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Auf den Spuren der Vernunft I

03.07.2014

Mit einem grammatisch wohlgeformten Aussagesatz unserer natürlichen Sprache können wir einen beliebigen sinnvollen Gedanken ausdrücken, der insofern etwas über die Wirklichkeit aussagt, die Wirklichkeit gleichsam wie die Tangente den Kreis berührt, als er wahr oder nicht wahr zu sein pflegt.

Der sinnvolle Gedanke äußert sich in einem sinnvollen Satz, der ein Stück der Wirklichkeit gleichsam herausgreift und darstellt und zugleich behauptet, dass die von ihm herausgegriffene und dargestellte Wirklichkeit oder der Sachverhalt existiert oder nicht existiert.

Ohne die Tatsache, dass der sinnvolle Gedanke ein Stück der Wirklichkeit herausgreift und darstellt, gibt es überhaupt keine Tatsache, deren Existenz bejaht oder verneint werden könnte. Das heißt, es gibt keine nackten Tatsachen in der Welt ohne sinnvolle Gedanken und ohne natürliche Sprachen, die sie ausdrücken. – Aber freilich sind auch die sinnvollen Gedanken und die natürlichen Sprachen Tatsachen in der Welt.

„Dort oben sitzt eine Taube auf dem Dach.“ Der Satz drückt einen sinnvollen Gedanken in einer Welt aus, in der es Häuser und Dächer, Tiere und Menschen gibt, und er ist wahr, wenn er von dem Sprecher geäußert wird, in dessen Wahrnehmungsfeld eine Taube auf dem Dach sitzt.

„Der Mond ist der Erdtrabant“. Der Satz drückt einen sinnvollen Gedanken in einer Welt aus, in der ein Zentralgestirn namens Sonne von einem Planeten namens Erde umkreist wird, der wiederum von einem Planeten namens Mond umkreist wird, und er ist wahr, gleichgültig wann und wo er von welchem Sprecher einer natürlichen Sprache der Erde geäußert wird.

Der Satz drückt auch dann einen sinnvollen Gedanken aus und ist wahr, wenn er in einer natürlichen Sprache geäußert würde, die die Klassifikation von unbelebten und belebten Entitäten anders als unsere Sprache fasste und Sterne und Planeten den belebten Entitäten zurechnete – wie in der Antike allenthalben üblich.

Man könnte sich auch eine Sprache denken, in der all das, was auf einem anderen liegt oder sitzt oder worin es sich bewegt, solange es da liegt oder sitzt oder sich bewegt, als begriffliche Einheit mit dem aufgefasst würde, auf dem es liegt oder sitzt oder worin es sich bewegt. Die Taube, die auf dem Dach sitzt, wäre in dieser Sprache eine „Dachtaube“, die Taube, die auf dem Ast eines Baumes sitzt, eine „Baumtaube“ und die Taube, die über die Dächer durch die Luft fliegt eine „Lufttaube“. Anders als in unserer Sprache wäre die „Dachtaube“ nicht dasselbe Tier wie die „Baumtaube“ und diese wäre nicht dasselbe Tier wie die „Lufttaube“.

Dieser seltsame Umstand weist uns darauf hin, dass der sinnvolle Gedanke auf die logisch korrekte Verwendung des Pronomens „derselbe“, „dieselbe, „dasselbe“ eingeschränkt ist: Wir können sagen: „Dieselbe Taube, die eben auf dem Dach saß, fliegt jetzt über den Platz.“ Oder: „Die Taube sitzt auf dem Dach. Jetzt fliegt sie über den Platz“, wobei das Relativpronomen „sie“ als Stellvertreter oder Anzeiger der Identität des herausgegriffenen Objekts fungiert.

In jener merkwürdigen Sprache, die begriffliche Verschmelzungen der genannten Art zuließe, könnten wir keine grammatisch wohlgeformten Sätze mit dem logisch korrekten Gebrauch der Indexwörter für die Identität wie „derselbe“ oder des Relativpronomens bilden.

Daraus folgern wir: Die grundlegende semantische Leistung der Benennung oder die regelrechte Verwendung von Namen für Objekte ist eine Ableitung der ldentitätsfunktion oder der identifizierenden Tätigkeit der Vernunft.

Die Tätigkeit der Vernunft konstituiert unser Dasein: Sie macht uns zu denen, die zu verantworten haben, was wir an sinnvollen Gedanken und sinnvollen Sätzen oder Sprechakten äußern. Wenn ich dir versprochen habe, das mir freundlicherweise entliehene Buch in drei Wochen zurückzugeben, bin ich gehalten, mich am Tag der Rückgabe als dieselbe Person zu identifizieren, die dir vor drei Wochen das Versprechen gegeben hat. Die identifizierende Tätigkeit der Vernunft ist einer der Grundpfeiler der menschlichen Lebensordnung.

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