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Abgeklärtes Denken

21.01.2025

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Freie Radikale müssen durch konservierende Moleküle gebunden werden, sonst stiften sie nichts als Schaden.

Der abgeklärte Denker kann mit jedem beliebigen Ding beginnen und muß mit keinem enden.

Abgeklärt denken heißt die moralischen Scheuklappen ablegen, ohne auf das basale Ethos zu verzichten, das in einfachen Handlungen wie dem Grüßen oder dem Einhalten einer Verabredung zutage liegt.

Das an die Fütterung gewohnte Tier wartet nicht auf mich, wie ich es tue, wenn ich auf denjenigen warte, mit dem ich verabredet bin.

Das Tier ist durch die Erwartung gleichsam benommen, während ich, auf den Besuch eines Freundes wartend, in Ruhe ein Buch lesen, ja herumtrödeln kann, ohne auch nur an ihn zu denken.

Mit einem gummiweichen Faden läßt sich keine präzise Längenmessung durchführen; mit dehnbaren Begriffen nur Vages sagen.

Wer mit der Sprache schludert, wohnt in einem begrifflichen Kartenhaus, das der nächstbeste geschichtliche Sturm davonfegt.

Hans Guck-in-die-Luft, der spekulative Philosoph, wird über einen Alltagsgegenstand wie einen vergessenen Putzeimer stolpern.

Der abgeklärte Denker stolpert, doch nicht in den Abgrund: Er macht einen Fund. So entdeckt Wittgenstein am Brocken des unnachgiebigen definitorischen Allgemeinbegriffs den Spielraum der Familienähnlichkeit im stets impliziten Netz zusammenhängender Begriffe.

Der Clown stolpert über seine zu langen Schuhe, und alle lachen. Der Zelebrant stolpert über den Altarstein, und alle sind peinlich berührt.

Der Bruch in der kontinuierlichen Linie habitualisierten Verhaltens wirkt einmal komisch, ein andermal peinlich.

Sich verhaspeln, sich versprechen: Manchmal kommt eine verschwiegene Wahrheit ans Licht.

Das widerspenstige Werkzeug bringt den Werkwelt- und Bewandtniszusammenhang des Heideggerschen Daseins zur Erscheinung.

Die ausgefallene Lampe weist auf den unterbrochenen Stromkreislauf; der untaugliche Begriff („Repräsentation von Sachverhalten“) auf den unterbrochenen Strom der lebendigen Sprache („die Mannigfaltigkeit der Sprachverwendungen“).

Das schiefe sprachliche Bild gleicht dem Blick in einen Zerrspiegel.

Übereinandergelegte Muster lassen nur das begrifflich Triviale hervortreten.

Auch der Kriminelle ist mehr als das kriminalpsychologische Profil, aufgrund dessen man ihn identifiziert hat. So war Caravaggio nicht nur ein Mörder, sondern auch ein bedeutender Maler.

Betrachten ist nicht beobachten, plaudern nicht Mitteilungen machen, dichten nicht verklausuliert sagen, was sich umstandslos sagen ließe.

Hölderlin vermochte nicht der deutsche Pindar zu werden, weil die Feste, auf denen seine Chorlyrik hätte erklingen können, im Land der Dichter und Denker keinen Stifter, keine Stätte, keine Gemeinde fanden.

Auf knapp bemessenem Raum einen Gehalt verdichten, der bisweilen ins Unermeßliche reicht: Prinzip und Verfahrensweise der antiken Lyrik (Pindar, Horaz).

Der geistvolle Einfall entspringt im Gedränge.

Mögen sie nur Stroh dreschen – ein Funkenflug genügt.

Man kann nicht fragen, wie es wäre, nicht zu existieren.

Das Leben kann sich selbst nicht in Frage stellen.

Sein ganzes Leben damit vertun, die eine Rätselnuß zu knacken – und post mortem wird offenbar, sie ist hohl.

Die Wissenschaft gibt uns keine Antwort auf die Frage nach dem Wozu. – Der Sinn haust nicht als marginaler Gast oder zufälliger Mieter im sinnlosen Gehäuse der Natur.

Überspannte Wissenschaftler verfangen sich in Pseudo-Erklärungen (wie „Denken ist ein Hirnvorgang“ – „Liebe ist die Ausschüttung bestimmter Hormone“).

Daß es vergeht, ist kein Einwand gegen das, was da ist.

Überspannte Philosophen zwängen das Denken unter das Joch eines Systems („Alles ist Geist: Idealismus“ – „Alles kann auf physikalische Gesetze zurückgeführt werden: Naturalismus“) oder eines Projekts („das Projekt der Aufklärung“ – „das Projekt der Moderne“).

Er tat wie ein Seiltänzer, der auf einem dünnen Seil über einen schwindelerregenden Abgrund balanciert; doch schleppte er sich in Wirklichkeit mit plumpen Schritten über den Asphalt der Plattheiten und Trivialitäten dahin.

Die Bilder nicht von Menschen bewohnter Landstriche und Gegenden, der Wüsten und Steppen, der Weiten und Tiefen der Ozeane trösten uns noch über das parasitäre Gewimmel unserer Gattung auf dem schwärenden Leib der alten Gaia.

Begriffsschranzen und Theoriesnobs, die auf rhetorischen Stelzen über die Köpfe der Minderbemittelten hinweg Dunkles künden, um mittels änigmatischen Geschwätzes Eindruck zu schinden.

Die wurmstichigen Früchte am Baum der politischen Moral wie Gerechtigkeit, Gleichheit, Freiheit, Inklusion und Vielfalt nimmt der auf bekömmliche geistige Diät eingeschworene abgeklärte Denker nicht in den Mund – es sei denn, um sie coram publico angeekelt auszuspeien.

