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Die Taube und ich

07.02.2025

Philosophische Aphorismen und Sentenzen

Die schöne Waldtaube, der ich täglich Sonnenkörner streue, kann ich von ihr sagen, daß sie auf dem Dach des Hinterhofgebäudes ruhig sitzend auf mich wartet, mich sieht, erkennt und wiedererkennt, wenn ich ans Fenster trete und es öffne, in demselben Sinne es sagen, wie ich sage, daß ich sie sehe, erkenne und an ihrer charakteristischen weißen Halsbinde wiedererkenne?

Die Taube kommt in der frühen Morgenstunde, sobald es hell wird. Erinnert sie sich daran, daß sie gestern auch hier war, vorgestern, vor einem Monat?

Kann sie voraussagen, vermuten, hoffen, daß ich bald wieder ans Fenster trete und ihr Körner streuen werde? Kann sie wünschen, daß es heute ein paar Körner mehr als gestern oder vorgestern sein werden?

Kann sie befürchten, daß ich heute nicht ans Fenster trete, und sollte dies der Fall sein, darüber spekulieren, warum es nicht geschah, und sich etwa fragen: „Vielleicht ist er verreist, krank oder am Ende gar gestorben.“

Kann sie sich sagen: „Da ist er wieder, dieser seltsame Mensch, der sich meiner annimmt, an mich denkt, mich nicht vergißt?“

Ich erkenne das Tier als diese bestimmte, einzigartige Taube. Ich weiß, was ein Tier ist, kenne diese und jene Arten und Gattungen von Tieren wie Schlangenartige und Kobras, Wolfsartige und Hunde, Vögel und Tauben, Hominiden und Menschen, und unter allen Menschen diesen einen, der ich selbst bin. Doch die Taube weiß nicht, daß ich ein Mensch bin, weiß nicht, daß sie eine Taube ist.

Etwas wissen heißt hier, es sagen können. Es nicht wissen heißt, es nicht sagen können. „Können“ hat hier einen semantisch-logischen, keinen nur physiologischen Sinn.

Ich weiß, daß ich die Taube nur eine gewisse Zeit füttern werde. Jedenfalls, solange ich Gefallen daran finde und es will. Verläßt sich die Taube darauf, daß ich es weiterhin tue, wäre sie enttäuscht, wenn ich davon Abstand nähme?

Der enttäuschte und betrogene Liebhaber der antiken Elegie und Komödie liegt nächtelang auf der Schwelle der Geliebten. Meine Taube wird, so ist zu hoffen, wenn sie die ausgestreuten Körner ein paar Tage vergeblich zu erspähen versucht hat, den Weg zu mir meiden.

Was sollen wir von den treuen Hunden sagen, die ihr unterwegs verlorengegangenes Herrchen über weite Strecken suchen und wiederfinden, die gar vor dem Grab des verstorbenen harren und darben? Es kann wohl nicht nur die durch die Fütterung konditionierte Bindung als ausschlaggebendes Motiv in Anschlag kommen. – Vielleicht aber drängen sich in solchen Fällen Projektionen menschlicher Verhaltensmuster und Gebärden auf die innig geliebten Haus- und Schoßtiere verständlicherweise geradezu unaufhaltsam auf.

Kann die Taube sich vornehmen, morgen einmal nicht zu erscheinen, gleichsam aus Trotz, weil ich ihr heute zu wenig Körner gestreut habe? Kann sie ein paar Tage ausbleiben, um mir den beinahe verwegenen Hinweis zu geben, wie sehr ich ihrer erfreulichen Anwesenheit bedarf; so wie Liebende es tun, die sich dem anderen entziehen, um ihn seiner Sehnsucht innewerden zu lassen?

Die Waldtaube ist äußerst scheu. Manchmal verharrt sie lange auf dem Dach, als wäre sie nur bereit, sich auf den Boden herabzustürzen, wenn ihr das Wagnis unbedenklich zu sein scheint.

Ich dagegen scheue mich manchmal, den Tiernarren zu spielen, wenn ich mich von einem Nachbarn beobachtet glaube.

