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Gruppen – Mythos und Wirklichkeit

18.10.2015

„Gruppe“ ist entweder ein theoretischer Begriff, der durch empirische Studien validiert werden kann, oder eine Selbstzuschreibung derjenigen, die durch Eigendefinition ihre Mitgliedschaft regulieren. Wir können auch den theoretischen Begriff einer Gruppe mit ihrer empirischen Selbstzuschreibung vergleichen und die Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung dieser Definitionen beurteilen.

So ist die Oberschicht als Gruppe von Individuen mit bestimmten Einkommensbezügen und Vermögen durch das quantitative Verhältnis dieser Einkommen und Vermögen zum Gesamteinkommen der untersuchten Volkswirtschaft zu definieren. Durch geeignete Panels können wir den theoretischen Begriff der Oberschicht empirisch validieren und quantifizieren. Wenn wir allerdings eine Befragung von Haushalten mit ungeeigneten Panels durchführen, die zu wenig gestreut sind und nur Angehörige der Unter- und Mittelschicht umfassen, können wir aus dem Fehlen bestimmter Vermögensangaben nicht schließen, daß es keine Oberschicht gibt.

Eine Gruppe kann sich so definieren, daß sie ihre Mitgliedschaft auf diejenigen eingrenzt, die seit mindestens drei Generationen von Müttern, die ihr angehören oder angehört haben, geboren worden sind. Wir können diese Gruppe mit empirischen Daten validieren und ihre Selbstbeschreibung als Gruppe orthodoxer Juden übernehmen. Falls die orthodoxe Gemeinschaft allerdings Konvertiten zuläßt, stimmen der theoretische Begriff und der empirische Befund nicht überein.

Wir beobachten, wie eine Gruppe von Tänzern einen traditionellen Volkstanz oder ein klassisches Ballett aufführt, und gewahren die mehr oder weniger fein abgestimmte und abgestufte Gleichförmigkeit und Harmonie der Bewegungen der einzelnen Tänzer. Die Tänzer bewegen sich sowohl untereinander rhythmisch abgestimmt als auch harmonisch zur eingespielten Musik, die ihnen den Rhythmus vorgibt. Die Gruppe hat den Tanz mit Hilfe eines Tanz- oder Ballettmeisters solange einstudiert, bis jeder Schritt und jede Pose saßen und in Fleisch und Blut übergegangen waren. Bei der Aufführung ist der Leiter und Lehrer nicht mehr aktiv, sondern beobachtet das Geschehen kritisch vom Rand aus.

Wir können sagen, daß die Folkloregruppe oder Ballettgruppe die Absicht hegte, den einstudierten Volkstanz oder das Ballett aufzuführen, und daß es den Tänzern mehr oder weniger gelungen ist, ihre jeweiligen Absichten zu verwirklichen, nämlich die Bewegungen der Füße und Beine, der Arme und Hände aufeinander und auf den Rhythmus der Musik zu synchronisieren und zu koordinieren.

Wir können allerdings nicht sagen, daß die Folkloregruppe oder Ballettgruppe als ganze oder Kollektiveinheit beschlossen hat, den einstudierten Tanz aufzuführen, und auch nicht, daß sie den Tanz als Kollektiveinheit aufgeführt hat. Es mag sein, daß der Leiter der jeweiligen Gruppe das Vorhaben der Aufführung an die Presse gegeben hat. Aber dann erfolgte dies als Ergebnis seines Entschlusses, den Tanz mit seiner Kompagnie aufzuführen, oder als Ergebnis der Abstimmung der Gruppenmitglieder, mit der Darbietung ihres Tanzes demnächst ein größeres Publikum zu beglücken. Ebensowenig und trotz des Anscheins haben die Tänzer als kollektive Gruppeneinheit agiert, sondern jeder einzelne Tänzer hat seinen Part geliefert, und dank der Koordination jeder seiner Bewegungen mit den Bewegungen der anderen Teilnehmer entstand ein harmonischer Gesamteindruck.

Wir stoßen hier auf den Mythos der Gruppe, der dem Mythos der Gesellschaft verwandt ist. Auch hier verleitet uns die Alltagssprache zu falschen theoretischen Annahmen, so wenn wir vom Gruppengeist oder der Kollektivseele hören und reden oder davon, der Anführer einer Gruppe agiere als ihr Sprachrohr.

