Begriffliche Klärungen III – die Fledermaus
Philosophische Sentenzen und Aphorismen
Wir können mittels empirischer Daten nur vergangene Sachverhalte bestätigen; Voraussagen dagegen sind Wechsel auf die Zukunft, die durch die eingetretenen Sachverhalte entweder gegen bare Münze eingetauscht oder durch nicht oder anders eingetretene Sachverhalte zur Makulatur entwertet werden.
„Ich werde kommen“ ist keine Voraussage eines zukünftigen Verhaltens, sondern eine Zusage oder Absichtserklärung, deren Einlösung lobenswert, deren Verabsäumung tadelnswert ist; dagegen ist das Eintreffen oder Nichteintreffen eines vorausgesagten Ereignisses weder lobenswert noch tadelnswert, mag es auch bejubelt oder beklagt werden.
Der Fanatiker ist eine emblematische Figur krisenhafter Übergangszeitent, er kann vom äußersten Rand bis in die mediale und politische Mitte vordringen, wie es Mussolini, Hitler, Lenin und Mao taten.
Der Fanatismus ist in dem Maße beängstigend und bedrohlich, wie er Ausdruck extremer Angst und des Gefühls der äußersten Bedrohung ist. Das destruktive Moment korrespondiert dem paranoiden.
Der Skeptiker scheint, wie es der selbst vom Fanatiker zum Skeptiker geläuterte Cioran bezeugt, gegen Anfälle von Phrenesie und weltanschaulich bedingter Paranoia gefeit zu sein; so wird er, mißtrauisch gegen jedwede Form von Weltuntergangsbeschwörung, den Demonstrationszug der johlenden Weltenretterjugend mit süffisantem Lächeln vom Balkon aus betrachten.
Die sich absoluter Gewißheiten rühmen, geraten leicht ins Zetern, Keifen, Brüllen.
Zuerst verschweigt man peinliche Dinge vor den anderen, schließlich vor sich selbst.
Klänge, die nicht ins eigene Tonsystem passen, erheitern oder befremden; nur wenige locken sie zu neuen musischen Abenteuern.
Zeigen ist auf gestischer Ebene, was Benennen auf verbaler Ebene ist.
Zeigen ist wie Benennen eine absichtsvolle Handlung.
Auf etwas anderes zu zeigen, als uns im Sinne lag, ist ein Versehen; Sache und Begriff zu verwechseln, ein Irrtum.
Die Zeigegeste ist keine motorische Willkürbewegung, die wir nachträglich in der Absicht, etwas zeigend im Umfeld zu diskriminieren, mit Sinn aufladen; die Benennung ist keine willkürliche Lautgebung, die wir nachträglich mit der Bedeutung des Gemeinten aufladen.
Wir können nicht in dem Sinne, in dem wir auf unseren Freund Peter auf der anderen Straßenseite zeigen, auf uns selbst zeigen. Wir können nicht in dem Sinne und auf die Weise, wie wir von Peter sprechen, über uns selbst sprechen.
Die Äußerung „Dort ist Peter“ kann nicht mittels einfacher grammatischer Umformung in die Äußerung „Hier bin ich“ umgewandelt werden.
Die Äußerung „Dort ist Peter“ setzt ein grammatisch-semantisches Koordinatensystem voraus, bei dem die Äußerung „Hier bin ich“ auf den Nullpunkt verweist.
Frage ich Freund Peter auf seinem Weg zum Zahnarzt, ob er Zahnschmerzen habe, antwortet er: „Ja!“ Er mußte dazu keine Form der Introspektion oder Sichtung seiner bewußten Erlebnisinhalte vornehmen. Weiß er so sicher und gewiß um sein Befinden, weil ihm der Schmerz wie man sagt auf den Leib gerückt ist? Doch läßt der Schmerz allmählich nach, wird er dessen nicht weniger deutlich inne.
Wenn ich mich mit Peter zu einem Spaziergang verabrede, teilen wir dieselbe Absicht; unsere Absichten, gemeinsam frische Luft zu schnappen, laufen nicht wie zwei Schatten synchron und parallel neben uns her.
Peter kann freilich mit der Absicht, sich mit mir zu einem Spaziergang zu treffen, die weitere Absicht verfolgen, mich während unserer Plauderei um ein kleines Darlehen zu bitten. Die Absichten sind gleichsam verschweißt, wird die eine durchkreuzt, weil ich ihm das Darlehen verweigere, stößt auch die andere ins Leere.
