Volk und Staatsvolk
Eine Randnotiz zur gegenwärtigen Lage
Gruppen entstehen als gleichsam natürliche Solidaritätsgemeinschaften, und man könnte so weit gehen zu sagen, daß sich Menschen ursprünglich zu Gruppen zusammenscharten, um einander vor Gefahren und Feinden zu schützen und einander Unterstützung und Hilfe zukommen zu lassen.
Die Zuwendung gilt primär den Mitgliedern der eigenen Gruppe, Mitglieder fremder Gruppen werden nicht zu Unrecht mißtrauisch und argwöhnisch beäugt, sie könnten Übles im Schilde führen – ein gesundes Mißtrauen, denn seine Berechtigung wird durch die Erfahrung mehr als genug bestätigt. Die Konzentration der Zuwendung und Unterstützung auf den Nächsten im recht verstandenen Sinne ist moralisch nicht nur legitim, sondern geboten. Denn universale Moralansprüche sind meist der Ursprung unrechten Tuns: Wer glaubt, alle Menschen lieben zu müssen, schreitet oft über die vor ihm liegende Leiche hinweg. Der Partikularismus der Moral ist im Gegenteil das universale Medium der Solidarität: Wenn jeder vor seiner Türe kehrt, sind alle Straßen sauber. Wenn alle ihren Nächsten helfen, ist allen geholfen.
Die primordiale Solidaritätsgemeinschaft ist die Familie vaterrechtlichen Typus, denn es ist Pflicht des starken Vaters, die schwächeren Familienmitglieder gegen Angriffe und Gefahren zu schützen. Dies gilt auch für die Position des Sippen- und Clanoberhauptes, bei dem die physische Stärke im besten Falle durch Erfahrung, Voraussicht und Weitsicht abgelöst wird.
Wir bemerken, daß die emotionalen Werte, die eine Gruppe gleich welcher Art aufruft, um ihre Mitglieder in Zeiten der Krise oder der Gefahr zum Zusammenhalt und zur gegenseitigen Solidarität aufzurufen, ihren Ursprung im Kern der Familie haben, denn es sind familiäre Werte wie Zuneigung und Einfühlung, gegenseitige Achtung oder Fürsorge.
Ein Volk ist ein Zusammenschluß von Gruppen, der sich ursprünglich aus Familien und Sippenverbänden rekrutiert, und durch zwei wesentliche Eigenschaften geprägt ist: die Gemeinschaft der Sprache und die Schicksalsgemeinschaft.
So entsteht das jüdische Volk als Zusammenschluß der zwölf Stämme Israels, das die hebräische Sprache und das Schicksal des Exodus aus Ägypten, die Landnahme Kanaans und die Abwehr gemeinsamer Feinde wie der Kanaaniter, Jesubiter, Philister und Seevölker oder der Unterwerfung durch die Assyrer, Babylonier, Griechen und Römern einte. Wir finden in der Geschichte des jüdischen Volkes die beiden Besonderheiten, daß das Bündnis der Stämme zugleich einen religiösen Bund dargestellt hat und das Volk sich unter der Königsherrschaft von David, Salomon und ihren Nachfolgern als Staatsvolk konstituierte, auch wenn die eher schwachen staatlichen Einheiten bald in die beiden Teile von Israel und Juda zerfielen und die vom Glauben abfallenden Könige eine Rivalität in den Propheten als religiösen Führern auf sich zogen.
Ein Vergleich mit der römischen Geschichte macht die Besonderheiten klar: Das römische Volk entstand aus der kriegerischen Unterwerfung seiner Anrainer durch den siegreichen Stamm der Latiner, der sich erst nach der Vertreibung der etruskischen Herrschaft als Staatsvolk konstituiert hat, ohne daß seine Identität durch eine Priesterherrschaft befestigt wurde. Die wesentlichen Eigenschaften seiner Charakterisierung als eines Volks finden wir in der gemeinsamen lateinischen Sprache und dem Schicksal der Ausdehnung des konsularischen Imperiums bis zur Eroberung Spaniens, Nordafrikas, Griechenlands, Galliens und Germaniens auf der einen Seite und der mehr oder weniger erfolgreichen Abwehr von Feinden wie der Phönizier, Iberer, Skythen oder Parther auf der anderen Seite.
