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Homo universalis – ein Zerrbild

02.10.2022

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Die Welt sei im Kopf, künden Einfaltspinseln, die sich für Philosophen halten oder für Philosophen ausgeben. Frage dich: Wäre die Welt im Kopf, wo ist dann der Kopf?

Wer glaubt, die Welt sei im Kopf und sprachliche Bedeutungen reine Fiktionen, sägt den Ast ab, auf dem er sitzt, ja, er fällt schon und singt dabei noch ein jubilierendes Lied.

Wie beneidenswert: fallen und dabei singen.

Wäre alles, was wir als Gegenstände wahrnehmen und identifizieren können, das Erzeugnis unseres Gehirns, welch ein obskurer Gegenstand ist dann dies wahrnehmbare und identifizierbare Ding, das Gehirn?

Der semantische und ontologische Idealismus ist genauso unbegründbar und sinnlos wie sein Spiegelbild, der Materialismus.

Der ästhetisch bedeutsame und nicht selten fruchtbare Wille zur Form parodiert und dämonisiert sich im Zerrbild des poetischen Schemas und des politischen Ideals.

Das heutige Ideal der Aufgeklärten ist der moralisch und geistig uniformierte Leibeigene des Staats oder des staatlich überwachten Kollektivs.

Steine, Pflanzen, Tiere sind Gewächse ihrer jeweiligen Landschaft, sie haben die Gestalt, das Kolorit, den Duft und die Atmosphäre, die aus ihrem kargen oder üppigen, steinigen oder tonigen, rissigen oder moosigen Erdreich entspringen. So auch der Mensch, der wirklich ist nur durch die eigentümliche Physiognomie seiner Herkunft, so auch die Mythologien, an die er glaubt, und die Sprachen, die er spricht – die verschieden gebauten und mehr oder weniger reich verästelten Strukturen der Grammatiken des Mythos und der Wortsprache gleichen den Schichten und Fugen der Kristalle, den Geflechten der Pilze, den rätselhaften Maserungen und Mustern im Kiesel und Schiefer, auf den Schalen der Vogeleier und den Häuten der Schlange, den Ornamenten auf den Flügeln der Falter.

Der grobknochige nordische Wikingerhüne, der sich mit dem mythischen Schwert bis nach Kiew durchschlug und mit einem hölzernen Götzen auf schlankem Boot bis zur Behringstraße segelte; der weichliche Weibmann auf Bali, der im knapp über die Brust gezogenen, geblümten Mädchenkleid und mit Blüten im Haar in Reih und Glied mit seinen Gamelan-Geschwistern das verzierte Hämmerchen synchron auf die Tasten schlägt, während seine ebenso bunt kostümierte, aber üppiger geschminkte schöne Tochter dem Gott Shiva und seiner Geliebten ein Blumenopfer darbringt; der feist lächelnde chinesische und der in der Aureole der Luft schwebende japanische Buddha; das finster-listig blickende Wurzelmännlein aus dem Schwarzwald und die mit der schwellenden Anmut ihrer zarten Gestalt lächelnde rheinische Madonna.

Jene aber wähnen, sie wären im luftleeren Raum oder im Niemandsland einer wurzellosen Menschheit geboren; oder in einem Raumschiff hoch über der Erde.

Die tektonischen Platten der Erde, die unausbleiblich, solange die Erde existiert, in Bewegung sind, aufeinanderprallen, sich übereinanderschieben und Verwerfungen und alpine Faltungen, Erdbeben und Verwüstungen verursachen; nicht anders die Tektonik der Staatsgebilde, die unausbleiblich, solange es Staaten gibt, aneinanderstoßen und Verheerungen und kriegerische Konflikte nach sich ziehen.

Die reich verästelte Grammatik der griechischen Mythologie ­– sie ist noch ungeschrieben.

Der alte Idealtyp des Homo sovieticus und der neue des Homo universalis, der in Frankfurt an der Börse spekuliert, übers Wochenende zum Shoppen nach New York reist und die Urne mit seiner Asche am liebsten in den Weltraum ausstreuen lassen möchte, konvergieren gegen die Asymptote vollkommener spiritueller Leere.