Der moderne Mythos der Gesellschaft und der Mythos der Gruppe wurzeln in der Lehre Rousseaus von der volonté generale, einer Art von mystischem und ominösem Gesamtwillen der Gesellschaft, der in der auserwählten Gruppe der Intellektuellen seine Auguren der einzig wahren Deutung und seine Priester der einzig wahren Praxis, nämlich der revolutionären Auslöschung aller Traditionen und Konventionen und der Unterwerfung aller Gruppen unter den überzüchteten Geltungsanspruch der Intellektuellenkaste findet. Die Lehre von der Avantgarde der Intellektuellen bescheinigt ihnen einen intuitiven Zugang zur volonté generale. Dieser kollektivistische Mythos wurde von den Sansculotten, den Terroristen der französischen Revolution, mittels Terreur und Guillotine vollstreckt. Der Mythos von der Gruppe und der Avantgarde der Intellektuellen feierte fröhliche Urständ in den faschistischen und kommunistischen Strömungen, für die sich die volonté generale im erleuchteten Willen der revolutionären Partei und ihres speichelleckenden und moralisch arroganten Anhangs von Schriftstellern, Künstlern und Journalisten verkörperte.

Bedauerlicherweise fand die „Theorie“ der Frankfurter Schule von Adorno und Horkheimer, die den Begriff der Gesellschaft ins Ominöse und zu einem gefährlichen Sophisma des Kulturkampfs aufblähte und der elitären Gruppe der angeblich kritischen Intelligenz einer aus dem Ruder gelaufenen, desorientierten Nachkriegsgeneration eine Rechtfertigung für ihr arrogantes und zerstörerischen Auftreten und Wirken lieferte, im SDS und den wenig zimperlichen Agitatoren und Führern der Studentenbewegung eine unrühmliche Anhängerschaft, die sich als Avantgarde und moralisch unanfechtbare Hohepriester der volonté generale und einzig legitimes Sprachrohr aller angeblich Mühseligen und Beladenen aufspielte.

Wir erinnern uns an das Bild des von der RAF entführten, mißhandelten und schließlich zu Tode verurteilten Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer, der von den RAF-Terroristen einem Schauprozeß unterzogen wurde, bei dem seine Richter als Auguren und Priester der Vollstreckung der volonté generale auftraten. Die Terroristen handelten ganz nach den Lehren Lenins und Lukacsʾ, nach denen die eschatologisch auserwählte Gruppe der revolutionären Partei als Avantgarde den wahren Willen des Volkes oder des Proletariats verkörpert und durchzusetzen berufen ist.

In Wirklichkeit ist eine Gruppe natürlich kein mystischer Körper und kein Pseudo-Individuum, dem man wie dem einzelnen Individuum psychische Eigenschaften wie die Eigenschaft, etwas zu wollen und zu beabsichtigen, zuschreiben kann. Der mythische Schein der Kollektivseele entspringt der falsch gedeuteten Wahrnehmung der Tatsache, daß die Mitglieder einer Gruppe ihre Bewegungen und Aktivitäten, ihre Einstellungen und Gepflogenheiten synchronisieren und koordinieren, bis hin zu rituellen oder theatralischen Gruppeninszenierungen.

So beobachten wir es bei der Tanzkompagnie oder bei der Tätigkeit eines Konzertorchesters, wenn die Bewegungen der Geiger, der Bratschisten, der Oboisten oder Klarinettisten gemäß den Vorgaben der Partitur und den Anweisungen des Dirigenten synchronisiert und koordiniert werden. Auch hören wir selten, wenn es sich nicht um ein Solospiel handelt, die einzelne Geige oder Oboe oder Trompete aus der Gruppe der synchron erklingenden Instrumente heraus, sondern sind von der Harmonie des Gesamtklanges fasziniert, weil er uns suggeriert, das Orchesterspiel sei nicht die Summe der aufeinander aufs feinste abgestimmten Aktivitäten seiner Mitglieder bei der Interpretation einer Symphonie von Beethoven, sondern die geisterhafte Klangerscheinung der auferstandenen Seele des Komponisten.

Wir unterscheiden sporadisch auftretende Gruppen, die wie eine Tanzkompagnie oder ein Chor oder ein Orchester zwar auf längere Zeit bestehen können, aber ihre Präsenz und Wirksamkeit nur bei Gelegenheit bestimmter zeitlich befristeter Auftritte zur Geltung bringen, von institutionellen Gruppen, die wie eine Sprachgemeinschaft auf lange Zeit ohne merkliche Unterbrechung ihrer Wirksamkeit existieren.

Die Gruppe jener, die eine gemeinsame Sprache sprechen, wurde mit dem romantischen Mythos der Kollektivseele von dem Schein aufsitzenden Theoretikern begabt, als gehorchte die Entwicklung einer Sprache geheimen psychischen Aktivitäten, die es zu enträtseln gelte. Doch wenn es dir gelingt, ein neues Wort zu prägen, das von den Sprechern deiner Umgebung dankbar aufgenommen und weiterverwendet wird, das von deinem familiären und beruflichen Umfeld und deinem Freundeskreis hinaus in die weite Welt der Sprachgemeinschaft wandert, taucht es vielleicht in zehn Jahren im Duden als gebräuchliche Vokabel auf. Die Entwicklung zum modernen Italienisch ist nicht das Ergebnis der mystischen Eingebungen einer kollektiven Sprachseele, sondern beruht auf der geduldigen und mustergültigen Leistung der Dante, Petrarca und Boccaccio. Dasselbe gilt für Luther oder Goethe in Bezug auf die Entwicklung des neuzeitlichen Deutsch.