Daß genetische Verwandtschaft die Gruppensolidarität fördert oder allererst begründet, macht der Blick auf die Verwandtschaftsbeziehungen der Familie und der Sippe augenscheinlich. Dieses natürliche Substrat wächst in den Zusammenschluß der Verwandtschaftsgruppen zu einem Volk hinein. Es kann darüber hinaus durch schicksalhaft wirkende historische Entscheidungen bei den Verfahren der Inklusion und Exklusion der Volkszugehörigkeit untermauert werden. So verdichtete das mosaische und talmudische Gesetzeswerk die naturwüchsige Verwandtschaft allererst zu einer Einheit, die es nicht unvernünftig erscheinen läßt, von einer jüdischen Rasse zu sprechen, wie DNS-Analysen insbesondere von Mitgliedern des Priesterstammes Levi in jüngerer Zeit haben bestätigen können. Diese ist also entgegen allen sogenannten rassistischen Vorurteilen kein Ergebnis eines natürlichen, sondern eines künstlichen Ausleseprozesses. Auch dies ist eine Besonderheit der Geschichte des jüdischen Volkes, daß seine Konstitution als Staatsvolk eine rassische Komponente enthält.
Wir bemerken, daß ein Staatsvolk über die Charakteristik des Volkes durch die gemeinsame Sprache und das gemeinsame historische Schicksal hinaus dadurch bestimmt ist, daß es ein eigenes Territorium in Besitz nimmt und verteidigt. Ein Volk mag wie die Juden im Exodus wandern, ein Staatsvolk wie die Juden nach der Niederlassung im Heiligen Land und der Errichtung der Königsherrschaft nicht. Das Staatsvolk ist geradezu identifizierbar an dem und durch das Hoheitsgebiet, das es beherrscht und dessen Grenzen es als unverletzliche Grenzen seiner Identität behütet und schützt. Das Hoheitsgebiet wird durch Symbole und Zeichen repräsentiert, sie zu entehren oder zu schänden gilt als Hochverrat.
Nicht zufällig heißt das Hoheitsgebiet eines Staatsvolkes Vaterland (patria), denn auf seiner Erde befinden sich die Gräber der Ahnen, denen es die gebührende Pietät (pietas) zollt. Aus der Ahnenverehrung entsteht aus Sagen und Legenden wie den Ursprungssagen bedeutender Stiftungen und Gründungen durch heroische Altvordere das Gedächtnis des Volkes, das nicht mit dem historischen Wissen zu verwechseln ist, wie es auf späten Stufen die Historiographie kennt. Das Gedächtnis des Volkes wird durch Institutionen des öffentlichen Gedenkens durch das Staatsvolk ritualisiert. So erteilte der Kaiser Augustus dem Dichter Horaz für die in den Tempeln des Kapitols auszurichtende Säkularfeier des Jahres 17. vor Christus den Auftrag, einen Chorgesang für je 27 Knaben und Mädchen zu komponieren. Das Jahrhundertfest ging aus der Tradition einer römischen Adelsfamilie hervor und wurde Mitte des 3. Jahrhunderts v. Chr. zur Staatsache erhoben und nobilitiert. Im Chorgesang des Horaz werden die großen Götter als Schutzmächte des römischen Staatsvolkes angerufen, das Gedeihen und die Macht des Staats zu befördern.
