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Logische Schneisen XVII

16.02.2014

Wenn du dich verrechnest, laufen die elektrochemischen Signalübertragungen in deinem Gehirn ungestört weiter. Der Rechenfehler ist kein Effekt eines letztlich physikalischen Versagens – sondern die Folge des Versagens deiner kognitiven Bemühungen.  Daraus folgern wir, dass auch und gerade dann, wenn du richtig gerechnet oder allgemeiner klar und wahr gedacht hast, das korrekte Rechenergebnis und die Wahrheit des Satzes, mit dem du deinen richtigen Gedanken ausdrückst, nicht das Ergebnis elektrochemischer oder letztlich physikalischer Prozesse im Neurocortex sein können.

Die kognitive Leistung, die sich nicht mittels Angabe oder Modellierung durch physikalische Größen darstellen lässt, ist dem Maßstab vergleichbar, den wir definieren und konstruieren, um etwas zu messen. Das Urmeter zu Paris ist insofern kein physikalischer Gegenstand und schon gar kein natürlicher Gegenstand, der seine Entstehung kausalen Prozessen in einer physikalisch-kausal geschlossenen Welt der Natur verdankt – sondern das Ergebnis eines Festsetzung oder Kodifizierung. Das logische Gewicht der Sätze, mit denen wir etwas behaupten, rührt von ihrer logischen Form, mittels deren wir beispielsweise unsere Erfahrungen messen, wenn wir sagen: Die Aussage, dass dieser Gegenstand rot ist, ist wahr – weil er weder blau noch grün noch gelb ist. Dem Urmeter der Längenmessung entspricht in diesem Falle der Farbraum oder der logische Raum unserer Farbfestsetzungen.

Du musst das Metermaß an den zu messenden Gegenstand anlegen, um ihn exakt vermessen zu können. Du musst die Farbskala mit der Reihe der von uns festgesetzten Farben mit ihren konventionellen oder technischen Bezeichnungen an den zu bestimmenden Farbfleck gleichsam anlegen, um seinen Farbwert zu bestimmen und die korrekte Farbbestimmung in einem wahren Satz darzustellen.

In welchem Sinne können wir fehlgehen und uns bei der Farbbestimmung vertun? Hier können zufällige Beeinträchtigungen in der Umgebung wie schlechte Lichtverhältnisse oder verfälschende Lichtquellen oder das Versagen des Augenlichts eine Rolle spielen – dann kommen wir nicht zu richtigen Ergebnissen, wie bei gutem Tageslicht und optimalem Sehvermögen, und sagen etwas Falsches. Wir können aber auch in einem stärkeren Sinn fehlgehen, wenn wir ein hierzulande nicht oder nicht mehr gängiges Farbregister als Bezugsgröße benutzen, zum Beispiel eines mit der Grundfarbe Blaugrün statt Grün oder Blau. Dann kommen wir zu seltsamen Farbbestimmungen, die nicht falsch, sondern hierzulande nicht üblich und deshalb für die hiesig vorwaltenden Zwecke irrelevant sind.

Wenn aufgrund der Einwirkung einer geheimnisvollen Kraft morgen das Urmeter und all unsere Metermaße (sagen wir gleich all unsere auf physikalischen Voraussetzungen beruhenden Maßsysteme) willkürlich gelängt oder gekürzt, kurz modifiziert worden wären, ließe uns das kalt, denn dann wären auch die zu vermessenden Gegenstände im selben Verhältnis gelängt oder gekürzt, kurz modifiziert worden, und somit blieben unsere Messergebnisse gleich.

Dasselbe gilt cum grano salis auch für die maßgebende oder normative Funktion unseres Farbregisters: Würde morgen aufgrund der Wirkung einer geheimnisvollen Kraft der Frequenzbereich für die Farbe Rot aus dem Lichtspektrum getilgt, würden wir mit unserem bewährten Farbregister unverzagt weiterarbeiten: Der Farbwert „Rot“ wäre ja aus der Skala gelöscht – und mit dem Rest machen wir auf bewährte Art weiter, ohne in den Belangen unserer alltäglichen Wahrnehmung das Geringste zu merken.

Uns genügt eine wesentliche Voraussetzung: Für die Zeit des Messens müssen das System unserer Erfahrung stabil und unser Maßstab starr und verhältnismäßig invariabel sein. Ebenso muss unser Farbregister klar abgestuft und über fließende Grenzen hinweg eindeutig bestimmbar sein: Es muss also mindestens zwei identifizierbare und feststehende Farbegriffe geben, wenn wir überhaupt von Farbbestimmung sprechen wollen.