Eine Gruppe kann sich symbolisch in einem Gegenstand wie einem Emblem oder Wappen, einer Fahne oder einem Abzeichen widerspiegeln und verkörpern. Der Pfadfinder trägt sein Abzeichen, aber das Zeichen hat nicht die magische Kraft, seine Zugehörigkeit zum Pfadfinderbund zu bewirken, denn er wirft es weg, wenn er, älter oder abgeklärt geworden, genug von der lärmenden Bande hat oder von ihr ausgeschlossen wurde. Auch der SS-Scharführer hat sein Runenabzeichen vergraben, als die Amerikaner anrückten, obwohl er dem Mythos der Gruppe und der Magie ihrer Zeichen verfallen war. So wird der Ethnologe den Gebrauch magischer Zeichen bei einer Gruppe australischer Ureinwohner wie der Totemzeichen funktionell erklären, nämlich durch die Funktion, die Zugehörigkeit der ethnischen Gruppe und ihre Verwandtschaftsbeziehungen zu symbolisieren.

Eine Gruppe zerfällt nicht, weil ihre Kollektivseele siecht oder entweicht, sondern weil mehr und mehr Mitglieder ihre bisherigen gruppenspezifischen Gewohnheiten ablegen oder ihre gemeinsamen Zeichen ignorieren. Als die ehemaligen Mitglieder der kommunistischen Gruppe, die das Trauma ihrer Entfremdung vom leiblichen Vater nicht anders als durch Unterwerfung unter das Charisma eines gewalttätigen Übervaters glaubten bewältigen zu können, ihre Mao-Joppen ablegten und ihre Mao-Bibeln, deren Sichtung durch Besucher ihnen peinlich geworden war, in der untersten Schublade versteckten, als sie schicke Klamotten anzogen und den Reiz der Lektüre von Thomas Mann oder gar Ernst Jünger entdeckten, war die Gruppe schon zerfallen.

Manchem scheint das charismatische Wirken ihrer Führer die Wahrheit von der Kollektivseele der Gruppe zu bestätigen. Aber das Charisma wirkt stets auf dem Hintergrund eines Traumas und einer extremen Notlage, die zu heilen oder zu rächen der politische oder spirituelle Führer angetreten ist. Wir neigen wohl dazu, in solchen Fällen von einem kollektiven Trauma zu sprechen, wie der Erfahrung der Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg, der anschließenden politischen Wirren, der negativen Auswirkungen des Versailler Vertrags und der Mangelerfahrungen der wirtschaftlichen Krise und der Massenarbeitslosigkeit. Aber dies sind begriffliche Kürzel, die das je einzelne Leiden der Angehörigen einer Generation oder einer Nation summieren. Den Erfolg Hitlers aus dem fatalen Wesen oder Unwesen einer deutschen Kollektivseele erklären zu wollen, zeugt von arger Begriffsstutzigkeit oder böswilliger und ressentimentgeladener moralischer Rechthaberei.

Wenn wir in der Rede von der Kollektivseele der Gruppe oder vom Begriff, Wesen oder System der Gesellschaft oder davon, einer Gruppe oder einer Gesellschaft in toto Willensimpulse, Absichten und Intentionen zuschreiben zu wollen, nichts weniger als eine erhellende Metaphorik, sondern ein starkes Rudiment magischen Denkens erkennen, wird uns die Position des ontologischen Nominalismus in Bezug auf den Begriff der Gruppe und der Gesellschaft vielleicht einen Verlust an Möglichkeiten, unsere Sehnsucht nach Verschmelzung oder unsere Systemwut zu befriedigen, einbringen, aber dafür durch einen Gewinn an geistiger Klarheit entschädigen.

Die authentische Aufhebung der Spannung zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft finden wir theologisch gesprochen in der Kirche dessen, der sagte: „Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen.“ (Math. 18, 20) Denn nur in der Gestalt des göttlichen Dritten oder des messianischen Mittlers kann die Subordination der Lebensvollzüge der Einzelnen zu einer Gruppe ohne Not und Zwang gelingen, da sie nicht auf den Sand der Sünde gebaut ist, wie alle weltlichen Gruppenbünde, sondern vom Heiligen Geist in die wahrhaft freie Assoziation der Freien, die eucharistische Liebesgemeinschaft, gehoben und aus nichts als Gnade gehalten wird.

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