Torheit oder unverzeihliche Naivität verlangt bedingungslose Freiheit der Meinungsäußerung; doch sie der hemmungslosen Meute zu gewähren, heißt, in Kauf zu nehmen, daß man sie da und dort und immer wieder, in den Worten aller Sprachen, doch verwandten Sinnes, brüllen hört: „Gib den Barabbas frei, den da schlag ans Kreuz!“

Der aufgrund zur Massenhysterie gesteigerter sexueller Freizügigkeit traumatisierte Priester fühlt mit den vor den Kopf gestoßenen orthodoxen Rabbinern und hält sich einiges zugute, wenn er die Vorteile der Separation gegenüber der Koedukation von Knaben und Mädchen herausstreicht. – Das Motiv für die Äußerung seines Arguments, daß die beiden Geschlechter ab einer bestimmten Altersstufe zu ihrem eigenen Vorteil getrennt erzogen werden sollten, mag zwielichtig sein; doch ist es deshalb unwahr?

Der frühe Existentialist marschierte nach vorn gebeugt wie gegen einen Sturm anrennend, der altgewordene wandelt auf den überwachsenen Pfaden der Gelassenheit in windstillem Kreis.

Der abgeklärte Denker billigt sich einen Spielraum bei der Wahl der überlieferten geistigen Speisen zu, insofern sie seinem empfindlichen Magen zuträglich sind und seinen verfeinerten Geschmack nicht beleidigen. – Dies gilt – horribile dictu – auch für die Bewirtung durch politische Köche; denn er ist souverän genug, die erlesene Kost monarchisch-höfischer und aristokratisch-elitistischer Provenienz dem Mischmasch plebejisch-demokratischer Vulgarität vorzuziehen.

Der Spätling ist kein Gargantua geistiger Völlerei.

Der Abgeklärte hat einen Degout vor allem, was zu dick aufgetragen, mit geblähten Backen ins grelle Scheinwerferlicht hinausposaunt oder ohne gnädige metaphorische Verhüllung an poetischen Erektionen feilgeboten wird.

Die Sensationsgier, also die Journaille, führt zur Verrohung des Fühlens und Sagens.

Wenn kein Blut von der Leinwand rinnt, die sie für Kunst, kein Leichengeruch aus den Furchen dessen dringt, was sie für Dichtung halten, wendet sich der barbarische Zeitgeist gähnend und gelangweilt ab.

Zu großen Werken inspiriert der Glaube an die eigene Größe, so der Glaube göttlicher Erwählung den biblischen Juden, der Glaube an die kulturelle Vormachtstellung den Erbauer der Akropolis, der Glaube an die weltpolitische Führungsrolle Roms den Schöpfer der Äneis.

Wer sich seines Daseins oder zumindest seiner nationalen Identität schämt wie der moralisch gedrückte Deutsche, verachtet auch die großen Werke seiner Vergangenheit.

Stufen des Sinns, Grade der Verständlichkeit. Wir können unterschiedliche Schichten oder Stufen des Sinns eines physiognomischen, gestischen und sprachlichen Ausdrucks anhand der unterschiedlichen Grade seiner Verständlichkeit identifizieren. Die bejahende Antwort der alten, gebrechlichen Dame auf die Frage, ob wir sie über die verkehrsreiche Straße geleiten sollen, und der Nachvollzug der pythagoreischen Gleichungen am rechtwinkligen Dreieck sind von höherer Transparenz und Verständlichkeit als die Zweideutigkeit eines Delphischen Orakels oder einer nur scheinbar trivialen Formulierung des späten Wittgenstein („das Haus der Sprache ruht auf seinem Dach“); dagegen nimmt der Grad der Unverständlichkeit und Rätselhaftigkeit in dem Maße zu, wie wir in die änigmatischen Gedichte eines Paul Valéry oder die scheinbar oder wirklich widersinnigen Verlautbarungen der Geisteskranken vordringen. Wer uns mit dem Anspruch kommt, er sei ein Bote Gottes, ist uns immerhin noch verständlicher als der Schamane oder Verrückte, der mit den Armen flattert und ein Vogel der Geisterwelt zu sein vorgibt. – Wir sollten solche Fälle exemplarisch studieren, um den echt änigmatischen vom pseudoänigmatischen dichterischen Ausdruck unterscheiden zu lernen, denn letzterer ist ein nicht selten mißbräuchlich verwendetes Mittel, auf unsere Kosten Aufmerksamkeit zu provozieren, die sich im günstigen Fall endlich in ein leichtes Kopfweh auflöst.

Genialität anzuerkennen verlangt Demut vor der Kontingenz ihrer Entstehungsbedingungen.

Fruchtbarkeit des kulturellen Bodens, ein gedeihliches seelisches Klima und die sensorische Eigenart der indogermanischen Völker bildeten schicksalshafte Lebenslinien in der Physiognomie der griechischen Genialität.

Göttliche Samen, die unter die Disteln des Unglaubens und die Schatten des Zweifels fallen, können nicht sprießen.

Wesentliche dichterische Metaphern sind wie Blitze in der Nacht.

Woran er auch streift, ob Stein oder Halm, Tau oder Blatt, stumme Kreatur oder Engelsflügel, der wache dichterische Geist findet stets die Öffnung zur Fülle des Seins.

Man kann die herrliche Windung der Muschel und den in ihrem Innern schimmernden Perlmutt ebensowenig aus natürlichen Entwicklungsgesetzen ableiten wie die sublime Gestalt der Pindarischen Ode und ihren an jähen Stellen aufgehenden inneren Glanz aus literarhistorischen.

Geheimnisvolle Klänge, überwirklich, übersinnlich, als wäre der Geist des Dichters eine himmlischen Lüften ausgesetzte Äolsharfe.

 

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