es nicht viel, jetzt diese oder jene familiäre oder berufliche Verpflichtung nicht zu erfüllen, denn es gäbe unendlich viele Möglichkeiten, dies nachzuholen. Diese Ausrede einer ewigen Vertagung unserer Aufgaben oder diese existentielle Schlamperei und infantile Verantwortungslosigkeit ist uns versagt. Die Aufmerksamkeit, die wir uns und den uns Nahestehenden schulden, ist an die Tatsache der Endlichkeit der menschlichen Existenz geknüpft. So feiern wir unseren Geburtstag und den unserer Angehörigen, unser Kalender verzeichnet die wichtigen Ereignisse, die gleichsam Nahtstellen und Knotenpunkte unseres zeitlichen Daseins ausmachen, wie den Tag der Kommunion oder Konfirmation, den Tag der Verlobung und Heirat und all die Sterbetage unserer Anverwandten und Freunde. Der psychologische Sinn des Lebensernstes ist deshalb tief in den Leistungen unseres Gedächtnisses verankert: Wir spielen nicht willkürlich mit den hier niedergelegten Daten und Ereignissen und täten wir es, begäben wir uns in große Gefahr.

Im Mittelpunkt des familialen Sinns des Lebensernstes steht die elterliche Sorge um das Kind, in dem sich die Fragilität, Verletzlichkeit und Endlichkeit der menschlichen Existenz verkörpern, aber auch alles, was uns zu Hoffnungen berechtigt. Wer als Elternteil dem Erziehungsauftrag nicht gerecht wird, dem gebricht es am nötigen Ernst in der Rolle des Vaters oder der Mutter und ihm wird das Unglück des Kindes einmal zum eigenen Unglück gereichen.

Wenn ich verspreche, dir morgen beim Umzug zu helfen, dann aber nicht auf der Bildfläche erscheine, mag ich durch Angabe eines triftigen Grunds für mein Versagen die Sache gerade noch ausbügeln. Wenn ich aber keinen triftigen Grund liefere und meine Abwesenheit unkommentiert lasse, bezeuge ich damit, daß es mir um mein Versprechen nicht ernst gewesen ist, und riskiere damit Sanktionen, wie deine anhaltende Aversion, da du dich zurecht von mir betrogen fühlen mußt, oder die Aufkündigung der Freundschaft.

Wenn ich deinen Bericht über tragische oder belastende Vorkommnisse, den du nicht leichten Herzens, mir aber schilderst, weil du glaubst, in mir einen verständnisvollen und mitfühlenden Zuhörer gefunden zu haben, mit gleichmütigem Lächeln übergehe oder mit ironischen Bemerkungen abtue, kannst du sagen: „Das sage ich nicht zum Spaß!“ oder „Das meine ich ernst!“ und meine Reaktion als Grund dafür nehmen, mir fürderhin zu mißtrauen und dich mir nicht wieder in solcher Weise zu offenbaren.

Wir bemerken, daß wir in den Lebensvollzügen, in denen wir uns gegenseitig verpflichten, in den Lebensbereichen der Arbeit, der Freundschaft und der Liebe, einen wesentlichen Grund dafür finden, vom Ernst des Lebens zu sprechen.

Dem Unternehmer, der den Vertrag mit seinem Auftraggeber aufgrund von Schlamperei, Mißwirtschaft oder aus betrügerischen Absichten nicht einhält, ist es mit seiner beruflichen Aufgabe und Verantwortung nicht ernst und er wird scheitern und früher oder später Bankerott anmelden. Dem Freund, der den Freund wegen billigen Amüsements oder selbstsüchtiger Vorteilsnahme im Stich läßt, der Liebhaber, der die Geliebte wegen eines kurzweiligen sexuellen Vergnügens betrügt oder in Krankheit und Not im Stich läßt, hat die Treuepflicht gebrochen und sich die Zuneigung der Betrogenen verscherzt.

Was wir und in welchem Maße wir etwas ernst nehmen, zeigt sich in den Reaktionen und Sanktionen derjenigen, die ernst nehmen, was diejenigen verscherzen, die ein Versprechen nicht einhalten, eine Verpflichtung verletzen und ein Treuebündnis mutwillig und schuldhaft aufkündigen.

Leider werden wir immer wieder durch triebhafte Impulse oder sündhafte Neigungen dazu verleitet, es am schuldigen Ernst uns und den uns Nahestehenden gegenüber fehlen zu lassen. Wir können Situationen nicht von vornherein und unbedingt vermeiden, in denen wir uns in Schuld verstricken. Der Unternehmer hat ein Kind verloren und begonnen seinen Schmerz im Alkohol zu ertränken, sodaß er bei der Überwachung der betrieblichen Abläufe unaufmerksam und schlampig wurde, bis ihm sein Auftraggeber wegen Nichterfüllung von bestellten Leistungen den Lieferantenvertrag kündigte und er Bankerott anmelden mußte. In dem Moment, als die Freundin ihrem Freund vertrauensvoll die tragischen und belastenden Vorkommnisse aus ihrem Leben offenbart, ist der Freund von den quälenden Gedanken an sein verheimlichtes berufliches Versagen dermaßen abgelenkt, daß er das Anliegen seiner Freundin in seinem wahren Ernst nicht wahrzunehmen versteht.

