Was geschieht wirklich?
Wir nennen historische Ereignisse Taten (res gestae), die von einzelnen Menschen mit mehr oder weniger bewußten Absichten ausgeführt worden sind, welche wiederum unabsehbar viele und bedeutsame Folgen und Folgen von Folgen nach sich ziehen. Diese Folgen können andere Taten und Leiden von Menschen oder natürliche oder technisch induzierte natürliche Ereignisse sein, wie das Ereignis, daß das Licht angeht, wenn du den Schalter betätigst.
Wir können uns bei dem Begriff dessen, was ein historisches Ereignis ausmacht oder dessen, was wirklich geschieht, auf den Begriff der Geschichte berufen, wie ihn die antiken Historiker Herodot, Thukydides und Tacitus in ihren Schriften formuliert oder impliziert haben.
Wir unterscheiden Taten oder Handlungen (res gestae, acta) von natürlichen Ereignissen (eventus, res naturales), denen wir die genannten Eigenschaften nicht zuschreiben.
Taten schreiben wir Absichten oder Intentionen zu: Wenn du mich zur Tür hineinwinkst, verstehe ich deine Geste als Einladung; hätte dich ein krampfhaftes Zucken überkommen, hätte ich dich mißverstanden.
Wenn ich sagen würde: „Die Amseln vor meinem Fenster hatten sich Anfang März vorgenommen, den Nestbau spätestens am 15. April zu beenden“, würdest du meinen, an diesem Satz sei etwas faul. Wenn du mir mitteilst, du wollest deine Hausarbeit am 15. Oktober beenden, nehme ich daran keinen Anstoß. Wir ersehen daraus, daß die Zuschreibung von Absichten und Absichten, die sich auf Daten beziehen, kein Teil dessen ist, was wir Natur nennen.
Hier weisen wir nochmals darauf hin, daß Daten und Fakten, wie das Datum des 19. Oktober 202 vor Christus, als die Römer Hannibal besiegten, und das Faktum, daß die Römer an diesem Datum die Punier in die Knie zwangen, das eigentliche Gerüst und Gewebe der historischen Ereignisse bilden. Um Daten und Fakten zu verstehen, müssen wir keine schwierigen Interpretationen vornehmen; die korrekte Ausübung unserer sprachlichen Techniken oder das Funktionieren unserer Sprachbeherrschung genügen zum Verständnis.
Wir bemerken, daß der Begriff der Naturgeschichte kein sinnvoller Begriff ist. Wie könnte er? Die Natur handelt nicht, es sind einzelne Menschen, die ihre Absichten verwirklichen oder daran scheitern, sie zu verwirklichen, die selbst etwas tun oder anderen befehlen oder andere beauftragen, ihre Absichten Gestalt werden zu lassen.
Natürliche Ereignisse unterscheiden sich von historischen Ereignissen dadurch, daß sie absichtslos passieren und wir ihnen nur metaphorisch oder allegorisch Absichten unterlegen, so wenn wir sagen, Petrus meine es heute gut mit uns, wenn die Sonne lacht. Aber die Sonne scheint einfach so, wie wir wissen, im übrigen über Gerechte und Ungerechte, Gute und Böse. Dasselbe gilt vom Zerfall eines Atoms, einem Vulkanausbruch, einer Mutation in unseren Genen, der Entstehung einer neuen Tierart und der Psychose, die plötzlich Herrn X befallen hat. Ja, auch für den Apfel, der Newton vor die Füße fiel, und der Maus, die dir über den Weg gerannt ist.
Wenn die Wissenschaftler im Labor eine chemische Reaktion bewirken oder im Large Hadron Collider im Genfer CERN Protonen aufeinanderprallen lassen, tun sie das in der Absicht, etwas über die subatomaren Prozesse und Strukturen der Materie herauszufinden. Sie verwirklichen ihre wissenschaftliche Absicht mittels einer Technologie, die natürliche Ereignisse wie den Zerfall von Protonen bewirkt.