Wir bemerken, daß die dem Volk zugebilligten und angemessenen familiären moralischen Werte wie Fürsorge und gegenseitige Hilfeleistung eingeschränkt und von anderen Ansprüchen überlagert werden, wenn es sich um das Agieren des Staatsvolks in Gestalt der es repräsentierenden Führer handelt: So müssen im Ausnahmezustand und im Kriegsfalle natürliche Rechte wie das Recht auf freie Selbstverfügung oder Eigentum in Folge von Requirierungen, Zwangszuweisungen oder die Entprivilegierung wirtschaftlicher Eliten eingeschränkt werden. Wir sprechen billigerweise von den moralischen Werten des Staates im Gegensatz zu den Gefühlswerten der Familie.
Staatsvölker vermögen einen eigentümlichen Schönheitssinn zu entfalten, der sich bei den Römern im klassischen Stil ihrer Tempel, Bildnisse und Schriftzeugnisse bezeugt, in dem sich Prägnanz der Gestalt mit Raffinement und Liebreiz zum Ausdruck eines sich selbst feiernden Lebens paart. Dabei sind Klarheit und Reinheit neben Wucht oder Anmut dominierende ästhetische Werte, wie sie in der griechisch-römischen Säulenordnung exemplarisch zur Geltung kommen. Unsere Klassik bis hin zur preußischen Kunst eines Langhans, Stüler oder Schinkel gewann nicht zufällig die Größe ihrer genialen Entwürfe und Gestaltungen im lichten Schatten der Antike. Halten wir die Dumpfheit und Grobheit der Nazi-„Kunst“ eines Arnold Breker dagegen, die ein elendes Gemisch aus blutleerem Expressionismus und kaltem Klassizismus darstellt!
Die Tragik der Geschichte der Deutschen rührt von der Tatsache her, daß sie anders als die Ägypter, Perser oder Römer der Antike, anders auch als die Franzosen oder Briten kein einheitliches Staatsvolk oder ein Staatsvolk, das die integrierten Völker unterwirft und beherrscht, hervorgebracht haben. Schon die antiken Historiker weisen darauf hin, daß sich die germanischen Stämme auch unter der Gefahr feindlicher Angriffe nicht oder nur sporadisch zu einer Gemeinschaft zusammenschließen mochten. Die Geschichte des Arminius spricht hier Bände, der nach der siegreichen Schlacht gegen die Römer im Teutoburger Wald statt zum Herrscher oder König ernannt zu werden, der die Stämme hätte einigen können, von Verwandten ermordet worden ist. In der Geschichte des Ersten Reiches sehen wir im Wechsel der Regenten den Wechsel der Vorherrschaft eines deutschen Volksstammes wie der Franken (Merowinger, Karolinger), der Sachsen (Luidolfinger, Ottonen) oder alemannischen Schwaben (Staufer) über die jeweiligen anderen Stämme. Noch in der Abwehr der Franzosen von Ludwig XIV. über die Revolutionstruppen bis zu Napoleon gewahren wir, wie Preußen allmählich die Oberhand über den Rest Deutschlands einschließlich österreichischer Erblande wie Schlesien gewinnt, nicht zuletzt eine Folge der konfessionellen Spaltung und der Religionskriege bis zum Dreißigjährigen Krieg, der die Polarität zwischen Berlin und Wien aus dem Machtvakuum aufbrechen ließ. Das Handeln Hitlers und Konsorten, die Konstitution des Staatsvolkes mittels gewaltsamer Integration der Deutschen in Österreich, Tschechien, Polen und Ostpreußen auch mittels kriegerischer Invasion nachholen zu wollen, ist das Ergebnis und die katastrophale Aufgipfelung dieser Tragik.
Die unglückliche Folge der deutschen Katastrophe des Zweiten Weltkriegs zeigt sich darin, daß es als Sühne deutscher Schuld ausgegeben wird, die Nation nicht vom Staatsvolk her verstehen zu sollen und zu wollen. Eine Kluft zwischen Nation und Volk zu schaffen und zu vertiefen ist geradezu das Kennzeichen und die Devise der offiziellen Politik und ihrer medialen Propaganda geworden. Da ist es nur konsequent, die letzten Wurzeln deutschen Volkstums durch das Oktroi einer Zuwanderung von Fremdvölkern ausreißen zu wollen.
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