Peter kann sich nicht über die eigne Absicht verwundern, nur darüber, daß ich ihr ohne große Umstände nachkomme oder sie ohne Angabe von Gründen zurückweise.
Freilich können wir uns über unsere eigenen Befindlichkeiten verwundern, so über eine unerklärliche Heiterkeit oder Gelassenheit trotz einer tristen oder aussichtslosen Lage.
Der Verehrer hegte die Absicht, seine Angebetete durch das kostspielige Geschenk eines Brillantringes zu erfreuen; doch wurde seine Absicht vereitelt, sie reagierte unwillig und wurde ungehalten. Hier liegt seitens des überschwenglichen Verehrers kein Irrtum vor, sondern ein Mangel an Intuition, eine Art Instinktlosigkeit.
Dem Verehrer oder dem Liebhaber liegt im Sinn, daß die Geliebte seine Absicht erkennt und honoriert; er will, daß sie will, was er will. – Etwas hochgestochen können wir von der Dialektik der Liebe sprechen.
Das sexuelle Begehren findet auch in der Anonymität, auch in der Einsamkeit seine Erfüllung, wenn es nicht erwidert wird.
Der übereifrige Verehrer kann seine vorschnelle Handlung bereuen, auch wenn ein Mangel an Intuition, eine gewisse Instinktlosigkeit, sie ihm eingebrockt hat; der Exhibitionist kann sich seiner Entblößung schämen, auch wenn ein perverser Antrieb sie ihm aufgenötigt hat. Der leidenschaftliche Liebhaber kann hoffen, daß ihm die Angebetete seinen überhasteten Vorstoß nachsieht; der Exhibitionist kann daran verzweifeln, daß er seine perversen Antriebe einmal unter seine Kontrolle bringen wird. – Diese Formen des Könnens, Reue und Scham, Hoffnung und Verzweiflung, sind spezifisch human.
Der Hund kann sich darin irren, daß die vor ihm geflüchtete Katze sich noch unter dem Laub des Baumes versteckt. Er kann eines Besseren belehrt werden, wenn sie plötzlich hinter ihm faucht. – Aber der Hund kann nicht einsehen, daß die Annahme, die Katze sitze auf dem Baum, falsch ist, weil sie durch die Tatsache, daß sie hinter ihm faucht, falsifiziert wird: Vielleicht könnte, meint der Hund Baudrillards, die Katze, die so gehässig hinter seinem Rücken faucht, ein Doppelgänger oder ein Simulacrum der Katze sein, die immer noch versteckt im Baum sitzt und ihr Double ausgesandt hat, um ihn zum Narren zu halten.
Der Hund ist aufgebracht, wenn die Katze plötzlich hinter seinem Rücken faucht, aber nicht beschämt, weil er sich an der Nase herumgeführt fühlt.
Das Eichhorn kann sich daran erinnern, wo es die Nüsse versteckt hat; aber es kann sich nicht daran erinnern, daß es sie kurz nach dem Tod seines Geschwisters versteckt hat.
Wir gedenken, wenn wir in der Schublade kramen und auf das Amulett mit ihrem Bildnis stoßen, des Todes unserer Mutter.
Mit der Familie tauchen wir in die Sippe ein, mit der Sippe in die kulturellen Traditionen und Eigenheiten einer sprachlichen, landsmannschaftlichen, bäuerlichen, handwerklichen, urbanen, kultisch-religiösen Gemeinschaft; auf dem Hintergrund dieser ineinandergeschachtelten Herkünfte und Bezüge schreiben wir ein Leben lang an unserer Autobiographie.
Der Pfau spreizt sein prächtiges Rad. Tut er dies in der Absicht, die Henne zu beeindrucken? Und zeigt die Henne seiner Absicht die kalte Schulter, wenn sie weiter gleichmütig vor sich hin pickt?
Der Vordermann blinkt und wir entnehmen dem Signal die Absicht des Fahrers, in die nächste Seitenstraße einzubiegen; freilich kann es sich um ein Versehen handeln, und er fährt weiter.
Wir entnehmen dem Gebaren des Gastes, er hat schon ein paarmal gegähnt und rückt jetzt seinen Stuhl, die Absicht, nach Hause zu gehen. Doch eine Mitteilung seiner Absicht, uns zu verlassen, läge nur in ihrer verbalen Ankündigung.