Das instinktive Zögern des Tiers und meine soziale Scheu entspringen unterschiedlichen motivationalen Quellen und sind nicht vergleichbar.

Früher kamen sie zu zweit, und friedlich pickten nebeneinander Taube und Täuberich. Nun kommt sie schon lange allein. Ob er gestorben ist, ein Opfer der oft hier krächzenden Krähen wurde?

Warum ist es albern, der verwaisten Taube den sozialen Status einer Witwe zusprechen zu wollen?

Tauben kennen, auch wenn sie wie andere Vogelarten eine langjährige Bindung einzugehen pflegen, keine sozialen, auf Konventionen beruhenden Institutionen wie die Ehe.

Die Übertragung von dem Menschen eigentümlichen Gepflogenheiten und Institutionen auf das Leben und Verhalten der Tiere ist ein typisches poetisches Verfahren der Fabel, wie wir es von Äsop bis zu La Fontaine und Lessing kennen.

Der Waldtaube mit dem silbergrau schimmernden Federkleid wachsen keine schwarzen Federn zum Zeichen, daß sie Trauer trage.

Die Taube und die Sippe ihrer nahen Anverwandten pflegen keine Trauerrituale, suchen den Ort, wo der verunglückte blutsverwandte Artgenosse umkam, nicht auf, um seiner in Stille zu gedenken.

Ich sage mir: „Wie seltsam, Federn zu haben, und statt der Arme und Hände einen Schnabel; wie merkwürdig, sich aus dem Stand durch ein paar kräftige Flügelschläge jählings in die Lüfte zu erheben und in einem hohen, eleganten Flug den Kranz des weit emporragenden Kamins auf dem Nachbarhaus zu erreichen, um dort in die Runde zu schauen.“

Die Taube aber kann sich nicht sagen: „Wie seltsam, eine nackte Haut zu haben und nur auf dem Kopf, unter den Achseln und an den Geschlechtsteilen behaart zu sein, auf zwei Beinen zu stehen und zu gehen, Hände an den Armen zu haben und mit ihnen Dinge zu verrichten, die ein Schnabel nicht zu leisten vermag; wie merkwürdig, einen Mund zu haben, aus dem es nicht gurrt, sondern spricht.“

Ein Kamerad aus der Kinderzeit, dessen Großeltern aus dem Ruhrgebiet stammten, setzte die dortige Tradition der Brieftaubenzucht mit seinem Vater fort. Die edelsten Vögel wurden ausgesucht und in Käfigen von Mitgliedern des Taubenzüchtervereins in weit entfernte Orte verbracht; dort ließ man sie frei und zu Hause wartete alles gespannt, wann sie wieder eintreffen würden. Die Flugzeiten wurden gemessen und Preise für die schnellsten Wettflieger vergeben.

Keine der für den Wettkampf ausersehenen Tauben hat sich je gesagt: „O nein, ich werde ihnen den Gefallen nicht tun, ich nutze die Gelegenheit und schlage ihnen ein Schnippchen, ich beschäme den Untertanengeist meiner den Menschen hörigen Sippe und fliege ins Freie, ins Offene.“

Menschen züchten, dressieren, erforschen und essen Tiere – nicht umgekehrt.

Was uns aber eigentlich fasziniert, sind wilde, ungezähmte, nicht ins Menschentum eingehegte Tiere – wie mich die Waldtaube, im Gegensatz zu der schon häßlich degenerierten gewöhnlichen Straßentaube.

Die Faszination durch die wilde, noch ungebändigte Natur wird wohl in der Vorromantik wie bei Rousseau und der Romantik wie bei Novalis und Eichendorff, hernach im Expressionismus und in neuer Dichtung wie bei Trakl und Rilke („Der Panther“) ein immer neu hervorbrechendes Thema; doch steht sie eigentlich am Beginn der künstlerischen Formung des menschlichen Bewußtseins wie in den Höhlenmalereien der Steinzeit.

Dem Kultivierten, der in der kulturellen Differenz des Rohen und Gekochten erzogen wurde, ekelt vor dem Verzehr rohen Fleisches; die Bakchen zerreißen im dionysischen Rausch Tiere, ja die verblendete Mutter den Sohn Pentheus.

