Skip to content

Der Händedruck

13.04.2015

Wie Sinn in eine Welt ohne Sinn kommt

Als wir uns wiedersahen, hast du spontan meine Hand genommen und sie herzhaft gedrückt. Ich habe gleich verstanden, erkannt, begriffen, was diese Geste zu bedeuten hatte. Du wolltest mir damit zum Ausdruck bringen, dass dich unser Wiedersehen erfreut und wohl auch mit der Hoffnung erfüllt hat, dass sich unser abgekühltes Verhältnis wieder erwärmen möge.

Ich weiß mit Gewissheit oder ich gehe mit Sicherheit davon aus, dass bei unserem Wiedersehen deine Hand nicht zufällig oder mechanisch oder unbewusst meine Hand ergriffen und gedrückt hat, obwohl das rein physikalische Ergebnis deiner Geste in nichts von dem Ergebnis verschieden wäre, das wir bei einer reflexartig-mechanischen Bewegung und einem unwillkürlichen Zusammenziehen der Handmuskeln festzustellen hätten.

Wir sagen, jene Geste des Händedrucks ist dir nicht unterlaufen wie ein Reflex der Muskeln, mit denen sich die Augen schließen, wenn ein gefährliches Objekt einzudringen droht. Du hast, so drücken wir uns aus, den Händedruck bewusst gemacht.

Woran erkenne ich denn genau, dass der Händedruck kein Reflex und keine einprogrammierte Geste eines raffinierten Automaten war, wenn das Ereignis, in physikalischer Sprache ausgedrückt, dasselbe ist wie das Ereignis, das du bewirkst, wenn du die Geste bewusst oder vorsätzlich oder aus eigenem Antrieb gemacht hast?

Es gibt keine äußeren Erkennungszeichen und eindeutigen Merkmale von Handlungen, von denen wir sagen, dass wir sie mit Absicht und aus freien Stücken unternommen haben. Wir sind so gebaut, nicht unser Gehirn, sondern unsere Art und Weise, zu existieren und unsere Existenz zu verstehen, dass wir die Realität des bewussten Handelns und der Wirkungen nicht vollständig voraussehbarer Absichten als Rahmen oder Struktur oder Begriffssystem alles dessen, worüber wir reden können, voraussetzen.

Deshalb behandeln wir Gesten, Handlungen und verbale Äußerungen, einschließlich Texten der hier vorliegenden Art, als Manifestationen von Absichten und bewussten Zwecken. Wir ersehen die Tatsache dieser letzten oder transzendentalen Voraussetzung unserer Art zu leben an unseren Reaktionen auf Gesten, Handlungen und verbalen Äußerungen, die danebengingen oder ihre vorausgesetzten Absichten nicht bewahrheiten konnten. Wenn du danebengreifst und statt meiner Hand den Ärmel der Jacke, die ich über die Schultern gestreift habe, packst und zu schütteln geneigt bist, werden wir dir in diesem Falle, nicht DIESE Absicht unterstellen – es sei denn, wir wissen, dass du ein unverbesserlicher Spaßmacher oder Clown bist –, sondern die wahre Absicht erraten und die schiefgelaufene Geste als Versehen erklären.

Dies gilt mutatis mutandis auch für das Aussprechen von Sätzen oder verbalen Fügungen, die manchmal danebengehen und ihren Sprecherabsichten kläglich hinterherhinken können. Wir nennen diese schiefgelaufenen Sprechakte Versprecher und unterstellen dem Sprecher nicht, dass er in Wahrheit, aber ihm selbst unbewusst genau DIESE Absicht hegte, die sich in dem Versprecher manifestiert – es sei denn, wir sind unverbesserliche Psychoanalytiker.

Wir stellen fest, dass Sinn in eine Welt ohne Sinn – die Welt der physischen Objekte und Ereignisse und ihrer gesetzmäßigen Verbindungen – durch die Aktivitäten der menschlichen Gemeinschaften kommt: Mittels bewusst gesetzter und vollzogener oder gestalteter Gesten, Handlungen und Zeichen bilden diese Kategorien oder Typen von Lebensführungssystemen oder Lebensformen, in denen der gedanklich und sprachlich abbildbare Sinn des Lebens gleichsam eingehaust und eingefriedet ist. So bildet die Geste des Händedrucks im Verein mit weiteren Gesten, Handlungen und Zeichen wie dem Kuss, der rituellen oder zeremoniellen oder konventionellen Zubereitung eines Mahls, dem Ritus gegenseitigen Schenkens oder der zeichenhaft regulierten und symbolsprachlich konventionalisierten Kommunikation in Anreden, Briefen oder E-Mails den Lebenskreis der Freundschaft, einen sinnstiftenden und Sinn konstituierenden Bereich des menschlichen Lebens.

