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Von Funktion und Wirkmacht der Namen

15.08.2015

Namen sind die Leitsterne der Clio.

Wir sagen „Mond“ und ersparen uns die lange Rede von „dem Planeten, der den Planeten Erde, der die Sonne umkreist, umkreist, und dieser Erdtrabant ist der einzige Planet, der die Erde umkreist“.

Versuche deinen Geburtsort oder deinen Wohnort ohne Verwendung des Namens durch Beschreibungen genau anzugeben!

„Ich wohne in einer Großstadt, die zwischen Höchst und Offenbach in Hessen liegt.“ Da hat es sich einer aber leicht gemacht! Es ist ja die Pointe dieser Überlegung, unsere Topographie ohne Verwendung von Namen durchzuführen, also müßtest du auch Paraphrasen finden für die Namen „Höchst“, „Offenbach“ und „Hessen“. Aber gelänge dir dies, ohne einen ellenlangen Wisch zu verfassen, aus dem am Ende keiner mehr schlau würde?

Ich könnte auch geistreich hinwerfen: „Ich wohne in der Stadt, an der jene Furt den Main quert, über die Karl der Große mit seinen Reiterscharen galoppiert ist, um die feindliche Macht der Sachsen zu verfolgen.“ Wollten wir Orte durch die Geschichten identifizieren, die sich in ihnen abgespielt haben oder die von ihnen handeln, kämen wir ad Kalendas Graecas zu Hause an.

Immerhin zeigt dieses Beispiel, daß eine Wirkmacht von Namen aus den Überlieferungen schöpft, die uns in Geschichten, Sagen und Legenden greifbar werden, die sie umspielen.

Viele Städtenamen sind sprechende Namen. „Koblenz“ leitet sich vom lateinischen Confluentes ab, das wiederum auf die beiden Flüsse anspielt, die am gemeinten Ort zusammenfließen. „Trier“ kommt vom lateinischen Augusta Treverorum und hält die Erinnerung an den keltischen Stamm der Treverer wach, der an dieser Stätte siedelte. Nach den Angaben Caesars scheinen die Treverer ein mächtiger Stamm gewesen zu sein, der sich seine Anrainer zu Klienten unterworfen hatte. Der Name könnte auf die Mosel anspielen, die diese Leute als Grenze kontrollieren und deren Überquerung sie regulierten.

Mainz scheint nach dem keltischen Gott Mogon von den Soldaten der dortigen Besatzung Mogontiacum genannt worden zu sein, wobei uns Tacitus gemäß der Interpretatio Romana darüber belehrt, dieser Gott sei mit Apollo wesensgleich, eine Deutung, die unser Mißtrauen weckt: Denn würden wir es still hinnehmen, käme ein Gelehrter mit der Behauptung daher, Jesus sei eine Wiederverkörperung des Buddha gewesen?

Colonia Claudia Ara Agrippinensium erinnert daran, daß Köln eine Gründung des Kaisers Claudius ist und dort ein Altar für den Kaiserkult aufgerichtet war, den seine Bewohner, die Ubier, welche Agrippa dort angesiedelt hatte (die „Agrippinensier“), eifrig pflegten.

Wir bemerken, dass Namen und vor allem sprechende Namen von Orten sich oft auf ihre Gründung oder auf besondere Ereignisse beziehen, die sich unter den Menschen abspielten, die als erste dort sesshaft wurden.

Mit dem Namen „Rom“ verbinden wir eine kaum ausschöpfbare Fülle an historischen, mythischen, legendären, religiösen und architektonischen oder künstlerischen Bezügen, abgesehen von einem langen Index von Namen klassischer und nachklassischer Autoren. Unser Blick schweift von der Roma aeterna der vergilianischen Überlieferung über die „Hure Babylon“ der Apokalypse bis zur „civitas terrena“ des Augustinus.

Sind die Bedeutungen solcher Namen wie die Schichten aufeinander angeordnet, die der Archäologe bei seinen Ausgrabungen freilegt? Und sollen wir sagen: „Dies ist die unterste und also älteste und also fundamentale Schicht, auf der alle anderen Bedeutungen aufruhen“? Dies können wir nicht, denn es ist möglich, dass sich eine Bedeutung unvermutet freisetzt und als Ausstrahlungszentrum beginnt, die anderen Bedeutungen zu überstrahlen oder zu verschatten. Das Rom unter der Herrschaft der etruskischen Könige ist kaum vergleichbar mit dem augusteischen Rom, dem Vergil in seinen Georgica und seiner Aeneis ein Charisma verlieh, das wir heute mit dem Begriff der „ewigen Stadt“ flüchtig streifen.

Die Stärke der Wirkmacht von Namen historischer Persönlichkeiten zeigt sich darin, dass sie sich in Titel verwandeln können. Der Titel ist das Zeichen des charismatischen Rangs der Person. So finden wir den Namen Caesar in den Titeln Kaiser und Zar. Aber auch in der ironischen Rede von einem kleinen Napoleon, der auf täppische Weise seinen Machtgelüsten frönt, treffen wir auf dasselbe Phänomen.