Mit dem Schnabel picken; mit den Händen essen. Die geduldig erlernte Kunst, Messer und Gabel zu benutzen.

Der Wahn rückt den Kranken zurück in vorzivilisatorische Bewußtseinslagen.

Die Schamanen wähnen, fliegen zu können.

Hölderlin kommt nach Ausbruch der Krankheit in die gefährliche Nähe chaotischer Mächte, wie der Titanen, der Totengeister, der Stimmen aus dem Abgrund.

Nach Austreibung der Dämonen durch aufgeklärte Pfaffen und bieder-liberale Theologen wird das Christentum schal und fade.

Manche dekadente Dichtung wirkt im besten Falle noch wie ein Magenbitter nach einem zu üppigen Festschmaus.

Die Heroen der griechischen Mythologie und Dichtung wie der zornige Achilleus und der Kapitän der Argo haben einst dem schüchternen Pennäler Schauer über den Rücken gejagt.

Der Transhumanismus mit seinem grauen Wahn, den Menschengeist in neuronalen Maschinen zu verewigen, mutet wie eine letzte lächerliche Verleugnung der archaisch-animalischen Ursprünge des menschlichen Bewußtseins an.

Groß dünkt uns nur, was wie absichtslos, ja unbewußt aus den dunklen Tiefen des Daseins emporwächst, wie die rätselhaften Organismen der Pflanzen und Tiere.

Betrachten wir die früh ans Licht tretenden, aber schon vollkommenen Formen der griechischen Dichtung wie das Chorlied und den Hymnos als Gewächse, Blumen des Munds gleichsam, wie der Dichter des letzten Hellenismus deutscher Zunge es nannte, verstehen wir die Faszination, die immer wieder von ihnen ausstrahlte.

Freilich, nur in der Kunst können wir geistig unbeschadet die Lampe des Sublimen dann und wann mit einem buntscheckig bemalten Schirm versehen und sie geisterhaft-vibrierende Schatten an die Wände unserer bürgerlichen Behausung werfen lassen; öffnen wir die Schleusen urtümlicher Wildheit im sozialen Umgang, verwahrlosen die Sitten und wir können uns bald selber nicht mehr trauen, geschweige denn unserem Nachbarn, der statt wie bisher höflich zu grüßen, aller Hemmungen entledigt vor uns ausspuckt.

Wie Nacht auf Tag, Mond der Sonne folgt den Domestikationen von Wildgetreide und Wildtieren, der Bändigung des Feuers, der Formung und Bemalung und dem Brand von Tongefäßen sowie der Verhüttung von Metallen und ihrer Verfertigung zu Waffen und kostbarem Geschmeide für die Elite der Krieger und Priester-Herrscher in den mittels Aufschreibsystemen verwalteten palast- oder burgzentrierten Siedlungen immer auch und immer wieder der Einbruch des Wilden und Undomestizierten im Rausch der Feste mit ihren Maskentänzen und dionysischen Chorgesängen.

Die Tragödie vereint die Rationalität des Diskurses einzelner Protagonisten mit dem wilden Jubel- und Klageruf, dem zwielichtigen Pathos der Masse.

Die deutsche Klassik hat die Schauer und das Faszinosum ursprünglichen Daseins zur Bewunderung der großen Leidenschaft und zur sentimentalischen Erquickung an instinktgedämpfter Anmut gemildert; über all dem liegt ein zauberhaft schimmernder Schleier der Schwermut. Rilke war der letzte Dichter deutscher Sprache, der diesen Schleier im hohen Stil seiner Sonette an Orpheus und der Duineser Elegien hat wegreißen wollen, um die Nähe des Unheimlichen und Fremden im Eigenen nicht nur zu zeigen, sondern ihre animierenden Pollen und Wohlgerüche in die dumpfe Stube des Untermieters bei der immer hüstelnden, abgemagerten Witwe Melancholia wie den Duft ferner Gärten ins aufgestoßene Fenster des Schlafs einströmen zu lassen. Doch auch sein später hymnischer Gesang mündet in die Klage.

 

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