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Bejahende und verneinende Gesten

13.03.2023

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Wir können nicht alles offen und in der Schwebe halten; irgendwann müssen wir uns entscheiden, ja oder nein sagen.

Wir mögen das Zugesagte zurücknehmen, doch dann bleibt ein Hautgout der Zweideutigkeit an uns haften.

Im Vagen und im Zweifel können wir auf Dauer keine Bleibe finden.

Auch wenn wir zugestehen, daß viele sprachliche Ausdrücke, wie Wittgenstein sah, keinen festen Bedeutungskern haben, wird kein zwischen den Grenzen des Sinns nomadisierender Philosoph der Postmoderne uns darin wankend machen, daß Ja das Gegenteil von Nein und Nein das Gegenteil von Ja, die ausgestreckte Hand des Freundes das Gegenteil der gezückten Waffe des Feindes bedeutet.

Wir müssen denjenigen, der uns verspricht, das geliehene Buch zum ausgemachten Termin wieder auszuhändigen, beim Wort nehmen können.

Der Treulose und Wortbrüchige kann sich nicht darauf hinausreden, wir lebten in einer Art
Traumwirklichkeit, in der jeder Sinn seinen Gegensinn impliziere. – Denn wenn Ja Nein impliziert, müssen wir für immer schweigen.

Aussagen, die wir nicht begründen können, müssen wir nicht notwendig in Zweifel ziehen oder skeptisch in der Schwebe halten. – Aussagen über sinnliche Empfindungen und Wahrnehmungen, Erinnerungen, Befürchtungen, Hoffnungen und Erwartungen bedürfen keiner Begründung oder rationalen Rechtfertigung: „Mir ist kalt.“ – „Ich habe Zahnweh.“ – „Ich habe von dir geträumt.“ – „Ich habe mich an unseren letzten Spaziergang erinnert.“ – „Ich fürchte mich vor der Dunkelheit.“ – „Ich befürchte, die Aufgabe wird mich überfordern.“ – „Ich hoffe, die Aufgabe wird mich nicht überfordern.“ – „Ich erwarte nicht, daß er diesmal pünktlich kommen wird.“

Dagegen begründen wir Aussagen über physikalische Zustände und Ereignisse, mathematische Strukturen sowie (historische) Handlungen durch die Angabe von Gesetzen, Regeln und Motiven. – „Schnee und Nebel bestehen aus Wasser, denn beides ist H2O“ –
„2 x 4 = 4 x 2“, denn 2 x (2 x 2) = (2 x2) x 2. – „Im Jahre 49 v. Chr. überschritt Cäsar den Rubikon, um die Macht des römischen Senats in die Schranken zu weisen.“

Die Gesetze, Regeln und psychologischen Annahmen, mittels derer wir Aussagen begründen, können wir ihrerseits begründen; doch nur bis zu einer internen Grenze des Denk- und Sagbaren.

Wir können nicht tiefer begründen, weshalb unter der Voraussetzung der Atomtheorie die chemische Analyse von Wasser die Formel H2O ergibt; wir können nicht tiefer begründen, weshalb unter der Voraussetzung der Zahlentheorie 2 x 4 = 4 x 2; wir können nicht tiefer begründen, weshalb Cäsar unter den gegebenen historischen Konstellationen wollte, was er wollte.

In einer mythischen Welt erklären wir physikalische Ereignisse und physiologische Veränderungen als Folgen absichtsvoller Handlungen göttlicher Wesen. – „Zeus schleudert Blitze auf die aufständischen Titanen.“ – „Apollon schießt vergiftete Pfeile auf die Achaier, um sie durch die Ausbreitung der Pest für ihren Ungehorsam zu bestrafen.“

Im Unterschied zu rationalen Erklärungen lassen mythische Annahmen keine weiteren Begründungen zu.

Das gegebene Ja-Wort, mag es dem Bräutigam auch zögernd über die Lippen kommen, bindet. Das Ja-Wort vertritt eine Aussage, nämlich die Verpflichtung zur Einhaltung der Bestimmungen des Ehekontrakts. – Die Scheidung verneint das gegebene Wort, aber macht aus dem Geschiedenen nicht wieder einen Junggesellen, sondern einen ehemals verheirateten Mann.

Wir können die Unterschrift unter einem Dokument als Ja-Wort betrachten.

Wir können die Gewißheit einer der Begründung nicht bedürftigen Aussage wie „Ich habe Schmerzen“ und die Authentizität eines gegebenen Ja-Worts wie einer Unterschrift nur in Zweifel ziehen, wenn wir dem Sprecher oder Schreiber unlautere Absichten unterstellen oder geistige Unzurechnungsfähigkeit attestieren.

Die verneinende, abweisende, verwerfende Geste bildet gleisnerisch und verräterisch das Verneinte, Abgewiesene, Verworfene ab, ähnlich dem Schatten, der den Umriß der Gestalt verrät.

