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Liebesspiel

01.06.2015

Der Austausch von Zärtlichkeiten und liebkosende Berührungen gewähren uns intime Einblicke in das Halbdunkel, das Chiaroscuro bewussten Lebens. Wenn du deinen Freund berührst und streichelst, empfindest du die Wärme, die Porosität, die Spannung, die Weichheit seiner Haut, seines Fleisches. Indem du den anderen berührst, fühlst du an den Oberflächen und Grenzen seines Leibes die Oberflächen und Grenzen deiner Hand, deines Leibes. Indem du den anderen durch Berührungen fühlst, fühlst du dich selbst.

Wenn du deinen Freund streichelst, empfindest du, was er empfindet, denn du registrierst unwillkürlich, wie er deine Berührung aufnimmt, freudig oder überrascht, erregt oder gleichmütig, irritiert oder gelangweilt. Wenn er deinen Zärtlichkeiten willig nachgibt, fühlst du dich geneigt, darin fortzufahren und seinen Gelüsten zu folgen. Wenn er sich sträubt, wirst du innehalten und verweilen. So zeigt sich der Austausch von zärtlichen Berührungen als spontanes Spiel der intuitiven Abbildungen deines Leib-Bewusstseins auf das Leib-Bewusstsein des anderen.

Du fühlst die Oberflächen und Grenzen des fremden Leibs mit deiner Hand und an deiner Hand. Aber du fühlst, was du mit deiner Hand berührst, nicht als dieses Organ, deine Hand, sondern als das ganze seiner bewusste Lebewesen, das du bist. Dein Freund fühlt, wenn du ihn küsst, deinen warmen Mund und deine Lippen, er fühlt dies an seinem Mund und an seinen Lippen, aber er fühlt deine Berührungen und Zärtlichkeiten nicht als seinen Mund und seine Lippen, sondern als das ganze seiner bewusste Lebewesen, das er ist.

Wir bemerken, dass wir im stummen, vorsprachlichen Leib-Raum des Austauschs von Berührungen einander gleichsam abbilden: Indem der eine den anderen berührt und spürt, fühlt sich der eine am zweiten wie der andere sich am ersten fühlt.

Wenn du deinem Freund im Austausch von Zärtlichkeiten in die Augen schaust, erblickst du in seiner Art zu blicken und zurückzublicken, wie er dich anschaut und wahrnimmt. In seiner Art und Weise, dich anzublicken, erblickst du dich selbst. Du erblickst im Auge des anderen nicht nur sein Auge, sondern du schaust ihn in seinem Blick als das ganze seiner bewusste Lebewesen an, das er ist.

Auch hier bemerken wir, dass wir im Austausch von Blicken ein vorsprachliches Medium haben, in dem wir uns gegenseitig abbilden und spiegeln.

Wenn du deinen Freund berührst, fühlt er deine Hand und deinen Leib. Zugleich fühlt er seine Hand und seinen Leib eben dadurch, dass du sie berührst. Mehr noch: Er fühlt nicht nur deine Hand, sondern ist sich der Tatsache mehr oder weniger bewusst, dass du ihn berührst. Wenn er fühlt, dass du ihn berührst, ist er sich zugleich der Tatsache bewusst, dass du ihn gern, liebevoll, zärtlich berührst. Er fühlt demnach in der Bewegung deiner Hand deinen Willen, der deine Bewegung mehr oder weniger spontan lenkt. Die Tatsache, dass dein Freund spürt, wie du deine Hand willentlich lenkst, um ihn zärtlich zu berühren, vermag er durchaus von der entgegengesetzten Tatsache abzugrenzen, dass du deine Hand unwillkürlich oder unabsichtlich bewegst, wenn du beispielweise dich umdrehst und ihn dabei versehentlich mehr oder weniger unsanft in die Seite stößt.

Wir bemerken, dass unser Bewusstsein kein isoliertes, in sich abgeschlossenes System von mentalen Zuständen darstellt, sondern ein intersubjektives Reagenzmedium wechselseitiger Abbildungen von sich selbst im anderen und des mit uns interagierenden anderen in unserem bewussten Erleben.

Die Tatsache, dass wir uns im Austausch von Berührungen wechselseitig erspüren und abbilden oder spiegeln, impliziert nicht, dass einer im anderen gleichsam verschmilzt oder verschwindet. Denn dann wären das Bewusstsein und die Möglichkeit, sich an den Grenzen der Berührung wechselseitig abzubilden, aufgehoben.

Wenn sich dein Freund sanft, aber bestimmt deinen Berührungen entwindet, spürst du seine Abneigung, das Spiel fortzusetzen, und bildest seine Zurückhaltung dadurch ab, dass du dich deinerseits zurücknimmst. Vielleicht bist du enttäuscht, weil deine Erwartung nicht erfüllt worden ist, das Liebesspiel zu verlängern oder zu vertiefen. Vielleicht ist er enttäuscht, weil er deine Enttäuschung wahrnimmt, und dies gibt ihm einen Grund, sich noch weiter zurückzuziehen.

Wir bemerken, dass unsere willentlichen Bewegungen und Handlungen in einen Horizont von Antizipationen und Erwartungen eingelassen sind, die erfüllt oder enttäuscht werden können. Wir können die Oszillationen von Erwartung und Erfüllung oder Enttäuschung abfedern und in mehr oder weniger engen Grenzen kontrollieren, indem wir unsere wechselseitigen Erwartungen aufeinander abstimmen, sie synchronisieren und koordinieren.

Indes, wenn wir auf eine objektive Grenze stoßen (auf unserem Spaziergang werden wir von einem Gewitter überrascht) oder auf das „Nein“ des anderen (er entzieht sich uns und bricht das Spiel ab), können wir wohl trotzig weitergehen (und riskieren damit zumindest eine Erkältung oder gar vom Blitz erschlagen zu werden) und uns enttäuscht zurückziehen (und riskieren damit den weiteren oder endgültigen Rückzug des anderen) oder uns in Geduld (eine der exzellenten Haltungen der Liebe) üben und statt an unserer Erwartung kindlich festzuhalten – warten (in einem Unterschlupf, in selbsterfüllter Einsamkeit): bis das Wetter umschlägt, bis die schlechte Laune oder der Groll sich verzogen hat.

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