In solchen und ähnlichen Fällen sprechen wir bisweilen davon, daß es angeraten sei, Gnade vor Recht ergehen zu lassen. Der Auftraggeber könnte von den wahren Gründen des Versagens des Vertragspartners erfahren und Milde walten lassen und von einer harten Sanktion absehen. Die Freundin könnte, wenn sie von den wahren Hintergründen erfährt, dem Freund verzeihen.

Wir bemerken, daß wir im Bereich des Lebensernstes nicht nur die Begriffe der Verpflichtung und Verantwortung und die entsprechenden Gegenbegriffe des Versagens und der Schuld anwenden müssen, sondern auch die Möglichkeit des Verständnisses, der Verzeihung und der Vergebung einzuräumen haben.

Doch wenn wir vor dem Ernst des Lebens oder vor der unabwendbaren Verstrickung in Versagen und Schuld in den Unernst des Vergnügens und betäubender Zerstreuungen fliehen, geraten wir in die Gefahr, innerlich zu veröden und zu verzweifeln.

Gewisse törichte Utopisten glaubten, den Lebensernst toto grosso als Fluch und repressive Zumutung an den Menschen verwerfen zu müssen, und lockten hinter dem rosigen Nebel einer ästhetischen Kultur des Spiels mit der Möglichkeit einer totalen Befreiung von aller Pflicht und ihrer Zwillingstochter, der Schuld. Das Leben als ununterbrochener dionysischer Rausch oder als ewiger Tanz mit den Musen oder schlicht und vulgär als drogeninduzierte Dauerparty widerspricht aber nicht nur der conditio humana, sondern beraubt den Menschen seiner Würde, die sich in der Annahme seiner Verpflichtungen und seines Versagens und seiner Schuld bewährt.

Wir denken an den Fall des Misanthropen, wie ihn Molière in der Figur des Alceste auf die Bühne gebracht hat, der dem eleganten Spiel der Konversation und den erotischen Koketterien in den Salons des Adels den unbedingten Ernst der Wahrhaftigkeit entgegensetzt. Dieser Anspruch wird komisch, wenn er das heitere Spiel des Adels mit Worten und Gesten nicht anders denn als Heuchelei ansehen kann und zu entlarven unternimmt, als eine Fassade, hinter der sich im Sinne des Moralisten La Rochefoucauld angeblich nur niedrige Motive der Geltungssucht, Eitelkeit oder Ambition verbergen. Die komische Übertreibung des Lebensernstes führt in ein ähnliches Dilemma wie seine utopische Hintertreibung. Weil er die Gefühle der von ihm geliebten Célimène, die ihm ernstlich zugeneigt ist, nicht ernst nehmen kann und dem Spiel der Koketterie zuschlägt, versagt sich Alceste sein Lebensglück. Mit dem scheinbar tragisch-verzweifelten, in Wahrheit aber komisch-selbstverliebten Ansinnen, sich eskapistisch für immer aus der Gesellschaft in ein ländlich unschuldiges Idyll zurückziehen zu wollen, antizipiert Molière die Utopie der radikalen Wahrhaftigkeit und des schonungslosen Ernstes, wie sie Rousseau entwerfen wird. Wenn man mit solcher Ernsthaftigkeit ernst macht, kann dies nicht nur zur Flucht in das Refugium der Wahrhaftigen, sondern auch auf den Platz mit der Guillotine solch unheimlich ernster Gestalten wie Robespierre, Saint-Just und Marat führen.

Wir kommen zu dem Fall, daß einer aus der schuldhaften Verstrickung in den Netzen des Lebensernstes keinen Ausweg mehr findet, schon gar nicht in der Betäubung mittels sinnloser Vergnügungen, da ihm der Partner oder der Freund, der ihm die Last abnehmen und durch Milde, Verzeihung und Vergebung das Los erleichtern könnte, abhanden gekommen, verstorben oder selbst in eine hemmende Aversion und unversöhnliche Haltung geraten ist.

Hier wüßte vielleicht der Theologe das rechte Wort von der christlichen Hoffnung wider alle Hoffnung zu sagen, die nicht mit dem scheinbaren Trost einer jenseitigen Kompensation aufwartet (einer religiös verbrämten Flucht aus dem Lebensernst in ein wenn auch noch so sublimes Vergnügen), sondern von der göttlichen Vergebung der Schuld aufgrund einer alles wagenden, alles wendenden Reue.

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