Das Blinken mit dem Zeiger folgt einer Regel (einer Vorschrift der Straßenverkehrsordnung); die beschädigte Stelle des Mosaiks ergänzen wir anhand der Muster des vorhandenen Materials; doch die Lücke im Autographen Mozarts oder Goethes läßt sich nicht aus dem vorhandenen Material ableiten. Dies weist auf ein Merkmal schöpferischer Leistung.
Wir können wissen, was andere fühlen und denken: Sie zeigen es mit ihrer Mimik, ihren Gesten, ihren Worten.
Das Innenleben der anderen ist kein Verlies, in dem ein mysteriöser Geist oder das Gespenst einer unfaßbaren Seele haust.
Wir wissen, wie es ist, nachts durch ein zwielichtiges Stadtviertel zu gehen, nämlich ungemütlich, bedrohlich, unheimlich. Zu insinuieren, daß es unmöglich ist zu wissen, wie es für Peter oder Marianne ist, durch dieses Viertel zu gehen, zeugt von Begriffsstutzigkeit, doch daraus folgern zu wollen, daß es unmöglich ist, überhaupt zu wissen, wie es ist, Peter oder Marianne, geschweige denn eine Fledermaus zu sein, von begrifflicher Konfusion.
Peter kann wohl sagen: „Ich fühle mich heute echt daneben!“ Doch kann ich nicht sagen: „Ich möchte mal wissen, wie es ist, Peter zu sein – nur für einen Tag!“
Könnte ich, auf welch vertrackte Weise immer, in Erfahrung bringen, wie es ist, Peter zu sein, wäre ich ja Peter, und könnte also nicht wissen, wie es ist, er zu sein. – Dies gilt naturgemäß für alle mehr oder weniger sensorisch begabten Wesen, und für exotische wie Fledermäuse a fortiori.
Wenn Peter schon errötet, wenn nur der Name Marianne fällt, wissen wir, was mit ihm los ist, wir vermuten nicht nur, daß es ihn gepackt hat.
Nur KI-Besessenheit und Hollywoodkitsch konnten „Philosophen“ zu der Frage verleiten, ob wir alle Gehirne an den Drähten eines dämonischen Spaßmachers sind.
Wenn wir erfahren wollen, was und wie andere empfinden, fühlen, denken, nun, so fragen wir sie danach oder lesen die Gedichte von Goethe, Trakl oder Rilke.
Wir wohnen keinem Schauspiel bei und das Leben ist kein Theater; der erstochene Polonius erhebt sich flugs hinter dem Vorhang, schleicht von der Bühne und geht in die Kantine, während der von einer Kugel getroffene Soldat nicht mehr aufsteht.
Man kann nicht die Rolle einer Mutter spielen, sondern nur eine Mutter sein. – Freilich, das kleine Mädchen spielt mit der Puppe Mama und Baby, doch kann es dies nur vor dem faktischen Hintergrund seiner biologischen Fähigkeit, selbst einmal Mutter zu werden.
Sehe ich diesen Baum, sehe ich nicht mein Sehen des Baumes oder daß ich ihn sehe; es sind meinen Empfindungen und Wahrnehmungen keine reflexiven Spurenelemente beigemischt, und wenn keine reflexiven, so auch keine nichtreflexiven. Wenn ich mich allerdings frage, ob der Baum eine Tanne oder Fichte ist, reflektiere ich, könnte man etwas gestelzt sagen, über das, was ich gesehen habe.
Ich bezweifle nicht, daß ich den Baum sehe; aber nicht deshalb, weil meine sensorischen Wahrnehmungen unbezweifelbare Gewißheiten darstellen, sondern weil ich Sehen nicht mit Hören, Riechen oder Sicherinnern verwechsele.
Ich kann nicht so tun, als erscheine mir der Baum als visuelles Bild in einem nach außen abgeriegelten solipsistischen oder phänomenologischen Theater; denn sage ich „Er ist eine Fichte“, redet mir gleich mein Freund drein und belehrt mich darüber, daß er eine Tanne ist.
Wir können die Realität oder die Feststellungen über bestehende und nicht bestehende Sachverhalte nicht, wie Husserl meinte, aus dem „phänomenologischen Bewußtsein“ ausklammern und dennoch zu einem klaren Begriff von Wissen oder Bedeutung gelangen.
