Beschreibungen
Wir sollten Wörter wie Gegenstand, Ding, Entität als grammatische Ausdrücke verwenden, die auf etwas im Satz Gemeintes oder Beschriebenes verweisen und nicht auf etwas, das unabhängig von jeder Satzbedeutung und Beschreibung existiert. Heißt das, unser Wissen von dem, was es gibt, ist eine Funktion unseres Redens über das, was es gibt? Ja, in dem Sinne, daß wir ohne es zu beschreiben, keine Kenntnis vom Beschriebenen haben, und in dem Sinne, daß wir das, was es gibt, nicht als unbeschriebenes Blatt vor uns halten können: Denn das Blatt wäre weiß.
Wenn wir die Situation beschreiben, in der Manfred über die Straße geht und plötzlich hört, daß ihm sein Freund Walter zuruft, und wir wissen, daß Walter gerufen hat, handelt es sich um zwei Entitäten, die für uns ontologische Relevanz haben, Manfred und Walter. Wenn wir aber nicht wissen, ob Walter Manfred zugerufen hat, handelt es sich für uns entweder um eine Entität, nämlich Manfred, wenn er einer akustischen Halluzination erlegen ist, oder um zwei Entitäten, wie in der Ausgangssituation.
Die Anzahl von Gegenständen, die wir in einer Situation zählen, ist demnach eine Funktion von:
1. der Art von Beschreibung, die wir wählen
2. des Wissens über die Situation, über das wir aktuell verfügen
Wenn wir eine Skizze mit zwei Strichmännchen oder ein Foto der Situation machen, müssen wir, um die Anzahl der abgebildeten Entitäten angeben zu können, die Strichmännchen und die fotografierten Wesen als Repräsentanten des uns wohlbekannten Typus der Person verstehen, was vielleicht für einen Angehörigen einer sogenannten schriftlosen Kultur, die keine Formen der bildlichen Repräsentation kennen, nicht möglich wäre.
Indes, wenn wir nicht nur die Anzahl der relevanten Entitäten, sondern auch das Ereignis, um das es in der Situation geht, in der Walter seinem Freund Manfred „Hallo!“ zuruft, korrekt als Sprechakt der Aufforderung identifizieren wollen, kommen wir mit graphischen Beschreibungen nicht weit. Ein Pfeil, der von einem Strichmännchen zum anderen zeigt, kann alles Mögliche bedeuten, und ein Foto, auf dem eine Person am Fenster einer Person auf der Straße zuwinkt, könnte auch die Situation einfangen, in der sich Walter von Manfred verabschiedet.
Eine genaue Beschreibung, die solche Zweideutigkeiten und Unklarheiten der graphischen oder fotografischen Aufzeichnung vermeidet, gewinnen wir augenscheinlich nur in der verbalen oder schriftlichen Beschreibung. Das mag in diesem Falle auch daran liegen, daß wir nur mittels der Sprache Sprechakte wie die Aufforderung möglichst genau und unmißverständlich wiedergeben können, auch wenn uns Gesten manchmal weiterhelfen, aber wie beim Winken auch in die Irre führen können.
Insbesondere ermangeln Bilder der Eigenschaft, Existenzaussagen treffen und räumlich und zeitlich individuierte Ereignisse bezeichnen zu können. Einer annähernd realistischen Zeichnung von zwei Menschen, von denen der erste dem zweiten winkt, der sich augenscheinlich von ihm entfernt, können wir weder entnehmen, ob die Abgebildeten wirklich existierende Personen repräsentieren, noch, daß sie sich an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit aufhalten. Wir gewahren das Typische der Situation des Abschieds, aber nicht das Spezifische der Situation, daß sich an einem bestimmten Tag eines bestimmten Jahres Walter von Manfred verabschiedet. Im Unterschied zu visuellen Wiedergaben können wir mit verbalen und schriftlichen Beschreibungen nicht nur das Typische, sondern auch das Spezifische einer Situation einfangen.
In unserer Situation handelt es sich nicht um ein Stilleben, sondern um einen Vorgang, den wir so beschreiben können: Walter steht am Fenster eines Hauses und ruft „Hallo!“, wobei er winkt, während auf der Straße sein Freund Manfred entlanggeht. Manfred hört den Zuruf und hält inne. Er wendet sich dem Rufenden zu und beginnt ein kurzes Geplänkel mit seinem Freund. Es ist nicht überraschend, daß wir einer Aufzeichnung dieses Vorgangs mit der digitalen Kamera eines Smartphones den gleichen Wert an Beschreibungsdichte und Abbildungstreue zuerkennen werden wie der verbalen oder schriftlichen Beschreibung.
