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Stimme und Zeichen

11.04.2024

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Wir vernehmen sein Stöhnen und verstehen, der Freund hat Schmerzen. – Aber wir können nur verstehen, daß er gestern unter Schmerzen gelitten hat, wenn er es sagt.

Daß er gestern Schmerzen hatte, kann er nicht stöhnen, geschweige denn, daß er befürchtet, morgen wieder unter Schmerzen zu leiden.

Wir können das Sema (das sprachliche Zeichen) nicht aus dem Soma (dem unartikulierten Anzeichen) ableiten.

Wir können die Semantik nicht physiologisch begründen.

Wir wissen wohl, die Sprache heißt darum natürlich, weil die Fähigkeit der Rede im Wachstum des Gehirns und der Sprechorgane angelegt ist; doch ist sprechen keine unmittelbare Übersetzung neuronaler Muster und Ereignisse in Lautgebilden. Wäre dem so, könnten wir Zeichen von Anzeichen nicht unterscheiden; könnten wir keine Behauptungen über konkrete und abstrakte Phänomene, Weltereignisse oder mathematische Gleichungen aufstellen oder ihre Wahrheit bestreiten; denn ob etwas wahr oder nicht wahr, etwas real oder fiktiv ist, diesen Unterschied würden wir nicht begreifen.

Die Sprache als Kundgabe von bedeutsamen Zeichen ist kein Phänomen der biologischen oder neurophysiologischen Evolution.

Wir hören den Vogel singen; doch gäbe es uns nicht, sänge er nicht.

Gesang ist eine Kategorie, die auf den Klassifikationen menschlicher Sprache beruht. – Gesang der Vögel ist keine ornithologische Kategorie, sondern eine Metapher der Wissenschaftssprache.

Auch wenn die menschliche Stimme über ein hochdifferenziertes Repertoire zum lautlichen Ausdruck von Empfindungen und Gefühlen verfügt, würden wir allein aufgrund dieser noch so nuancierten Verlautbarungen nicht von einer zeichenhaft artikulierten Sprache reden.

Die Aufzeichnung sprachlicher Zeichen ist keine Visualisierung oder Projektion neuronaler Muster und Erregungskurven.

Wir können mittels unartikulierter Laute oder rein mimisch und gestisch nicht mitteilen, daß wir KEINE Schmerzen haben.

Das beredte Schweigen, Christus vor Pilatus.

Verstünde sie unsere Sprache, könnte die Nachtigall dennoch nicht verstehen, wenn wir ihr kundtun, daß wir ihre stimmlichen Verlautbarungen ein Singen nennen.

Wir beobachten, wie einer ziellos daherschlendert (er schaut in die Auslagen der Schaufenster, hält ein Schwätzchen mit einem zufällig getroffenen Bekannten) und ein anderer geradewegs auf sein Ziel losgeht (ein Bote bringt ein Paket zu einer Apotheke ). Aber wir können mittels Beobachtung seines gegenwärtigen Verhaltens nur sehr selten feststellen oder begründet vermuten, was einer in der nächsten Woche zu tun beabsichtigt (er will seinen alten Freund besuchen; er will eine Atlantiküberquerung mitmachen und holt den alten Überseekoffer vom Dachboden).

Die kulturanthropologische Bedeutsamkeit, die aus dem Unterschied von männlicher und weiblicher Stimme hervortritt, ist in Zeiten wie diesen ein Anathema.

Die beruhigende, einwiegende, einlullende Stimme der Mutter. – Der metallisch-peitschende Befehlston auf dem Exerzierplatz.

Der Augur, der im Vogelgeschrei das göttliche Fatum vernimmt.

Der Dichter, der im Rauschen des Quells die Stimme der Muse erlauscht.

Rilke vernahm im Heulen des Sturms über dem adriatischen Meer bei Duino die Stimme des Engels; aber sie war kein unartikuliertes Heulen, sondern diktierte ihm den Anfang der ersten Duineser Elegie.

Der paranoide Psychotiker wittert in der harmlosen Bemerkung des Nachbarn eine Drohung. – Der Kranke transponiert die Äußerung in einen fremden Kontext, den wir nur aus der genauen Beobachtung seines Gebarens und anhand der Variation der Kontexte seiner Äußerungen ermitteln können.

Die Präsenz der Stimme gibt uns den unmittelbaren raumzeitlichen Kontext, der die sprachlichen Zeichen trägt. – „Herein!“ bedeutet, der Anklopfende möge die Tür öffnen, um denjenigen an Ort und Stelle vorzufinden dessen Stimme er vernommen hat.

„Herein!“ bedeutet: „Ich bitte Sie, einzutreten.“ – Sprechen heißt, den gegenwärtigen Kontext durch den virtuellen Mittelpunkt zu fixieren, der durch das Pronomen der ersten Person gefüllt werden kann.