Was ich sehe, ist kein neuronal generiertes Bild des Baumes; ich sehe den Baum, nicht sein Bild. Bilder von Bäumen sehe ich nur auf Gemälden oder Fotos.
Ein Bild als ein Bild erkennen und wahrnehmen ist wie eines zu malen eine spezifisch menschliche Fähigkeit.
Aber es könnte sich um die Halluzination eines Baumes handeln! Doch hat der Begriff einer Wahrnehmungstäuschung, einer Illusion oder Halluzination nur Sinn, wenn ich auch über den Begriff des realen Baumes verfüge, wie der Begriff des Traumes nur Sinn hat, wenn er im Wachbewußtsein gebraucht wird.
Wir können nicht sagen, was wir empfinden und wahrnehmen, habe stets den Aspekt der unmittelbaren Gewißheit und Zweifelsfreiheit; es ist sinnlos, von Gewißheit zu reden, wo aller Zweifel ausgeschlossen ist. Gewißheit über eine Sache zu haben impliziert die Möglichkeit, ihrer auch ungewiß zu sein.
Der Begriff des Wissens setzt den Gegenbegriff möglichen Nichtwissens voraus; ein absolutes Wissen kann es, pace Hegel, nicht geben.
Wer weiß, daß 2 + 2 = 4, weiß es doch mit absoluter Gewißheit! Aber vielleicht weiß er nicht, daß
2 + √4 = 4.
„Der Kuchen schmeckt mir ausgezeichnet!“ – Bisweilen garantiert die Wahrhaftigkeit des Sprechers die Wahrheit seiner Äußerung. Dies gilt nicht für Äußerungen, die auf unseren intellektuellen Fähigkeiten beruhen: „Ich weiß (oder ich erinnere mich genau daran), daß wir dort waren.“
Wir müssen, was wir fühlen, denken, beabsichtigen, nicht in dem Sinne begründen, wie wir Gründe für unsere Meinung über das anführen, was andere fühlen, denken, beabsichtigen. Doch müssen wir die Begriffe dessen, was wir fühlen, denken, beabsichtigen, im gleichen (und nicht bloß analogen) Sinne auf uns selbst wie auf andere anzuwenden lernen.
Wir sehen die Absicht des Vordermannes, nach rechts abzubiegen, wenn er den Blinker gesetzt hat (und dann tatsächlich abbiegt), weil wir dies auf gleiche Weise tun würden. Wir können nach Gründen fragen, die ihn zu seinem Tun bewogen haben (in dieser Richtung liegt sein Wohnort); wenn wir selbst abbiegen, fragen wir nicht nach Gründen (rechts geht es nach Hause).
Der Simulant, der sich leidend stellt, um seiner Pflicht nicht nachzukommen, mag uns täuschen, ja sich selber etwas vormachen; aber die Simulation kann uns kein begriffliches Modell für das psychologische Verstehen überhaupt an die Hand geben, als wäre das manifeste Gebaren die äußere Hülle eines verborgenen Inneren, zu dessen geheimen Motiven und latenten Inhalten wir uns mühsam mittels hermeneutischer Deutungstechniken (wie in der Traumdeutung Freuds) vorarbeiten müßten.
Hinter den Tränen des Trauernden suchen wir nicht nach verborgenen Motiven, sondern sehen sie schlicht als Zeichen der Trauer an.
Es gibt allerdings eine reiche Mannigfaltigkeit von Weisen, in denen wir uns voreinander gleichsam verbergen und uns gewollt oder ungewollt ein Rätsel bleiben. Wir verheimlichen unlautere Absichten, ambivalente und gehässige Gefühle oder peinliche Dinge, aber auch etwas, womit wir den Freund überraschen wollen; der Scharlatan, der Intrigant, der Denunziant gehen in der Maske der Unschuld und Ehrbarkeit einher, während sie ihre Fallstricke auslegen. Bisweilen wissen wir nicht, was den anderen umtreibt, weil er es selbst nicht genau weiß; der Unentschiedene, Zerrissene, Neurotische läßt uns mit unseren Zweifeln und Befürchtungen allein; die treue Desdemona wird das Opfer des Eifersuchtswahns Othellos; die treulose Helena bezaubert am Ende den Hahnrei Menelaos.
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