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Der Scheintote

13.03.2025

Der Moloch Stadt fletscht seine schiefen Hauer.

Die Flüsse Babels sind Kanäle, wo kein Schilf
mehr birgt, die um die ferne Heimat weinen,
Zions Waisenkinder.

Der Civitas terrena pumpt ein stählern Herz
Schleim der Unzucht und heißen Teer
der Unrast durch Adern, die sich im Nichts,
dem gliederlosen, schlängeln.

Ampel, Zebrastreifen, hochfrequentiert
um diese Morgenstunde, alles hastet, hustet,
hupt und rennt. Aktentasche, Handy, Damen-
täschchen, Einkaufsbeutel.

Ungeduschte, frisch Rasierte, Parfümierte,
Kopftuch, Haartoupet, geflammtes Hals-Tattoo,
Wulstlippen, Augenschlitze, Porno-Dutt,
Netzstrümpfe, Lederriemen, Lippenblech,
gezupfte Brauen, Plastiknägel, Wangenrouge,
Mulatten, Gelbe, Kreidebleiche, negroide
Baobabs und Nippon-Chrysanthemen.

Schulbengel, Banker, Servicegirls, Polierer,
Kappenjungs, geharnischte E-Scooter-
Flitzer, strampelnde Klein-Kind-Segler,
unterm Flugnetz ein gedämpftes Kreischen.

Und der liegt da, umgehauen, hingestreckt,
gefällt, gerollt in einen Schlafsack, schmutzig-grün,
die Beine wie im Weinkrampf um den Laternen-
mast geschlungen, das Gesicht von der Kapuze
wie in Scham verhüllt.

Könnte tot sein. Verendet. Hingeschieden.
Ohne Adieu gesagt zu haben. Wem auch?
Hat seit Jahren keinem mehr die Hand geschüttelt,
jeder wich vor Ekel gleich zurück. Lazarus,
Hiob, Geschwürenexhibitionist.

Da stakt vorbei, steil stelzend, die grellen Lampions
der Hinterbacken rhythmisch auf- und nieder-
schwenkend, ein Gazellenweib, die blondierte
Mähne singt dem Wind: Ich bin noch warm von
der burgunderroten Nacht. Was geht mich
der Kadaver an, der in sein schuldverseuchtes,
ödes Endspiel stinkt.

Ich sah noch, wie ein krummes Hauben-Muttchen
aus seiner Börse ein paar Münzen klaubte und
sie zitternd in die tellerrunde Frotteeschale warf.
Was bewog sie, sich des Kehrichts zu erbarmen?
Das Wehen eines Flügels aus der Dämmernische
bigotter Andacht, in die man statt des Engels
längst ein queeres Flitter-Püppchen rückte?

Ja, die Bettelschale lag, als hätte Nachtwind
sie ihm zugeweht, vor dieses Scheintoten
weltabgewandtem Antlitz.

Vielleicht erhebt er sich, wenn die Laterne ihren
trüben Schimmer mit dem Regenwasser mischt,
schält sich aus dem Sack und geistert, ein Nacht-
mahr auf der Suche nach der bangen Menschen-
brust, daß ihn das mühsam abgepreßte Keuchen
in obszönes Flimmern wiegt.

Vielleicht steigt er, wenn ich erschöpft ins Kissen
sinke, durch einen Gully geradewegs in meinen
Traum.

Dann entblößt er mir sein bronzenes Apachen-
angesicht, und ich erkenn ihn schreckensfroh,
den Freund aus Kindertagen, der mir die Wimpern,
meiner Unschuld zarte Schatten, hat versengt.

 

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