Wenn du dich beim Messen vertust und einen falschen Wert bestimmst, können wir dich korrigieren.  Dein Gehirn, das im Hintergrund auf seine altbewährte physische (und öfters Kopfweh verursachende) Weise damit beschäftigt war, deine Rechen- und Mess-Handlung zu unterfüttern, können wir nicht kritisieren oder tadeln. Du selbst bist als autonom agierende Person die Instanz, an die wir appellieren: Wenn du als Bauingenieur den Zweck und das aufgrund der Baupläne wohldefinierte Ziel der exakten Messung des Umfangs der tragenden Säule durch Unachtsamkeit verfehlst, wirst du zur Verantwortung und Rechenschaft gezogen, falls die Decke einstürzt. Du kannst dich nicht auf irgendwelche neuronalen Vorgänge in deinem Gehirn während deiner mangelhaften Rechenleistung berufen, um dich unbeschadet aus der Sache herauszuwinden.

Obwohl du den Zweck der Berechnung, die Statik des Gebäudes exakt zu bestimmen, verfehlt hast, willst du dich dadurch deiner Verantwortung entziehen, dass du auf überzeugende Weise den Nachweis erbringst und diesen Nachweis beispielsweise vor Gericht als Beweisgrund anführst, deine Rechenmaschine, der Computer, habe versagt, nicht aber du selbst: Du habest ihn mit den richtigen Daten für die richtig ausgewählten Formeln gefüttert, er habe aber den falschen Output ausgegeben. Ob dir das mildernde Umstände einbringt, wenn durch den von dir verschuldeten Einsturz Menschen verletzt oder gar getötet worden sind? Wohl kaum. Denn du bist nicht nur für die korrekte Ausführung deiner Berechnungen verantwortlich, sondern auch dafür, dass die Mittel, mit denen du die exakten Ergebnisse erhältst, gewartet sind und ordnungsgemäß funktionieren.

Wir haben die uralten Maßstäbe wie Fuß und Elle durch die genauere, gleichsam transkulturelle oder universelle Normierung des Meters ersetzt, weil diese besser zu unserem Zweck passt, zu exakteren und bestimmteren Messergebnissen zu gelangen. Denn wir bauen keine Zelte mehr, sondern Hochhäuser, treten keine Pfade mehr aus, sondern bauen Autobahnen. Wir können im Nachhinein angeben, wie viele Meter oder Zentimeter im Durchschnitt etwa ein Fuß oder eine Elle misst. Wir können nicht umgekehrt das Meter exakt mit dem alten Maß der Elle darstellen.

Unser elementares Wissen, wie zu messen und zu rechnen sei, war lange schon vorhanden und als Voraussetzung für das Unterfangen genügend entwickelt, technische Hilfsmittel und Methoden zur Beschleunigung und Präzisierung vom Metermaß über den Taschenrechner bis zum Super-Computer zu erfinden und erfolgreich anzuwenden.

Wir sagen: Mit dem ersten Wort ist gleichsam der ganze logische Raum des Denkens und Rechnens wie in einer Nussschale gegeben. Er musste sich gewiss auf ungeheuer verschlungenen Wegen – den Wegen der kulturellen Steigerung – entfalten. Entfaltung oder Explikation – nicht Evolution oder Emergenz im biologischen und physikalischen Sinne.

Das Gehirn ist kein Teil des Denkens, sondern organischer Teil der Person, die denkt. Die neuronalen Vorgänge der Energiewandlung über elektrochemische Prozesse im Gehirn gehorchen den physikalischen Gesetzen wie dem Erhaltungssatz, aber bilden nicht die logischen Beziehungen der Implikation und Folgerung ab, die unserem alltäglichen Tun zugrundeliegen, wenn wir den Kassenbeleg im Supermarkt kontrollieren oder unsere Bankauszüge checken.

Warum sind Messen und Rechnen, kurz Denken, keine natürlichen Vorgänge und nicht das Ergebnis biologischer Evolution? Weil die Festlegung der Maßstäbe und die normativen Regeln, die unseren Handlungen des Messens und Rechnens zugrundeliegen, keine natürlichen Tatsachen sind.

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