Wir würden nicht sagen wollen, jemand habe eine freundschaftliche Geste vollzogen, indem er dir ein Geschenk offeriert, dich zur Begrüßung mit einem herzhaften Händedruck oder einem Bruderkuss empfangen hat, wenn wir davon ausgehen müssten, dass unsere Gesten und Handlungen algorithmisch programmierte Vollzüge von logischen Automaten oder Maschinen wären. Du würdest wegen des dir von deinem Freund offerierten Geschenks weder Dankbarkeit und Sympathie empfinden noch würde es dich dazu motivieren, ihm das Gegebene durch eine Gegengabe zu vergelten, wüsstest du oder müsstest du davon ausgehen, dass er dir das Geschenk nicht aus freien Stücken, aus eigenem Antrieb und in klarer Absicht, dir seine Gunst zu bezeigen, gemacht hat, sondern weil er nicht anders konnte und es ihm sein Gehirn so befahl.

Wir bemerken, dass in einer Welt ohne Sinn, in der unsere Absichten nichts weiter als unbewusste und unwillkürliche Antriebe und unsere Gesten, Handlungen und Äußerungen vollständig vorhersehbare Automatismen wären, unser Begriffsnetz, das eben an den Stellen verknotet ist, die mit den Begriffen der Absicht, der Handlung, des Vorsatzes, des Versprechens und aller artverwandten Begriffe belegt sind, augenblicks zerreißen würde. Wir blieben verstummt zurück – und wüssten noch nicht einmal, dass und weshalb es uns die Sprache verschlagen hat. Oder wir verwandelten uns augenblicks in einen Sprachautomaten, der vor sich hinsagt: „Wir bleiben verstummt zurück – und wissen noch nicht einmal, dass und weshalb es uns die Sprache verschlagen hat.“

Wir fassen unsere Fähigkeit zu selbstbewussten Handlungen, Handlungen, die gewollt, beabsichtigt oder bewusst sind, als eine eigentümliche Form des Könnens, der Beherrschung gewisser Techniken des Tuns und Redens oder um es überschwänglich zu sagen der Souveränität des Geistes auf. Wir ersehen auch dies an den Fällen, von denen wir annehmen, dass besagtes Können eingeschränkt und die geistige Souveränität verdunkelt ist. Den Paranoiker, der glaubt, sein Nachbar sei im Bunde mit jenen feindlichen Mächten, die ihn von Satelliten aus orten, beobachten und mit krankmachenden Strahlen beschießen, und der diesen Nachbarn, wie er vor Gericht aussagt, aus Notwehr getötet hat, halten wir für eine Person, die aus dem Begriffsnetz, das uns trägt, herausgefallen ist, und plädieren in seinem Falle auf verminderte Schuldfähigkeit.

Wir können nicht beweisen, dass du meine Hand nicht reflexhaft-automatisch, sondern absichtsvoll-bewusst gedrückt hast, denn etwas zu beweisen setzt die Existenz und Gültigkeit des Begriffsnetzes voraus, in dem unter Verwendung von Verfahren und Schemata logischer Ableitung, also einer disziplinierten Form bewussten Redens, eben jener Beweis geführt werden müsste.

Doch dürfen wir unumwunden das Argument ins Feld führen, dass die Absicht, die Tatsache absichtsvoll-bewussten Redens abstreiten und sogar widerlegen zu wollen, aus demselben Grund zum Scheitern verurteilt ist, weil ein solcher Gegenbeweis offenkundig die Existenz und Wahrheitsfähigkeit absichtsvoll-bewussten Redens und die Gültigkeit der logischen Ableitungsregeln voraussetzt.

Wenn wir weder beweisen können, dass der Sinn unserer Gesten, Handlungen und Äußerungen keine Illusion, sondern objektiv begründet ist, und wenn wir andererseits nicht mit logischer Stringenz die Annahme der Gültigkeit dieses Sinns bestreiten oder widerlegen können, so bleibt einzig der Glaube an die Realität eines uns gegebenen Sinns, die nur durch das Vertrauen in die Existenz einer letzten und höchsten Sinndimension gerechtfertigt werden könnte. Wenn das Leben kein Traum und unsere Hoffnungen kein leerer Wahn sein sollen, kommen wir nicht umhin die Existenz Gottes als gnädigen Gebers und Garanten der Dimension des Sinns, der Möglichkeit der Freiheit und Verantwortung, zu postulieren.

Dies gilt auch für die Annahme, dass du trotz der Verschiedenheit deiner körperlichen und seelischen Zustände gestern, heute und morgen dieselbe Person warst, bist und bleibst, oder für die Annahme, dass dich deine elementaren Glaubensgewissheiten über die Realität der Welt wie die Realität der Außenwelt und des Alter Ego oder die Realität der Vergangenheit nicht gänzlich in die Irre führen, und für die Annahme, dass das Netz deiner Glaubensgewissheiten zumindest an den Knotenpunkten der logischen Gesetze und der wichtigsten Kategorien, der singulären und generellen Termini, mit dem, was wir die Realität nennen, in konsistenter Weise zusammenhängen, wie bei einer topographisch genauen Abbildung die Linien und Punkte und anderen Zeichen der Karte bei aller materiellen Verschiedenheit in konsistenter Weise mit den realen Gegebenheiten der Identität der Orte, Berge, Flüsse, Straßen und Sehenswürdigkeiten zusammenhängen.

Comments are closed.

Top