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Ein einfaches ontologisches Modell

09.05.2015

Wir analysieren Aspekte oder Strukturen der Realität (denn diese zu ergründen bleibt Ziel des Nachdenkens) anhand eines einfachen ontologischen Modells, um damit die Aspekte der Realität darzustellen, die von unserem Modell aus rekonstruierbar oder simulierbar sind.

Wir legen unserem Modell das Bild eines offenen Netzwerks zugrunde, bei dem Knoten- oder Kreuzungspunkte durch Linien verknüpft sind und das gleichsam nach allen Seiten zu wachsen imstande sein soll. Die Punkte, in denen sich zwei oder mehr Linien kreuzen, repräsentieren in unserem einfachen ontologischen Modell individuelle Existenzen oder Individuen, die Verbindungslinien repräsentieren die Funktionen oder Eigenschaften, mit denen die Individuen ausgestattet sind oder mittels derer sie miteinander kommunizieren und interagieren.

Ein Punkt kann durch mehrere Linien mit anderen Punkten verbunden sein, aber wenigstens eine Linie muss es geben, die ihn mit dem Netz verknüpft – sonst wäre er funktionslos und fiele aus dem Netz heraus.

Denken wir an das organische Netz der durch Synapsen und Dendriten verbundenen Nervenzellen, so erkennen wir, dass unser Modell nicht statisch und starr sein, sondern dynamisch und von Kräften der Konstruktion und Destruktion beeinflusst werden sollte. Es können sich nämlich neue Linien zwischen Punkten bilden, ja an den Linien, die Punkte verbinden, sogar neue Punkte entstehen. Alte Linien können gleichsam absterben oder reißen.

Nehmen wir die relationale Elementarfunktion xRy und setzen dafür ein: Individuum A ist mit Individuum B befreundet. Die Linie zwischen den Punkten A und B repräsentiert in diesem Fall die Relation der Freundschaft, die symmetrisch, aber nicht notwendig transitiv ist: Es spielt keine Rolle, ob wir die Linie von A nach B oder von B nach A entlangwandern – wir verbleiben im Geltungsbereich der bekannten Funktion. Wenn allerdings A mit B befreundet ist und B mit C, folgt daraus nicht, dass A mit C befreundet ist. Ist dies nicht der Fall, weist die funktionale Linie zwischen A und B keine transitive Weiterführung zum Punkt C auf. Wir könnten diesen Sachverhalt in unserem Modell dadurch veranschaulichen, dass wir für die Linie zwischen A und B eine andere Farbe verwenden als für die Linie zwischen B und C. Ist es der Fall, dass A mit B und B mit C und A mit C befreundet ist, können wir diesen Schverhalt in unserem Modell dadurch veranschaulichen, dass wir die funktionale Verbindungslinie zwischen allen Punkten in derselben Farbe darstellen.

Wenn wir in dem Relationsausdruck xRy die gegenläufige Form elementarer menschlicher Beziehungen, die Feindschaft, eintragen, erhalten wir den gesättigten Ausdruck „Individuum A ist mit Individuum B verfeindet“. Wir nehmen an, dass A mit B und B mit C verfeindet sind und dass daraus folgt, dass A mit C befreundet ist. Hier erkennen wir also eine Form der transitiven Beziehung durch Umkehrung der Vorzeichen.

Wir bemerken, dass wir mittels der Beschreibung von Beziehungen zwischen Individuen zu der wesentlichen ontologischen Kategorie des Sachverhalts gelangen (welchen ontologischen Status auch immer wir ihr zuschreiben): Wir sagen, A stehe im Verhältnis F zu B, wobei F die Art der Beziehung ausdrückt, wenn wir den Sachverhalt p, dass zwischen A und B die Relation F herrscht, zum Ausdruck bringen wollen. Dass Individuum A mit Individuum B in der Beziehung F steht, fassen wir in den Elementargedanken: Es ist der Fall, dass p.

Wenn der Punkt A in unserem Modell zum Zeitpunkt t1 vorhanden ist, wir aber feststellen, dass er zum Zeitpunkt t2 nicht oder nicht mehr vorhanden ist, sprechen wir von einem wesentlichen oder fundamentalen Ereignis. Wenn die Punkte A und B zum Zeitpunkt t1 nicht miteinander verbunden sind, wir aber feststellen, dass sie zum Zeitpunkt t2 durch eine Linie verbunden sind, deren Farbe die funktionale Beziehung der Freundschaft repräsentiert, sprechen wir von einem akzidentellen Ereignis.

Wir bemerken, dass es einen kategorialen Unterschied zwischen wesentlichen und akzidentellen Ereignissen gibt. Und wir erkennen, dass die allergewöhnlichsten Ereignisse wie das Entstehen oder Zerreißen einer Freundschaft die Existenz der Individuen, die das Ereignis betrifft, voraussetzen. Alle akzidentellen Ereignisse, die A betreffen, lassen die Existenz von A unangetastet. Alle wesentlichen Ereignisse, die die Existenz von A aufheben, heben zugleich alle funktionalen Beziehungen auf, durch die das Individuum A mit anderen Individuen verbunden war. Das verstorbene Individuum A war mit B befreundet, ist es jetzt aber nicht mehr.

Die funktionalen Beziehungen zwischen A und B dienen uns dazu, die Individuen A und B näher zu beschreiben. Unsere Beschreibung trifft einen bestehenden Sachverhalt und ist wahr, wenn wir die Linie zwischen A und B erkennen können, die diese funktionale Beziehung repräsentiert. Dagegen können wir dadurch, dass wir die Existenz oder Nicht-Existenz von A oder B feststellen, weder A noch B näher beschreiben. Das meint die Formel: Existenz ist keine Eigenschaft des existierenden Gegenstands.