Was für den Begriff der Naturgeschichte gilt, gilt grosso modo für Begriffe wie Kulturgeschichte oder Kunstgeschichte oder Religionsgeschichte, diesem ganzen Bombast einer hegelianisierenden Geschichtsmetaphysik, bei der das wirkliche Geschehen von den dicken Waden adipöser Begriffe verdeckt wird. Handelt denn ein ominöses Wesen namens Kultur oder Kunst oder Religion? Augustus stiftete die Palatinische Bibliothek, Michelangelo vollendete den David, die römische Soldaten stellten Figuren des Mithras in den Höhlen Germaniens auf: So können wir die Ereignisse beschreiben und erfassen, nicht aber, wenn wir Nebel erzeugen wie: „Die Herrschaft des römischen Kaisertums wurde durch ein spezielles Medium stabilisiert: die Kunst als symbolische Macht“ oder „Der Geist der Renaissance wurde Fleisch in der Figur des David von Michelangelo“ oder „Die Ausbreitung von Mysterienreligionen in der römischen Kaiserzeit ist ein Symptom für die Schwächung der Macht der heimischen Götter“.
Wenn Begriffe, Strukturen und Systeme nicht handeln, wie beziehen sich dann Macht, Einfluß und Gewalt von Realitäten wie der Zugehörigkeit zu einem Volk oder zu einer Religion auf die Motive der Handelnden, was sie ja offensichtlich tun?
Wir können so sagen: Volk ist eine von der Abstammung her relativ homogene Gruppe von Menschen, die in der Mehrheit dieselbe Sprache sprechen und gemeinsam bestimmte außerordentliche Ereignisse oder Schicksalsereignisse erfahren haben. Eine Gruppe von Menschen bildet demnach noch kein Volk, weil es von denselben Ahnen abstammt oder sein genetischer Code in gewissen Aspekten übereinstimmt, sondern erst dann, wenn die Eigenschaften der gemeinsamen Muttersprache und des gemeinsamen politischen Schicksals hinzutreten. So wurden die römischen Latiner ein Volk, weil sie als Muttersprache das Lateinische pflogen und schicksalhafte Ereignisse wie die Vertreibung der etruskischen Königen und die Errichtung der Senatsherrschaft, den Einmarsch der Punier unter Hannibal und den Sieg über Karthago, die Schlacht bei Actium und die Errichtung des Kaisertums in Rom erlebt haben. Demgemäß entspricht unserer Verwendung des Begriffs „Volk“ eher das lateinische natio als das lateinische populus oder plebs und die davon abgeleiteten Begriffe wie französisch peuple oder englisch people.
Die Römer verehrten gemeinsame Götter, der Kult war sowohl Staatskult wie der Kult der Göttertrias im Kapitolinischen Tempel für Jupiter Optimus Maximus, Juno Regina und Minerva, und umfaßte Vogelschau, Gebet und Opfer, ausgeführt von staatlich bestallten Priestern wie den augures und flamines, als auch Privatkult wie die Verehrung der Penaten und Laren im häuslichen Kreis.
Die Römer glaubten, daß sie als Volk leben und überleben und sich ihrer Feinde erwehren konnten, wenn sie ihre Geschicke und letzten Entscheidungen vertrauensvoll (Fides heißt „vertrauensvolle Zuwendung, gläubiges Vertrauen“) den Göttern anheimstellten. Wenn der Senat seine Truppen unter der Führung des Cornelius Scipio im Jahre 202 v. Chr. nach Zama in Nordafrika aussandte, um die Entscheidungsschlacht gegen Hannibal zu wagen, glaubten sie sich mit ihren Göttern im Bunde, glaubten sie, der Kriegsgott Mars kämpfe auf ihrer Seite.