Was verbindest du mit deinem Namen? Was verbinden diejenigen damit, die dich mit ihm rufen? Dasselbe? Unterschiedliches? Inwiefern?

Die Benennung der Nachkommen nach der väterlichen Linie, kombiniert mit einem oder mehreren Vornamen, ist ein eigentümliches Merkmal der europäischen Kulturen, durch das wir dank eines rituellen Akts wie der Taufe oder zumindest des Eintrags in einem amtlichen Register aus der anonymen Reihe der animalischen Lebewesen auf die Ebene historischer Personen gehoben werden. Im altrömischen Ritus der Aufnahme des Säuglings durch die Hand des Vaters wird dem Nachkommen der Status eines Rechtssubjekts zugewiesen. Im rituellen Akt der Taufe wird dem Kind der mystische Status eines beseelten Wesens zugewiesen, dem mittels des Beistands der Gnade das Heil der Erlösung zugesprochen wird. Dieser Status ist unlöslich mit dem Namen des Täuflings verknüpft und seine Wirkmacht resoniert in den Absagen an die feindlichen Mächte, die von den Taufzeugen ausgesprochen werden.

Was ist der Unterschied zwischen Namen für fiktive Gegenstände und Namen für reale Gegenstände? Können wir ihn erfassen in der unterschiedlichen Art und Weise, wie wir auf die jeweiligen Objekte Bezug nehmen? Es scheint keine klare oder absolute Grenzziehung möglich. Wenn du davon sprichst, dir sei gestern im Wald ein Zwerg begegnet, wissen wir nicht, ob du ein Märchen erzählen willst oder auf die wirkliche Begegnung mit einem Kleinwüchsigen hinweist.

Wir sagen: „Sie ist die Prinzessin auf der Erbse“ und meinen damit nicht, dass sie die dem Märchen von Andersen entsprungene Königstochter ist, sondern etwa: „Sie ist ja so empfindlich!“

Versuchen wir folgende Äußerung zu paraphrasieren: „Ihre Liebe war so hingebungsvoll wie die Liebe Isoldes!“ Wir könnten statt einer umständlichen Beschreibung die Arie von Isoldes Liebestod aus der Oper von Richard Wagner zu Gehör bringen. Der Name der Isolde steht hier für ein ganzes Register seelischer Befindlichkeiten, deren Nuancen sich sprachlicher Präzision entziehen.

In den vier Büchern der Oden des Horaz stoßen wir auf hunderte Namen, historische und mythische. Manchmal wissen wir nicht, ob ein Name auf eine historische Figur aus der Lebenswelt des Dichters Bezug nimmt oder mit seinem mythischen Ursprung auf eine Eigenschaft der Figur anspielt, die sich aus der Erzählung des Mythos ergibt. Die Namen bilden Verdichtungs- und Knotenpunkte, gleichsam Angeln, in denen die Flügel des Verses schwingen. Wenn wir sie herauslösen, fallen die Flügel wie matt und ausdruckslos zu Boden.

Es ist eine Eigentümlichkeit der indogermanischen Sprachen, die Ausdrücke für Abstrakta, mit denen wir Institutionen bezeichnen, wie Namen von lebenden Wesen und Personen aufzufassen und zu verwenden. Als wäre die Liebe ein lebendiges Wesen, das zwischen den Liebenden Wohnung nimmt oder ihnen bei ihren Gängen durch die Straßen und Parks in der Gestalt eines Kindes, einer alten Frau, ja eines Vogels begegnet. Als hätten sie dieses Wesen einmal als anmutige Schöne kennengelernt, als hätten sie mit ihm täglichen Umgang gepflegt, als hätten sie es plötzlich aus den Augen verloren und sich auf all ihren Gängen durch die Straßen und Parks auf die Suche nach ihm begeben.

Dieser Gebrauch der Namen als Allegorien unserer sozialen Einrichtungen enthüllt viele Wahrheiten über die conditio humana.

Das hebräische Wort Adam für Mensch gilt als Name, während unser Wort Mensch diese Funktion nicht innehat. Gott ruft den Menschen im Paradiesesgarten bei seinem Namen.

Im Namen erfassen wir die mehr oder weniger bestimmte Einheit von Aggregaten, Mengen und Massen, die uns begrifflich zu präzisieren schwerfiele. Ein Exot, der nicht weiß, worum es sich handelt, könnte aus der Liste der Namen der Bundesländer nicht den Namen „Deutschland“ deduzieren.

Die Griechen und Römer hatten Namen nicht nur für Berge, Landschaften, Flüsse oder Sterne und Sternkonstellationen, sondern auch für die Winde, als wären sie mythische Lebewesen. Ein Schimmer davon bleibt in der fidelen Manier unserer Meteorologen, Hoch- und Tiefdrücke oder Taifune mit männlichen und weiblichen Vornamen zu bezeichnen.

Es ist aber der Anfang des dichterischen Weltumgangs, im Wald nicht bloß eine Ansammlung von Bäumen zu sehen, sondern seinem Atem zu lauschen, seinen lockenden Ruf zu vernehmen, sich in seinen Träumen oder Ahnungen zu vergessen, die ihm nach dem Sommergewitter wie Dampf heller Wolkenwirbel entsteigen.

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