Grammatische Glossen zur Anthropologie
Philosophische Sentenzen und Aphorismen
Der vor dem Laden angeleinte Hund wartet auf sein Frauchen. Aber er erwartet nicht, daß sie früher zurückkehren möge als beim letzten Mal.
Der Pawlowsche Hund sekretiert Verdauungssäfte, wenn er auf das Signal der Schelle oder der Lampe konditioniert worden ist. Aber er erwartet aufgrund des Signals nicht, daß ihm heute eine Extra-Wurst verabreicht werde.
Ist der Laborhund enttäuscht, wenn die Fütterung trotz des verheißungsvollen Signals ausbleibt, so wie der Liebhaber enttäuscht ist, wenn er vergeblich auf das Eintreffen der Geliebten gewartet hat?
Das Warten hat bisweilen (aber nicht immer, nicht notwendig) eine gewisse Physiognomie (er geht aufgeregt im Zimmer auf und ab, schaut ständig aus dem Fenster), das Erwarten nicht.
„Ich erwarte, daß er pünktlich eintreffe“ ist keine Voraussage eines zukünftigen Ereignisses.
Wenn ich voraussehen könnte, daß der Zug auf der Strecke liegenbleibt, wäre ich nicht enttäuscht, wenn er nicht pünktlich eintrifft.
Angesichts der Schönwetterwolken am Abendhimmel erwarten wir schönes Wetter am darauffolgenden Sommertag; bringt er aber Regen, sind wir nicht in demselben Sinne enttäuscht, wie wir es sind, wenn unser Freund sein Versprechen, sich morgen pünktlich einzufinden, nicht einlöst.
Sie wußte, daß der Stau ihn daran gehindert hat, pünktlich zu kommen. – Er wußte, daß sie ihn schon einmal betrogen hatte. – Sie hoffte, daß er heute endlich einmal pünktlich komme. – Er befürchtete, daß sie ihn erneut hintergehe.
Wir unterscheiden zwischen Wirklichkeitssinn und Möglichkeitssinn; aber dieser Unterschied ist nur eine Ableitung des logisch-grammatischen Unterschieds zwischen Aussagen im Indikativ und Aussagen im Konjunktiv.
Indikativische Aussagen beziehen sich auf den semantischen Raum relativer Gewißheit, konjunktivische auf den semantischen Raum relativer Ungewißheit.
Anthropologisch konstitutive Einstellungen, Haltungen und Dispositionen wie Erwarten, Hoffen, Befürchten, Beabsichtigen und Wünschen beziehen sich auf die semantische Dimension des Möglichkeitssinnes und verlangen zu ihrem sprachlichen Ausdruck die Verwendung des Konjunktivs.
Er fürchtet sich im Dunkeln. – Die Furcht ist naturgemäß ein spezifischer Affekt.
Er befürchtet, daß sie ihn hintergehen werde. – Die Befürchtung ist kein spezifischer Affekt, sondern eine intentionale (auf ein Objekt, einen Sachverhalt bezogene) Einstellung, die freilich, aber nicht notwendigerweise, mit affektiven Begleitphänomenen wie Furcht oder nervöse Spannung einhergehen kann.
Der Gegenstand einer Erwartung ist dasjenige Ereignis, das sie erfüllt oder enttäuscht. Die kindliche Furcht vor der Dunkelheit ist nicht intentional auf einen bestimmten Gegenstand bezogen, sie kann etwa durch unheimliche Geräusche konkretisiert oder durch die vertraute Stimme der Mutter aufgelöst werden.
Die anthropologisch konstitutiven Einstellungen und Haltungen gegenüber Begebenheiten und Ereignissen, die wir mittels indikativischer Aussagen mit den Verbformen der vollendeten Vergangenheit ausdrücken, wie Reue, Scham oder Stolz, sind prinzipiell verschieden von den Einstellungen und Haltungen gegenüber Begebenheiten und Ereignissen, die wir mittels konjunktivischer Aussagen mit den Verbformen des Futurs ausdrücken, wie Erwartung, Befürchtung, Hoffnung oder Zuversicht.
Was wir wissen, ist vergangen, und nur von dem, was vergangen ist, können wir auf Erfahrung fußendes mehr oder weniger sicheres Wissen erlangen.
Nur eine in der Vergangenheit verübte Missetat kann ich bereuen, einer üblen Handlung mich schämen oder auf eine vollbrachte Leistung stolz sein.
Wir unterscheiden die epistemische Dimension des Wissens von der ethischen Dimension unserer Einstellungen und Haltungen. Sobald Ödipus erfährt, daß Iokaste seine Mutter ist, ändert sich schlagartig die ethische Dimension seiner Einstellung ihr gegenüber.
Wäre die Erklärung meiner Absicht, dich morgen zu besuchen, eine Voraussage mit epistemisch ausgezeichnetem Grad der Gewißheit, wäre sie keine echte Absichtserklärung, kein Versprechen.
Die Absichtserklärung ist keine Hypothese über die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses, und sein tatsächliches Eintreten ist nicht ihre Verifizierung, sein Nichteintreten nicht ihre Falsifizierung.
Was wir Verstehen nennen, ist keine epistemische Form der Vermutung über innerseelisch-verborgene Vorkommnisse. Wir verstehen das Lächeln des Freundes unmittelbar als Ausdruck der Dankbarkeit über die freundliche Bewillkommnung oder das erhaltene Geschenk.
Verstehen ist in dem fundiert, was wir etwas vage Intuition nennen.
Intuition ist der Kompaß, auf dem wir die Sinnrichtung unserer Tuns und Redens ablesen.