Es sieht so aus, als hätten wir mit diesen Beschreibungsformen, der möglichst getreuen verbalen oder schriftlichen Aufzeichnung und der dokumentarischen Wiedergabe des Tonfilms, die Möglichkeiten der genauen Aufzeichnung eines Vorgangs erschöpft. Doch dem ist nicht so: Wenn wir in der Beschreibung lesen oder im Tonfilm sehen, daß Manfred innehält und sich zu seinem Freund Walter umdreht, vermuten wir oder gehen von der hohen Wahrscheinlichkeit aus, daß er dies als Reaktion auf den Zuruf seines Freundes tut, weil er ihn als Aufforderung stehenzubleiben verstanden hat. Aber wir können dies nicht mit letzter Sicherheit wissen. Manfred könnte auch, ohne den Zuruf Walters gehört zu haben (denn der Wind hat ihn verschluckt und er drang nicht oder nur verzerrt an sein Ohr), im selben Moment, als der Ruf an ihn erging, sich spontan umgedreht haben, nachdem er sich soeben von Walter in dessen Wohnung verabschiedet hat, sich jetzt aber noch einmal zu einem letzten Abschiedsgruß umwendet, da er den Freund am Fenster vermutet, denn dort steht er immer, wenn Manfred Walters Haus nach einem seiner wöchentlichen Besuche verläßt.
Wir bemerken, daß wir den entscheidenden Vorgang des Vernehmens und Verstehens des Zurufs nicht beobachten und nicht als zusätzliches Beobachtungsdatum unserer Beschreibung hinzufügen und sie damit allererst vervollständigen können. Akte des Verstehens sind nun einmal innerseelische Vorgänge und entziehen sich direkter Beobachtung, wenn sie sich auch oft aus Mimik und Gestik oder angemessenen Handlungen erschließen oder erraten lassen.
Wir finden allerdings in der Beschreibungstechnik des Romans einen Zugang zum Innern des Protagonisten, wenn dessen Gedanken vom auktorialen Erzähler beschrieben oder als innere Monologe in die Erzählung einfließen. Es ist dies das Faszinosum der Literatur, vor allem der Erzählung und der Lyrik, uns das innere Leben der Figuren oder des lyrischen Ich in einer Fülle und Transparenz aufzuschließen, welches uns im alltäglichen Leben aus den Mitteilungen unserer Freunde und Bekannten nur bruchstückhaft und zweideutig entgegentritt. Dank dieser literarischen Technik genießen wir Zugang zum intimen Leben der Figuren und erhalten zum Verständnis ihrer Handlungen und Gespräche das erhellende Kolorit. Indes, hier handelt es sich um fiktive Personen, deren Darstellung uns fesseln mag, weil wir ihnen ähnlich oder unähnlich sind, während Beschreibungen realer Personen die Grenze zu ihrer wesentlichen Eigenschaft, ihrer selbst bewußt zu sein, meist nicht überschreiten können.
Demnach bleiben unsere Beschreibungen äußerer Situationen und Vorgänge notwendig bruchstückhaft und unvollständig, wenn diese sich nur unter Einbeziehung von intentionalen Akten des Glaubens und Meinens, des Verstehens und Mißverstehens erschließen.
Bloße Beschreibungen vermitteln uns kein hinreichendes Wissen über das Beschriebene. Wir lesen die Beschreibung oder sehen das Foto eines Zimmers, in dem ein großes Chaos herrscht, alle Schubladen offen stehen oder herausgerissen sind, alle Dinge kreuz und quer herumliegen. Ist der Bewohner ein völlig verwahrloster Mensch, hat er einen Tobsuchtsanfall bekommen und wollte alles kurz und klein schlagen oder ist dieses heillose Durcheinander das Ergebnis des Besuchs von Einbrechern? Wüßten wir, was der Fall ist, läsen wir dann die Beschreibung anders, sähen wir dann das Foto mit anderen Augen?
Wir lesen die Beschreibung oder sehen das Foto eines kleinen Jungen, der augenscheinlich tot am Strand liegt, und wir erfahren in der Zeitung oder den TV-Nachrichten zusätzlich, daß es sich dabei um das Kind einer Flüchtlingsfamilie aus dem Orient handelt, die auf einem Boot zur Insel Lesbos unterwegs war, und das Boot ist gekentert, sodaß alle Insassen ums Leben kamen. Die Einbettung der Beschreibung und des Fotos in den kommentierenden Kontext sollen dem Leser und Betrachter suggerieren, daß er schuldig oder zumindest mitschuldig am Tod des Jungen ist. Doch in Wahrheit haben Eltern die Aufsichtspflicht und primäre Verantwortung für ihre Kinder, und wenn Eltern ihre Kinder dem Risiko eines Unglücks aussetzen, tragen sie die Schuld, wenn das Unglück tatsächlich eintritt.
Es ist erstaunlich, daß scheinbar neutrale oder unschuldige Beschreibungen dazu dienen können, Meinungen zu insinuieren und zu suggerieren, die nicht von den Beschreibungen herrühren, sondern von den propagandistischen Kontexten, in die sie eingebettet sind.
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