Das Nein des Verzichts bildet eine Narbe, eine Kruste über dem Begehrten.

Horaz ist ein Meister der verneinenden Gebärde, in der das Verneinte in seiner durchaus verführerischen Pracht anwesend ist, aber auch der bejahenden, die durch Schlichtheit oder Nonchalance besticht:

Persicos odi, puer, apparatus,
displicent nexae philyra coronae,
mitte sectari, rosa quo locorum
sera moretur.

Simplici myrto nihil adlabores
sedulus, curo: neque te ministrum
dedecet myrtus neque me sub arta
vite bibentem.

Mich stößt ab Perserprotz und zuwider, Sklave,
sind die Kränze mir, die mit Bast verzwirnten.
Such nicht mehr, wo unter Schatten späte
Rosen noch glühen.

Lass die Myrte schlicht, das Gekünstel trübt den
Eindruck. So du dann mir die Schale spendest
und ich leere sie unter Weinlaubs Dämmer,
schmückt uns die Myrte.

Carmen 1, 28

Der allzu selbstherrliche Prunk und die überschwengliche Rhetorik des Zierrats und der Ranken an Bauten, Kleidern und Gedichten mögen der Bejahung des Daseins dienen, doch wirken sie hohl, wenn seine Quellen getrübt oder schon erloschen sind. – Die von Wittgenstein mitentworfene Villa für seine Schwester Margarete, die durch ihre allen ornamentalen Schmucks beraubte Ästhetik und die kahle Mystik ihrer Verschwiegenheit für sich einnimmt.

Der Asket, der sich in die Dämmerung einsamer Höhlen oder hinter die Mauern des Schweigens zurückzieht, scheint des Buhlens um menschliche Aufmerksamkeit entsagt zu haben, hofft aber auf gütige, und wenn nicht gütige, zumindest strenge Blicke aus höheren Sphären.

Die den funkelnden Spiegel zerschlagen, hoffen noch auf ein fernes Licht aus dem Dunkel.

Biegen wir ab, können wir die andere Seite nur nach einem langen Umweg erreichen.

Der asketische Bilderstürmer reißt die Wand mit den üppigen Fresken der Wollust nieder; das Gebäude stürzt ein, die Trümmer begraben ihn unter sich; es war eine tragende Wand.

Des rhetorischen Zierrats überdrüssig neigte er zu lapidaren Sätzen. – Doch auch Gnomen sind eine rhetorische Figur.

Man muß ausgeatmet haben, um wieder einzuatmen.

Man muß die Tafel reinigen, um neue Zeichen darauf zu schreiben; man muß die Ruine beseitigen, um neu zu bauen.

Man muß die Quelle der Selbsttäuschung trockenlegen, um die nährende zu finden.

Der asketische Atemkünstler ist eine radikalisierte Abwandlung des Kafkaschen Hungerkünstlers.

Man muß das Erlebte verdaut und das Verdaute ausgeschieden haben, um wieder frische Lebenskost zu sich nehmen zu können.

Seufzer, Flüche, Träume oder Witze sind unsere Weisen, das verdaute Erleben auszuscheiden.

Die Polarität von Licht und Dunkel, Leben und Tod, Mann und Frau ist, wie Goethe sah, die Weisheit der Natur, tiefer zu sehen, inniger zu fühlen, Dauer im Wandel zu haben.

Die Größe und Ruhe des weiblichen Eis werden von der Kleinheit und Beweglichkeit des männlichen Spermas supplementiert. – Die Winzigkeit und nervöse Unruhe des männlichen Spermas werden von der stoischen Ruhe und Gelassenheit des weiblichen Eis ironisiert.

Keine Gestalt ohne das Amorphe, dem sie entspringt, den Schatten, den sie wirft, das Gestaltlose, in das sie zurückkehrt.

Den Fortschritt der Beschleunigung bezahlen wir mit der zunehmenden Trägheit der Empfindung. – Den Halm gewahrt der Wanderer, die Wiese der Radfahrer, den Schatten der Landschaft der Autofahrer.

Achill bezahlt den Ruhm mit einem frühen Tod.

Wir bezahlen Wohlleben und Lebensverlängerung mit Abstumpfung und Langeweile.

Den weltanschaulichen Phantasten, die hysterische Mänade oder einen, der unter Panikattacken und Weltuntergangsängsten leidet, wollen wir nicht im Cockpit, nicht am Steuerruder des Staates dulden.

Der leptosome Schlacks wird kein Weltmeister im Kugelstoßen. – Doch der schüchterne Stotterer entpuppt sich als genialer Epiker.

Nur selten taugen Dichter zu Ministern. – Unter amtlichen Verlautbarungen knickt jeder Versfuß ein.