Wir können in unserem einfachen Modell auch funktionale Abhängigkeiten zwischen Individuen darstellen, indem wir die Verbindungslinie zwischen zwei Punkten mit einem Pfeil versehen: Die Richtung, in die der Pfeil weist, repräsentiert die funktionale Abhängigkeit der beiden Individuen. Wenn wir in den Relationsausdruck xRy eintragen: A ist der Vater von B, können wir diese Art der Abhängigkeit in der angegebenen Weise modellieren. Wir haben eine Beziehung, bei der gilt, dass das Individuum B die Existenz des Individuums A notwendig voraussetzt. Es ist uns evident, dass es einen Zeitpunkt t1 gegeben hat und notwendigerweise gegeben haben muss, zu dem A existierte, aber B nicht existierte, und einen Zeitpunkt t2, zu dem sowohl A als auch B (wenn auch vielleicht nur als befruchtete Eizelle) gleichzeitig existiert haben.

Wir sehen, dass wir mit einfachen Modellen dieser Art wesentliche ontologische Kategorien wie Individuum, Funktion oder Eigenschaft, Sachverhalt und Ereignis darstellen können. Zugleich gewahren wir aber auch die Grenzen solcher Modellbildungen: Unser Modell eignet sich vorzüglich zur Repräsentation physischer Einheiten und externer Relationen. Es ist dagegen nicht geeignet, interne Relationen wie die (mentale) Kausalität oder intentionale Beziehungen wie die Gedanken „A denkt an B“ oder „A glaubt, B gestern im Park gesehen zu haben“ oder „A glaubt, der Mond sei der einzige Erdtrabant“ darzustellen. Ganz versagt unser Modell, wenn wir Negationsausdrücke oder das Nichtbestehen von Sachverhalten repräsentieren wollen: Wenn A an B denkt, B aber schon lange verstorben ist, denkt er dann an ein nichtexistierendes Objekt? Wenn A daran denkt, dass er mich gestern im Park verpasst hat, denkt er dann an einen Sachverhalt, der nicht besteht?

Wir bemerken, dass wir der Suggestion einfacher ontologischer Modelle nicht ohne weiteres und bis in die letzten Konsequenzen nachgeben sollten: Sie lassen uns bisweilen nur vordergründige ontologische Kategorien und Beziehungen auffinden, verborgene Kategorien und Beziehungen dagegen können sie uns vorenthalten.

Als Nachtrag können wir eine erweiterte Version unseres einfachen ontologischen Modells skizzieren, mit deren Hilfe es uns immerhin möglich ist, kausale Beziehungen zu repräsentieren. Wir setzen dazu an die Stelle der Punkte oder Knoten Lampen und betrachten die Linien als Leitungen, die sie mit Strom versorgen. Zwischen die Lampen legen wir Schalter, mit denen wir die Stromleitung unterbrechen oder wiederherstellen können. Es ist klar, dass wir für dieses Modell einen Generator zur Stromerzeugung oder zumindest eine Batterie (die wiederum andernorts mit Energie gefüllt worden sein muss) benötigen, die nicht Teil des Netzwerks sind, aber dieses Netzwerk mit Energie versorgen.

Wenn wir den Generator anlassen und in der ersten Reihe oder Verbindungslinie den Schalter zwischen zwei Punkten umlegen, gehen die verbundenen Lampen entweder beide an oder beide aus. Wir deuten dies so: Die Lampen vertreten in unserer Ontologie Individuen, von denen angezeigt wird, dass sie existieren, wenn die Lampen Licht ausstrahlen, und dass sie nicht existieren, wenn sie kein Licht ausstrahlen. Die Leitungen vertreten die funktionalen Beziehungen zwischen den Individuen, die in diesem einfachen Modell kausaler Natur sind.

Wir bemerken, dass die Stromzufuhr die notwendige und hinreichende Ursache für die Tatsache darstellt, dass bei geschlossenem und nicht offenem Stromkreis die angeschlossenen Glühlampen leuchten und bei offenem und nicht geschlossenem Stromkreis die Glühlampen nicht leuchten. Wir bemerken zudem, dass die Tatsache, dass eine Lampe leuchtet und die dahintergeschaltete Lampe nicht leuchtet, darauf hinweist, dass die zweite Lampe funktionsuntüchtig geworden ist, was in unserem Modell heißt, dass das Individuum, das sie repräsentiert hat, nicht (mehr) existiert.

Wir können nun sagen: Wenn wir unser Modell als offenen Stromkreis interpretieren, erkennen wir in den Lampen, die jetzt nicht leuchten, die Möglichkeit, dass sie leuchten (falls sie nicht kaputt sind), wenn wir den Stromkreis schließen. Die nicht leuchtenden Lampen repräsentieren in unserem einfachen ontologischen Modell Individuen, deren Existenz nichtaktual oder virtuell oder möglich ist. Außerdem bemerken wir, dass in unserem Modell die ontologische Kategorie der Möglichkeit die Kategorie der Kausalität voraussetzt.

Wir kennen die ontologischen Bedingungen der Kausalität, die wie ein Generator Stromnetze mit Energie versorgt. Daran haben wir ein Bild von Existenz und Nicht-Existenz, von Leben und Tod. Aber nur ein Bild. Die ontologischen Bedingungen der Kausalität, die unser bewusstes Leben und Sterben bedingen, kennen wir nicht. Hier müssen wir schweigen.

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