Der Hörer hört meine Stimme, ich die seine, aber ich höre auch meine eigene Stimme; doch nicht so, wie mein Gesprächspartner sie hört, sondern im Resonanzraum meiner Lungen, meiner Brust, meines Schädels. Deshalb kommt uns die Aufzeichnung der eigenen Stimme, wie auch das Bild des eigenen Körpers, fremd vor.

Der Doppelgänger taucht als sichtbares gespenstisches Phänomen auf; seltener ist das psychotische Vernehmen der halluzinierten eigenen Stimme, meist durchkreuzt von höhnisch widersprechenden fremden Stimmen.

Der Charakter und die ästhetische Eigentümlichkeit der individuellen Stimme, ihr Charme oder ihre Schrillheit und Brüchigkeit, gehören, wie der individuelle Charakter der eigenen Person überhaupt, zu den Fatalitäten, die uns Türen öffnen oder verschließen.

Die gleichsam transzendentale Illusion der Selbstvertrautheit im Vernehmen der spontan erzeugten Laute ermessen wir am somnambulen Lallen des Kinds.

Das Schicksal und die Welt des Mannes sind allein schon aufgrund des Stimmbruchs des Knaben sehr verschieden vom Lebensschicksal der Frau.

Das Charisma der Stimme im Gesang, ihre Dämonie in Agitation und Propaganda.

Die christliche Utopie, daß sich die Erlösten in die Chöre der Engel einreihen dürfen.

Dichtung bleibt solange dem Charisma der gehobenen und erhabenen Stimme verpflichtet, als sie in ihren künstlerischen Mitteln wie Alliteration, Assonanz, Reim und Rhythmus vom Lied sich nicht gänzlich verabschiedet.

Seraphische Kantilene und diabolisch zerrüttetes Krächzen.

Die sich schrill überschlagende Stimme der an ihrer Mutterschaft verzweifelten Hysterikerin.

Wir kennen fruchtbare Ansätze einer Physiognomie des Gesichts, der Hand, der Schrift, doch eine Phonognomie, eine Lehre über den Zusammenhang von Stimme und Stimmung, Laut und Affekt, Stimmklang und Charakter zählt zu den Desiderata der Forschung.

Der ontologische und logische Abgrund zwischen dem unartikulierten Schrei und der Artikulation des Pronomens der ersten Person kann nicht durch rein naturkundliche Erklärungen überbrückt werden.

Den ontologischen Unterschied kennzeichnen wir mittels der Begriffe Organismus und Person, den logischen mittels der Begriffe Unbezüglichkeit (semantisch leere Menge) und Bezug (Referenz).

Das Stöhnen ist die unwillkürliche Reaktion eines lebenden Organismus auf eine Schmerzempfindung; die Äußerung „ich“ ist die Antwort einer Person auf die Frage des Lehrers, wer morgen ein Referat halten wird. – Stöhnen meint nichts und niemanden, „ich“ bezieht sich auf denjenigen, der es sagt.

Sehe ich, daß der Vordermann den rechten Blinker gesetzt hat, gehe ich mit gutem Grund davon aus, daß er die Absicht hat, demnächst rechts abzubiegen. – Wir sagen, das von ihm gesetzte Zeichen hat intentionalen Charakter. – Hat der Fahrer den Blinker aus Versehen gesetzt, ist meine Annahme eo ipso unbegründet.

Das Zeichen wird korrekt gelesen, wenn seine Intention oder die Absicht dessen, der es kundtut, verstanden worden ist.

Die unwillkürlich hervorgestoßenen Flüche eines Menschen, der unter dem Tourette-Syndrom leidet, überhöre ich geflissentlich.

Der Kontext deskriptiver Äußerungen ist variabel: „Hier ist der Titusbogen“, sagt der Fremdenführer, wenn wir unmittelbar davorstehen. „Dort ist der Titusbogen“, wenn ihn einer in einiger Entfernung danach fragt. „Der Titusbogen befindet sich in Rom“, sage ich mir, nach Hause zurückgekehrt.

„Der römische Titusbogen“ ist ein deskriptiver Ausdruck, der folgendes bedeutet: Es gibt etwas, das wir Titusbogen nennen, und diesen hat Kaiser Titus errichten lassen und er befindet sich in Rom.

Durch Einsetzen deskriptiver Ausdrücke in performative Äußerungen gelangen wir zu kontextunabhängigen Aussagen. Statt „Sieh doch, jetzt beginnt sich die Sonne zu verfinstern“ heißt es „Am 9.4.2024 war im Gebiet von Massachusetts eine totale Sonnenfinsternis zu beobachten.“

In der U-Bahn vernehmen wir die automatische Stimme vom Band „Nächster Halt: Hauptbahnhof“; wir unterstellen nicht dem Automaten die Absicht, uns über diese Sachlage zu informieren, sondern denjenigen, die ihn eingerichtet haben.