„Wenn ich den Turm bewegen würde, könnte mich seine Dame bedrohen.“ – „Würden wir dem Hund die signalisierte Fütterung lange genug entziehen, würde der bedingte Reflex, mit Sekretion von Verdauungssäften zu reagieren, allmählich nachlassen.“ – Die grammatische Form irrealer Konditionalsätze ist der semantische Ausdruck des Gedankenexperiments und der wissenschaftlichen Modellbildung.
Wir unterscheiden zwischen dem Flußbett der logisch-grammatischen Funktion und dem Fluß der Sprache. – „Er ist mit Arsen vergiftet worden.“ Dieser Satz sagt nichts, denn wir wissen nicht, ob er in einem Roman steht, einem Arztbericht oder einem Gerichtsurteil.
„Er spricht Französisch.“ – Damit meinen wir nicht, was sie gerade tut, sondern die Fähigkeit der Person, ihr sprachliches Können.
Die Möglichkeit geht der Wirklichkeit, die Virtualität der Aktualität, das Können dem Tun insofern voraus, als wir das erste aus dem zweiten notwendig ableiten können.
„Er hätte sich verteidigen, sich rechtfertigen können, tat es aber nicht.“ – Die unterlassene oder verweigerte Tat ist eine andere oder abgeleitete Form des Könnens. Denn der da schweigt, kann sich in vornehmer Zurückhaltung üben oder edelgesinnt den Fragenden schonen.
Wir synchronisieren unsere Erwartungen, wenn wir den uns erbrachten Gruß angemessen erwidern, die freundliche Geste mit einem Lächeln quittieren. – Umso stärker, verblüffender, mißlicher wirkt die Verweigerung des konventionell Erwartbaren.
Das sittliche Können ist eine auf der Grundlage des Einübens konventioneller Gesten und sprachlicher Wendungen erworbene Fähigkeit. Es erweist sich in der natürlich wirkenden Erfüllung des konventionell Erwartbaren. – Nicht so das künstlerische Können, das entweder das konventionell Erwartbare mittels sublimer Steigerung übertrifft, ironisch-schalkhaft unterläuft oder in dunkle und zwielichtige Zonen vorstoßend untergräbt, wobei es aber immerhin dessen Nachhall und Fernwirkung voraussetzt.
Wir setzen als scheinbar natürlich und selbstverständlich das Können im sittlichen Gebaren (wie beispielsweise Abstand wahren, Grüßen, Einhalten von Versprechen und Verträgen, elterliche Fürsorge) voraus, während wir das herausragende künstlerische Können mit Lob bedenken, sein auf Schlampigkeit oder Disziplinlosigkeit zurückzuführendes Versagen aber mit Tadel strafen.
„Er konnte der Verführung durch den Eros, die Macht, das Geld nicht widerstehen.“ Dabei nehmen wir an, daß der Verführte und Korrupte eben deshalb schuldig wurde, weil er der erotischen Lockung, dem Postengeschacher, der Bestechung hätte widerstehen können. – „Hier stehe ich, ich kann nicht anders.“ In diesem Falle ist das Nichtkönnen eine Folge des Seins: „Ich bin, wie ich bin.“ „Er kann die Zahlen von 1 bis 100 addieren, aber kennt nicht den Unterschied von geraden und ungeraden Zahlen.“ – Die logische Grammatik von „können“ ist eine andere als die von „sein“ und „kennen“.
Der Pawlowsche Hund kann nicht anders, als dem ihm ankonditionierten Reflex willfahren. – Der Anarch des Geistes, der Blutzeuge des Glaubens sowie der baudelairesche Märtyrer der Kunst (und der Hungerkünstler Kafkas) verschmähen selbst die Henkersmahlzeit, die ihm der Gefängniswärter hinreicht.
Wir gewahren, wie sich in der homerischen Odyssee und der frühen griechischen Dichtung die Sprache des Alltags der außeralttäglichen Dimension des Wunderbaren und Märchenhaften, des Phantastischen und Imaginären öffnet. Eine Dimension, die in der Macht und Faszination der mythischen Erzählung und den Kulten der Götter und Heroen angelegt ist. An Odysseus, der am Hof des Phäakenkönigs Alkinoos im Angesicht der liebreizenden Nausikaa zum Erzähler seiner eignen Geschichte wird, gewahren wir aber auch, inwiefern wir die Öffnung der Sprache zu ihrer dichterischen Selbsttranszendenz anthropologisch verorten und vertiefen können: Die dichterische Sprache ist eine Form sui generis der menschlichen Sprache, wenn sie dem Tun und Leiden des Sprechenden sinnfälligen Ausdruck verleiht.
Die grammatische Form der dichterischen Sprache ist zugleich die logische Form dessen, was die Romantiker „Transzendentalpoesie“ nannten. Denn sie färbt die gewöhnlichen Bedeutungen der sprachlichen Ausdrücke mit außeralltäglichen Nuancen und Schattierungen; duftende Blüten werden zu Narden der Erinnerung, bemooste Schwellen zu Passagen des Traums, das schlichte Brot zum nährenden Wort.
Der Landvermesser telefoniert mit einem mediokren Angestellten im Schloß; doch aus dem Apparat ertönen sirenenhaft-unheimliche Stimmen.
Das Gedicht Mallarmés verbirgt sich hinter einem seltsam bemalten Fächer, doch manchmal glimmen Augen daraus hervor, fragend, stumm.
Sie waren sich für wenige Stunden bei einem gemeinsamen Freund begegnet. In einsamen dichterischen Briefen wurden sie beredt und öffneten sich, einander zugewandt wie glänzende Wunden; dann verabredeten sie sich, wanderten um den See, und hatten sich nichts zu sagen.
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