Der nach Weltherrschaft strebende Homo universalis ist ein Zerrbild des Huomo universale der Renaissance; statt eines ins Morgenrot lächelnden Antlitzes gewahren wir die starre Maske moralischer Selbstgefälligkeit.

Morphologie der ästhetischen Gestalten – ihr genialer Ansatz bei Goethe, ihre geistreich wuchernde Überdehnung bei Spengler.

Die Entstehung und Entwicklung der dichterischen Gestalt folgen keinen darwinistischen Kriterien der Variation, Selektion und Anpassung. Die Urformen der Ode finden wir wie aus dem Nichts entsprungen, jedenfalls nicht als Ergebnis sich ausdifferenzierender sprachlicher Evolution, bei Alkäus, Sappho und Asklepiadeus. Horaz gewinnt sie für die lateinische, Klopstock und Hölderlin für die deutsche Sprache; aber mit ihrer Form blieb der Grundklang ihrer erhabenen Tonalität erhalten.

Aus einer Indianersprache oder den Idiomen der afrikanischen San und australischen Aborigines konnte wohl die Struktur der Ode nicht entspringen; aber noch weniger aus einer künstlichen Sprache wie dem Esperanto oder den Algorithmen einer formalen Idealsprache.

Man lernt den Walzer Schritt für Schritt, aber wenn es ums Walzen geht, wird, wer sich die Schritte immer noch im Geiste vor Augen rücken muß, dem Partner ständig auf die Füße treten.

Der totalitäre Charakter auch einer durch medial narkotisierte Abstimmungsrituale legitimierten Herrschaft zeigt sich in der offiziellen Feier der angeblich unabhängigen Presse bei gleichzeitigem Durchgriff auf die Gehirne der Einzelnen durch sprachliche Gängelei und Zensur in moralisch durchsäuerter Vorschulpädagogik und schulischen Curricula.

Der Homo universalis wird ein Kauderwelsch reden, in dessen Sumpf die edle Gestalt freier Dichtung rettungslos untergeht. – Aber reden und schreiben sie es nicht schon vierundzwanzig Stunden am Tag in Fernsehen, Funk und Feuilleton?

Der jesuanisch Gesinnte und der heroische Samurai können sich nicht verstehen. Warum sollten sie auch?

Und doch gab es den frommen Ritter, der in den heiligen Krieg gen Jerusalem zog, um die mystischen Stätten von der Entweihung durch die Heiden zu entsühnen. War er, weil sein Schwert vom Blut der Ungläubigen tropfte, weniger fromm als der Eremit im härenen Gewand, der keiner Fliege etwas zuleide tat?

Der zoologisch-anthropologische Begriff des Homo sapiens ist nicht bedeutungsgleich mit dem historischen Begriff des Homo agens und dem ästhetischen des Homo loquens oder Homo ludens.

Der Ureinwohner der arktischen Wüsten kann die Sesenheimer Lyrik Goethes oder das japanische Haiku nicht verstehen, wenn ihm das Bild der leuchtenden Natur und des scheuen Heiderösleins unter dem ewigen Schnee verborgen bleibt und der silberne Klang der Tempelglocke vom Geheul des Schneesturms erstickt wird.

Wir können ein frisches Reis auf den alten Rebstamm pfropfen; und die Traube, die heranreift, beschenkt uns mit einem vollmundigeren Wein. Nicht aber können wir auf den alten knorrig-knotigen Stamm der Sprache ein künstlich erzeugtes Element aus dem Sprachlabor pfropfen; der Rhythmus der Sprache und der lebendige Strom des Sinns werden bald am fremd und nackt herausragenden Block des Unsinns zerschellen.