Gedichte, die am Phantomschmerz amputierter Versfüße leiden.

Das dialektische Gespräch zwischen Sympathikus und Parasympathikus, Lunge und Herz, Gehirn und Geschlechtsteil amüsiert, wenn wir schlafen, die Engel und die Dämonen des Traums.

Ein Lächeln zu sehen ist nicht die (richtige oder falsche) Deutung von Gesichtszügen. – Waren die Gesichtszüge, bevor du sie als Lächeln deutetest, ein nichtssagendes Kräuseln der Hautoberfläche?

Eine Frage zu verstehen ist nicht die (richtige oder falsche) Deutung einer Reihe von Lauten. – Waren die Laute, bevor du sie als Frage deutetest, nichtssagende Schwingungen der Luft?

„Warte hier eine Weile!“ – Wir bedürfen weder eines präzisen räumlichen noch zeitlichen Maßstabs, um das Gemeinte mitzuteilen oder zu verstehen. – Doch die geschuldete Summe wollen wir auf Heller und Pfennig auf die Hand gezählt bekommen.

Je tiefer die Sonne, umso länger die Schatten. – Erst Livius, dann Tacitus; erst Lukrez, dann Seneca.

Die Erinnerung ist nicht das Bild des Erinnerten. Wie könnten wir ihre Ähnlichkeit ermessen?

Der Name ist nicht der Schatten des Benannten. – Der Schatten sank ins Grab, der Name leuchtet im Gedächtnis.

Nur wer des Mißtrauens fähig ist, kann vertrauen. – Wer im Mißtrauen verharrt, bleibt allein, auch wenn er vorgibt oder wähnt, dieser und jener sei sein Freund. – Wer allzu vertrauensselig ist, wird von Schmeichlern und falschen Freunden übers Ohr gehauen.

„Die Sonne sinkt, die Schatten wachsen.“ – Die glitzernden Wogen unter der Sonne Homers, die Schattenspiele des reifen Horaz.

„Seine Seele hat sich verfinstert.“ – Umso bezaubernder der Glanz seines Lächelns.

Wir nehmen die Metaphern und Bilder zur Beschreibung seelischer Zustände aus der physischen Welt. Wir fühlen uns bedrückt oder gehoben, nehmen etwas schwer oder leicht. „Ein Stein fiel ihm vom Herzen.“

Es wäre töricht, jemanden zu fragen, wie schwer denn der Stein war, der ihm vom Herzen fiel.

„Er sah keinen Ausweg mehr.“ – „Die Landschaft hat sich wieder offen vor ihm ausgebreitet.“ – Die sind keine topographischen Beschreibungen.

Psychologie oder unser Verstehen seelischer Zustände und Vorgänge ist keine exakte Wissenschaft, die aus klaren Prämissen eindeutige Schlüsse zieht.

Wenn einer lächelt, folgt daraus nicht, daß er fröhlich, heiter oder glücklich ist. Wir sehen genauer hin und bemerken: Es gibt ein kaltes und ironisches Lächeln, die Maske eines konventionellen Lächelns oder ein Lächeln als Ausdruck von Unbehagen und Verlegenheit.

Wir bedürfen mehr als der Wahrnehmung eines Gesichtsausdrucks, einer Geste, einer Verlautbarung, um psychologisch ins Reine zu kommen; beispielsweise der Beschreibung der sozialen Situation.

Er lächelt, obwohl er sich unbehaglich und verlegen fühlt; er schweigt, obwohl er gefragt wurde und es auf sein Wort ankommt; er sieht keinen Ausweg, obwohl die Tür nur angelehnt ist.

Das Klagelied ist ein Supplement und Sublimat der Wehrufe und Seufzer der Totenklage.

Die Liebeselegie ist ein Supplement und Sublimat der Wehrufe und Seufzer über den Verlust der Geliebten.

Wehrufe sind keine Beschreibung dessen, was sie hervorruft; Klagelieder und Elegien keine Beschreibung des Totenschattens oder des Schattens der Geliebten, sondern die Beschwörung des Lebens des Verstorbenen und der Nähe der Geliebten.

Die Hügel werden von den Wassern des Himmels allmählich abgetragen, die Städte und Kulturen, die er nährte, reißt der Strom ins Vergessen, die Großsprecher werden kleinlaut am End.

Wir können das Mißbehagen, die Verluste, die Monstrositäten des Lebens nicht, wie Schopenhauer meinte, eindeutig unter das Saldo der Lebensbilanz eintragen. Die Enttäuschungen der erotischen Liebe wiesen Proust den Weg zur Erkenntnis des bleibenden Wertes der Kunst; den Frauen, die das Grab leer fanden, verkündete der Engel die Auferstehung; das Ungeheuer der Sphinx zerfiel vor dem Wort des Ödipus zu Staub.

 

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