Auf den Spuren der Vernunft IV
Vernunft ist keine Entität, kein Etwas, das wir in der Außenwelt oder im Raum des Mentalen auffinden und untersuchen könnten. Vernunft heißt uns die Abkürzung für die menschliche Fähigkeit, die Gründe des Handelns zu analysieren, zu bewerten und zu gewichten, und handeln umfasst tun und reden.
Wie viel Vernunft in einer Handlung steckt, bemisst sich an Maßstäben, die aus der Anwendung großer Erfahrung und gesunden Menschenverstandes bei der Abwägung von Handlungsgründen resultieren.
Wenn du ein einigermaßen zufriedenes, um nicht zu sagen ein erfülltes und glückliches Leben führen willst, solltest du eine Ausbildung absolvieren, die deinen Talenten und deinen Neigungen gemäß ist, und einen Beruf ergreifen, mit dem du nicht nur dein Dasein fristen und dein Auskommen finden kannst, sondern der dich zumindest auf lange Sicht oder hin und wieder mit einem guten Gefühl nach Hause gehen lässt, weil du nicht nur dein Pensum geschafft, sondern eine ausgezeichnete Leistung zu deiner eigenen Zufriedenheit und zur Zufriedenheit deiner Kollegen und deines Chefs abgeliefert hast.
Es wäre allerdings wenig vernünftig, dir von supergescheiten Leuten einreden zu lassen, so etwas wie natürliche Begabungen und Anlagen oder Talente und Neigungen gebe es nicht: Würden wir nur alle in die gleiche soziale Nährlösung geworfen, könnten wir bunte Triebe die Fülle aufkeimen lassen, ein jeder nach seinem Gusto. Aber schau: der mit den plumpen Händen und dem nervösen Tick, als Chirurg möchtest du dir ihn lieber nicht denken – und schon gar nicht an deinem Rückenmark. Oder, das quirlige, süße Mädchen, das gerne mit feinen Stoffen und edlen Accessoires spielt, nein, es soll nicht ihrer Neigung nachgeben und Kunstnäherin werden, sondern nach dem Spleen ihrer hysterischen Mutter sich täglich acht Stunden die Finger am Klavier wundüben, um als Pianistin die Karriere hinzulegen, die ihr selbst mangels Disziplin und Begabung nicht vergönnt war!
Vernunft walten zu lassen erfordert demnach nicht nur die korrekte Anwendung des logischen Denkens bei der Abwägung von Gründen und Gegengründen, sondern auch charakterliche Dispositionen wie Mut, Durchsetzungsstärke und Ausdauer.
Das Gegenteil vernünftigen Tuns und Redens hat, wie ein Blick in die täglichen Nachrichten oder die Lektüre von Romanen oder Kriminalgeschichten oder die Erinnerung an das selbst Erlebte bestätigen, eine breite Spanne von Aspekten und Nuancen und reicht von Torheit und Schusseligkeit über Kurzsichtigkeit und Starrsinn bis zu Besessenheit und Wahnsinn. Dagegen scheint uns die Vernunft nicht gerade mit einer reichhaltigen Schlachtplatte zu mästen, sondern auf frugale Kost zu setzen mit ihrer Lebensklugheit und Besonnenheit, auch wenn sie gelegentlich den Gipfel salomonischer Weisheit zu erklimmen willens und in der Lage ist.
Wir wandeln auf den Spuren der Vernunft den schmalen Pfad zwischen dem unheimlichen Urwald der Natur und dem ungeheuren Friedhof der Geschichte. In die Naturgeschichte sind wir mit Leib und Seele von der Geburt bis zum Tod verschlungen; die Geschichte packt uns am Schlafittchen, wenn wir als Mitglied einer Gruppe, einer Nation, eines Staats identifiziert werden, bestenfalls Steuern zu zahlen und schlimmstenfalls unser Leben für höhere Belange hinzugeben ersucht werden. Auf diesem schiefen Gelände droht die Vernunft vor dem Schicksal abzurutschen – und kann manchmal doch heroisch Haltung bewahren.