Wir sehen, wie die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Volk und zu einer bestimmten Religion als Rahmenbedingungen oder Kontexte in die Sprecherabsichten und Handlungsabsichten von historisch handelnden Menschen Eingang finden. Dabei bleiben viele Rahmenbedingungen unterhalb der Schwelle des Bewußtseins und entfalten ihr Wirkung auf die Absicht der Handelnden implizit, so natürlich die Zugehörigkeit zur selben Muttersprache, aber auch die ethnische und religiöse Identität wie in unserem Falle: Die Vertreter des Senats führten als Gründe, in Zama die Entscheidung zu suchen, nicht die Tatsache an, daß sie nun einmal Römer sind und das römische Volk repräsentierten, sondern setzten die Eigenschaften der Zugehörigkeit zum selben Volk und zur selben Religion implizit voraus. Dennoch sind beide Faktoren die entscheidenden Gründe, die ihre Absicht motivierten und also erklären, in den Krieg zu ziehen. Denn wofür sollten sie sonst ihr Leben oder das Leben der römischen Soldaten riskieren?
Wenn wir die Analyse bis ins Subtile oder Feinkörnige treiben wollten, müßten wir eine Verschachtelung oder Hierarchie von Sätzen über Handlungen und Handlungsabsichten konstruieren.
Rom kämpfte bei Zama gegen Hannibal:
> Der römische Senat beauftragte Cornelius Scipio, die Entscheidung gegen Hannibal bei Zama zu suchen.
> Cornelius Scipio beauftragte seine Offiziere, die Legionen bei Zama gegen Hannibal zu führen.
> Die Offiziere befohlen den Soldaten ihrer Legionen, gegen die Truppen Hannibals zu kämpfen.
> Die römischen Soldaten kämpften gegen Hannibal.
> Der römische Soldat Marcus Minor ergriff die Flucht, als ihm ein gepanzerter punischer Elefant entgegenstürmte.
Auch die Folgen und Folgen der Folgen einzelner historischer Ereignisse sind gleichsam ineinander verschachtelt und hierarchisch verknüpft:
Rom besiegte Hannibal bei Zama:
> Die Römer wurden die alleinigen Herrscher über das Mittelmeer.
> Die vergrößerte Macht der Römer führte zur weiteren Expansion des Imperiums in Griechenland, im Orient, Spanien und Gallien.
> Die Machtvergrößerung führte zu Machtansprüchen einzelner Machthaber und Feldherren wie Sulla und Pompeius gegen den Senat.
> Der Machtzerfall mündete im Bürgerkrieg.
Jede dieser Folgen könnte mittels minutiöser Analyse bis auf die Taten und Handlungen, also letztlich auf die willkürlichen Bewegungen der Körper der einzelnen beteiligten Protagonisten, aufgeschlüsselt werden.
So ist auch die Schlacht von Zama eine nicht überschaubare, mehr oder weniger koordinierte und synchronisierte Kette von Handlungen, die wir bis hinunter zu den einzelnen Köperbewegungen einzelner Teilnehmer dieses historischen Geschehens analysieren können. Dabei besteht das Substratum oder die causa materialis im Sinne des Aristoteles der historischen Taten aus natürlichen Ereignissen: Denn evidentermaßen ist die Tatsache, daß unser verschreckter römischer Soldat Marcus angesichts des heranstürmenden Elefanten die Beine in die Arme nimmt, ein natürlicher Vorgang insofern, als all die mannigfaltigen Prozesse, die während dieser Handlung in seinem Nervensystem und seinem Muskelapparat ablaufen, natürliche Vorgänge sind. Aber die causa finalis im Sinne des Aristoteles besteht nicht aus solchen natürlichen Prozessen, sondern aus den mentalen Formursachen der Absichten des Handelnden.
Hätte sich Cornelius Scipio, auch Scipio Africanus Maior genannt, geweigert, den Auftrag des Senats auszuführen, hätte diese Unterlassung der befohlenen Handlung gewiß schwerwiegende Folgen gehabt, sodaß wir sagen können, nicht nur ausgeführte Handlungen können bei der historischen Betrachtung von Belang sein, sondern auch Unterlassungen von Handlungen. Dies wäre bei der Befehlsverweigerung des römischen Feldherrn sicher der Fall gewesen.