Es mutet wie ein spezifisches Hörvermögen an, aus der chaotischen Fülle der Geräusche die allein bedeutungstragenden Laute oder Phoneme herauszufiltern. – Aber ist es ein spezifisches Sehvermögen, die rote Ampel als Hinweis zu verstehen, den Wagen anzuhalten, oder das Hinweisschild „Halt“ als Aufforderung, den Weg nicht fortzusetzen?

Nennen wir den Rauch ein Anzeichen für Feuer, 40 Grad auf dem Fiebermesser ein Anzeichen für Fieber, jähe Rötung der Gesichtshaut ein Anzeichen für (schamhafte) Erregung, bemerken wir, daß die Gründe, die diese Phänomene zu Anzeichen machen, externe Ursachen darstellen: das Feuer, die grippale Infektion und der affektive und neuronale Impuls. – Dagegen sind die Gründe, die wir geltend machen, um bestimmte Laute oder Lautreihen als bedeutsame Zeichen oder Zeichenketten aufzufassen, keine externen Ursachen, sondern interne Gegebenheiten, wie die Absicht des Sprechers und die semantischen Möglichkeiten und syntaktischen Strukturen der jeweiligen Sprache.

Wir benutzen zwei Kriterien, um sprachliche Zeichen von bloßen Anzeichen oder Symptomen zu unterscheiden: die Möglichkeit zur Korrektur und die Möglichkeit der Verneinung.

Die erhöhte Körpertemperatur kann auf einer bakteriellen oder einer Virusinfektion beruhen; die Analyse von Speichel oder Blut kann uns darüber ins Bild setzen. Doch die Fiebermessung mittels eines geeichten Thermometers kann weder in dem einen noch dem anderen Krankheitsfall „irren“. – Dagegen ist es möglich, daß die Äußerung „Ich habe Schmerzen“ einer Wahrheitsprüfung nicht standhält, auch wenn sie in beiden Fällen, der Äußerung des Kranken und derjenigen des Simulanten, grammatisch wohlgeformt daherkommt.

Wir nehmen nicht an, daß es, wie gewisse Philosophen (Platon, Aristoteles, Kant, der frühe Wittgenstein) glaubten, eine allgemeingültige kategoriale Form der Verwendung sprachlicher Zeichen gibt. – Wir müssen nicht ein substantielles, phänomenales oder fiktionales Etwas unterstellen (hypostasieren), an das wir alle möglichen Prädikate anheften. Sätze wie „Es regnet“ oder „Die Sprache spricht“ zeigen, daß es auch ohne solche semantischen Musterkataloge geht.

Daß jemand kein Fieber hat, heißt nicht, daß er nicht krank ist. Dagegen weist uns die Möglichkeit der Verneinung oder Falsifikation des Satzes „Ich habe Schmerzen“ auf die Tatsache hin, daß es sich um eine gültige Verwendung sprachlicher Zeichen handelt.

Wenn die Astronauten auf der Gegen-Erde landen und auf uns ähnliche Bewohner stoßen, die sich ähnlicher Laute zur Verständigung bedienen, wie wir es tun, könnten wir daraus nicht folgern, daß es sich dabei um eine Sprache handelt, wie eine jener, die wir auf der Erde sprechen. Es könnte auch die verbale Übersetzung neuronaler Muster sein, die wir nur mit dem Gesang der Vögel oder den Interjektionen des Schmerzempfindens vergleichen könnten. – Wie sähe der semantische Turing-Test in diesem Falle aus? Er müßte zumindest zeigen, daß die Äußerungen der Exo-Planetarier nicht korrigierbar und nicht verneinbar sind wie die Aussagen unserer Sprache, denn es wären keine semantisch bedeutsamen Aussagen, sondern Anzeichen oder Symptome neuronaler Ereignisse.

Die Möglichkeit der Verneinung von Zeichenketten ist ein wesentlicher Ursprung ihrer logischen Verknüpfung mittels Wahrheitsfunktionen; denn wir lassen auf der elementaren oder trivialen Ebene die Konsistenz der behaupteten und der zugleich verneinten Aussage nicht zu.

Doch finden wir keine metaphysisch-moralische Verpflichtung zur logischen Konsistenz; wir könnten als allgemeinen Bezug all unserer Zeichen und Zeichenverknüpfungen auch den semantischen Nullpunkt postulieren, der zen-buddhistischen Leere nicht unähnlich, in der, was wir äußern, unmittelbar aufgehoben ist und verschwindet.

Wir enden, wo wir begannen, mit dem referenzlosen Schrei, nur ist dieser Schrei – stumm.

 

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