Das Mädchen zeigte bei der Geburt eine abstoßende Entstellung des Gesichts, die nach Auskunft der Fachärzte erst kurz vor Beginn der Pubertät durch einen komplizierten chirurgischen Eingriff zu beheben oder zumindest wesentlich zu lindern war. Die Eltern waren bestürzt und verzweifelt angesichts der Aussicht für ihr Baby, all den seelischen Qualen ausgesetzt sein zu müssen, die es von der Grausamkeit, der Verwirrung und abergläubischen Furcht der Umgebung im Kindergarten und in der Schule zu erwarten hatte. Denn es wäre töricht, in diesem und in ähnlichen Fällen auf die Milde und das Verständnis der Mitlebenden setzen zu wollen. Für Vater und Mutter, aber auch für die Großeltern war diese Erstgeburt liebenswert trotz ihrer Hässlichkeit. So befand die Familie es nach vielem Grübeln und Nachdenken für das klügste und vernünftigste, das Kind den widerwärtigen und bösen Blicken der anderen zu entziehen, es im Verborgenen zu behüten, zu pflegen, aufzuziehen und zu unterrichten, bis die bang ersehnte Operation endlich vorgenommen werden konnte. Hier musste die vernünftige Erwägung die möglichen Qualen und Leiderfahrungen des Kinds in seiner Umwelt gegen den Verlust an Freizügigkeit und Lebensfreude sowie den erhöhten Aufwand an Geld und Kraft der Familie in Rechnung stellen – vom Konflikt mit dem Gesetz, das privaten Unterricht nicht duldet, einmal ganz abgesehen.
In solchen und ähnlichen Fällen muss die vernünftige Entscheidung dem Schicksal abgerungen werden. Das Schicksal und die fatalen Umstände bilden einen engen Korridor, durch den man mit der blakenden Funzel vernünftiger Abwägung nicht allzu weit blicken kann – aber manchmal immerhin so weit, dass man den eingeschlagenen Weg entschlossen, tapfer oder doch ausdauernd weiterzugehen gewillt ist.
Der Fall zeigt auch klar, dass es unvernünftig wäre anzunehmen, Opfer und Verzicht zugunsten eines Beeinträchtigten könnten jederzeit und allerorten jedermann zugemutet werden: Hier ist die genetische Abstammung und Verwandtschaft ersten und zweiten Grades die einschränkende Voraussetzung dafür, dass vernünftige Abwägungen und harte Entscheidungen der genannten Art überhaupt ein geneigtes Ohr finden.
Aber ist nicht auch die Liebe, wie in diesem Fall die herausgeforderte, gleichsam erhitzte und eifersüchtige Elternliebe, ein machtvoller Zug des Schicksals, mit dem die Vernunft zu rechnen hat, den sie aber nicht selbst rechtfertigen, begründen oder mit Gründen erschüttern kann?
Die Mutter, die ihr Kind, von schöner Gestalt oder hässlich entstellt, von Geburt an ablehnt, und dieses emotionale Schicksal teilen einige Mütter, wird es für wenig vernünftig ansehen, für ihr Kind so viele Opfer zu bringen, damit es vor den Zumutungen und Übergriffen der Mitwelt geschützt im Verborgenen aufwachse, sondern es zur Adoption freigeben oder in ein Pflegeheim abgeben. Diese Entscheidung mag vor strengen moralischen Maßstäbe einer selbstlosen Caritas nicht bestehen können, als unvernünftig können wir sie aber nicht disqualifizieren, weil das Gegenteil dieser Entscheidung zu keinen vernünftigeren Ergebnissen beitrüge, da ein ungeliebtes, ja gehasstes Kind aufzuziehen auch für das Kind schwere seelische Schäden zur Folge hätte.
Wie wir sehen, erglänzt aus dem Hintergrund der Vernunft keine Sonne des Guten. Eher finden wir uns hier im nordischen Nebelland, wo die Konturen der Gegenstände, je tiefer wir dringen, um so mehr verschwimmen und unsere Suche ins Unwegsame gerät, weil Moor und Morast den Tritten nachgeben. Unser Nachforschen und Fragen stößt an Grenzen, verwirrt sich oder versandet in Trivialitäten und Tautologien, wonach wir greifen, zerfällt uns in der Hand, entweicht uns wie Schattengebilde.
Wir fragen beherzt und scharfsinnig nach Gründen und finden begriffliche Netzwerke, die von den Pfeilern der Gründe leicht und manchmal in eleganten Schwüngen getragen und ausgespannt werden. Doch je weiter wir kommen und je mehr wir nachgraben, finden wir: Die Pfeiler selbst ragen in unregelmäßigen Abständen in unterschiedlicher Höhe empor, Abstände und Höhen, die keiner Metrik gehorchen, sie stecken manchmal sehr tief, manchmal nur im flachen Boden und drohen bei leichten Verwehungen und Verwitterungen in Schieflage zu geraten, ja manche Pfeiler sinken augenscheinlich immer tiefer in den sandigen Boden.