Nur müssen wir unterscheiden: Sich vorzustellen, dies und jenes sei nicht geschehen, erlaubt uns keine wahre Aussage über die Realität, sondern betrifft die Art und Weise, wie wir die Ereignisse betrachten und modellieren. Wir bilden das Modell einer Welt, in der ein Ereignis, das tatsächlich stattgefunden hat, nicht stattgefunden hätte: Wenn der Mörder des Erzherzogs Ferdinand in Sarajevo den Schuß aus der Pistole nicht abgefeuert hätte, obwohl er zur Ausführung dieser Handlungsabsicht alles Notwendige vorbereitet hatte und sich bereits direkt vor dem vorbeifahrenden Wagen des österreichischen Prinzenpaars postiert hatte, wäre der Erste Weltkrieg vielleicht nicht ausgebrochen oder wäre vielleicht nicht aus diesem Grund ausgebrochen. Wenn der serbische Untergrundkämpfer Gavrilo Princip nur als harmloser Zaungast den Besuch des Erzherzogs und seiner Frau verfolgt hätte, nicht aber den Mord beabsichtigt und geplant haben würde, sprächen wir nicht von einer Unterlassung einer bereits beabsichtigten Handlung. Wir gewinnen mittels dieses Modells und Modelle dieser Art keine Einsicht in das wirkliche Geschehen, sondern machen uns eine plastische Vorstellung von der Bedeutung des Geschehens, der Handlungen und der Handlungsfolgen. So unterstreichen wir im Falle des Ereignisses von 1914 in Sarajevo die Bedeutung des wirklichen Geschehens am Modell des unwirklichen.
Im Übrigen haben absichtliche Unterlassungen von Handlungen einen rein rechtlichen Sinn: Wenn es sich um strafrechtlich relevante Unterlassungen von Hilfeleistungen handelt.
Du hast mir zugenickt und damit dein Einverständnis auf meinen Vorschlag signalisiert, mit mir im Park spazieren zu gehen. Die Enervation deiner Hals- und Kopfmuskeln müssen unmittelbar von deiner Absicht herrühren, mir die genannte Mitteilung zu machen. Wäre dies nicht der Fall und wären die Muskelkontraktionen, die dein Nicken verursachten, auf einen nervösen Tick zurückzuführen, hättest du mittels der Geste keine Mitteilung gemacht, und ich läge falsch damit, sie als Einverständnis zu verstehen.
Fazit:
Was geschieht also wirklich, wenn wir per definitionem unter einem Geschehen Taten und Handlungen von Menschen verstehen? Was wirklich geschieht, sind die von Absichten als ihren unmittelbaren Gründen verursachten Enervationen von Muskelbewegungen oder Körperbewegungen einzelner menschlicher Organismen.
Begriffe wie Naturgeschichte, Kulturgeschichte, Kunstgeschichte oder Religionsgeschichte sind keine sinnvollen Begriffe, jedenfalls keine Begriffe, die uns verläßliche Auskunft über das mit ihnen Gemeinte vermitteln. Sie sind mehr oder weniger nützliche, mehr oder weniger verfängliche Etiketten, beispielsweise als Anschläge auf den Türen der bestreffenden Universitätsinstitute, die uns bestenfalls darauf hinweisen, daß hinter diesen Türen der eine das Fossil eines Urvogels chemisch analysiert oder ein anderer die Stiftung der Palatinischen Bibliothek durch den Kaiser Augustus anhand der Annalen des römischen Senats, des Lebensberichts des Kaisers und der relevanten Stellen aus den römischen Historikern und Schriftstellern nachvollzieht, ein anderer die Beauftragung der Herstellung der Figur des David durch Michelangelo beschreibt oder wieder ein anderer die Spuren des Mithraskults in einigen Höhlen Norddeutschlands als Zeugnisse der religiösen Orientierung der römischen Soldaten im Einsatzgebiet der römischen Provinz Germania Inferior untersucht oder sie in den Kontext der zeitgenössischen Mysterienkulte einordnet.
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