Hier geraten wir ins Stottern oder machen ratlose Gesten, die besagen: „Was sollʼs, es ist halt so!“ „Hier geht es scheintʼs nicht weiter!“ „Ein Umweg ist nicht in Sicht.“ „Alles endet hier in Monotonie und Erschöpfung.“
Nur im Vordergrund und auf den leicht gewellten Oberflächen unseres alltäglichen Lebens bekommt das Gesicht der Vernunft Farbe, hellt sich ihr Blick auf, ermuntert ihr Lächeln. Wenn es darum geht, eine Handlung vor einer anderen auszuzeichnen, weil es vernünftiger ist, das eine zuerst, das andere danach zu tun. Oder was man tun könnte, ja was zu tun einen geradezu kitzelt, was zu sagen einem geradezu auf der Zunge brennt, gerade nicht zu tun und herunterzuschlucken, weil es vernünftiger ist, das eine dem anderen vorzuziehen. Oder weil es vernünftiger in Hinsicht auf dein emotionales Leben ist, jene Person zu meiden, als den beruflichen Vorteil ihres Umgangs zu suchen. Und unendlich vieles dergleichen mehr, was uns die Vernunft rät und ansinnt und worauf wir vertrauen und bauen können, weil im Kleinklein und Durchwursteln durch die leichten Untiefen und Fährnisse unseres Alltags auf ihre Bauernschläue und Lebensklugheit Verlass ist.
Wir sehen im Licht der Vernunft klar – für heute und morgen. Wir wissen uns zu helfen und zu orientieren – hierhin und dorthin. Wir ziehen uns elegant oder gerade noch aus den begrifflichen Fallen, bevor es zu spät ist und sie zu tatsächlich tödlichen Fallen zu werden drohen, und schlagen einen anderen Weg ein und machen einen Umweg.
Wir finden Wege, Umwege und Auswege, aber nicht den einen Königsweg des Lebens. Das Licht der Vernunft reicht gerade so zur Erhellung auf unserem Lebensweg, aber es löst den Schatten, den wir selbst unterwegs ununterbrochen werfen, nicht auf.
Wir sagen, es sei vernünftiger, mit einem anständigen Beruf sein Auskommen zu finden als einem bodenlosen Spleen nachzujagen, der ins seelische und materielle Verderben stürzt; es sei vernünftiger, hart zu schuften, als arbeits- und wohnungslos auf der Straße zwischen Abfall und degenerierten Mitgenossen des Elends zu vegetieren. Wir können dir bei aller Vernunft aber nicht mit tiefergehenden Argumenten auf die Beine helfen, wenn du die Arbeit scheust und die Erniedrigung, auf öffentliche Wohlfahrt oder den Bettel angewiesen zu sein, stoisch hinnimmst. Auch den scheinbar vernünftigen Hinweis auf dein Kind, wenn du ein Kind hättest, für das du doch Verantwortung übernehmen solltest, könntest du mit einer wegwerfenden Geste und der zynischen Bemerkung von dir weisen, dein Kind gedeihe besser in einer mental auch nur geringfügig gesünderen Umgebung als gerade in der deinen. Ja, wenn du in der Gosse liegend, dein Lebenslicht, blöde und gänzlich abgestumpft vor dich hinstierend, verlöschen lassen willst – es vermöchte kein leuchtender Rat der Vernunft es wieder zu entzünden.
Wir können nur hier und dort und dann und wann gute oder bessere Gründe finden, um dir zu raten, dies und das zu tun und zu sagen, jenes aber zu lassen. Das Beste, zu dem wir uns aufschwingen, ist ein Ausgleich, ein zeitweiliges harmonisches Gleichgewicht zwischen widerstrebenden Ansprüchen, Gründen und Gegengründen. Die Vernunft leitet uns auf dem schmalen Pfad des Ausgleichs zwischen Tätigkeit und Ruhe, Selbstliebe und Hingabe, Fürsichsein und Teilnahme an der Gemeinschaft, Ernst und Spiel, Konzentration und Zerstreuung, Logik und Traum.
Weil wir sind, was wir sind (Lebewesen unserer Art), aber gilt auch: Es gibt keine letzten Vernunftprinzipien und absolut zwingenden Gründe der Vernunft, dies und jenes zu tun und zu sagen und dies und jenes zu lassen und zu beschweigen.
Humor gelte uns als ethische Tugend, denn sie erleichtert uns die notwendige Resignation der Vernunft, das Mittelmaß, die aurea mediocritas, zu suchen und menschlich und das heißt mittelmäßig zu bleiben.