Hesiod betont den genealogischen Zusammenhang des Mythos; Götter zeugen Götter und Heroen. Doch um ein Kind in die Welt zu setzen, bedarf es sowohl eines männlichen Samens als auch einer weiblichen Eizelle. Und wiederum sind Vater und Mutter Abkömmlinge von Vätern und Müttern, sodaß sich die genealogische Reihe potenziert. Die genealogischen Linien verlaufen vom gegenwärtigen Zentrum strahlenförmig aufwärts und verästeln sich immer mehr. Wenn wir dagegen von einem beliebigen Kreuzungspunkt genealogischer Linien abwärts steigen, können wir auch über Seitenlinien zum aktuellen Zentrum gelangen, so wie wir die Hauptstraße, aber auch Nebenstraßen nehmen können, um an den Treffpunkt zu kommen.

Hesiod überlagert die genealogischen Linien darüber hinaus mit einem mythisch-dynastischen Muster der Inthronisationen, Revolutionen und neuer Herrschaften; auf das Zeitalter des Uranos folgt dasjenige des Kronos, der wiederum von der Herrschaft des Zeus und seiner Brüder Poseidon und Hades abgelöst wird, die (man könnte meinen paradoxerweise) dem Dichter als unerschütterlich gilt.

Das mythisch-dynastische Muster wird seinerseits überlagert von einem mythisch-geographischen, denn Zeus ist der Gott des Himmels, Poseidon der Gott des Meers, Hades der Gott der Unterwelt.

Man könnte sagen, und hier löst sich das genannte Paradox auf, die mythische Geschichte gipfelt in der menschlichen, denn Zeus verkörpert nicht nur die Herrschaft der Natur, sondern auch die Ordnung des menschlichen Gemeinwesens und des Staates.

Seevölker und Kontinentalmächte bilden ein historisches Spannungsfeld. Die aufsteigende Seemacht Athen, die sich erfolgreich gegen die Landmacht Persien zur Wehr setzt, aber schließlich nicht nur vor der Landmacht Sparta kapituliert, sondern schließlich von der ungeheuren Kontinentalmacht der makedonischen Herrschaft unter Alexander und den Diadochen geschluckt wird; die Seemacht der Briten, die über die Kontinentalmacht des Deutschen Reiches den Sieg erringt.

Der nach der Weltmacht ausgreifende Homo universalis kann nur ein Zerrbild der traditionellen Herrschaft bilden; das Streben, zugleich die Meere und die Kontinente zu beherrschen, mündet in einen Albtraum.

Der Tiber und Rom; Strom und Stadt bilden eine mythische, geographische und politisch-kulturelle Symbiose.

Das globalistische Englisch des Homo universalis ist nur ein Zerrbild der Sprache eines Shakespeare, eines Milton oder Yeats.

Augustus umgab sich mit Geistern wie Maecenas, Horaz und Vergil; wer liest dem amerikanischen Präsidenten oder dem deutschen Kanzler Gedichte vom Range horazischer Oden vor?

Neben den Sprachen der Völker finden wir das Idiom der Stämme, Völker und Nationen übergreifenden Reiche, wie das Gemeingriechische bei den Diadochen, das Lateinische im christlichen Mittelalter, das Französische der humanistisch geprägten Höfe, zugleich die Gegenbewegung der um ihren Eigenausdruck ringenden Regionen und Kulturen wie im Italienischen Dantes und Petrarcas, im Provenzalischen der Troubadours, in den wuchtigen Blöcken und leuchtenden Bildern des sich von der lateinischen Eleganz des Humanismus abkehrenden Lutherdeutschen oder in der sich durch Rückgriff auf die antike Ode vom romanischen Alexandriner befreienden Dichtung eines Klopstock.

Der Homo universalis wird auf die Dauer keine anderen Sprachen und Ausdrucksformen neben seinem faden, ausdrucksarmen, aber unerbittlichen Idiom mehr dulden.

Wir fühlen, wie in Hölderlins großen Stromgesängen das mythisch-landschaftliche Empfinden und die thalassische Schaumesgischt der alten mittelmeerischen Kulturen bis an die idyllischen Ufer des Neckars zurückrauscht.

Man kann wohl mit Nuancen von Grau, aber nicht ausschließlich mit Schatten malen.

In abgestandener Bibliotheksluft und in der klinisch reinen Atmosphäre des Labors ersticken die Gefühle, die Gedanken, die Sprachen wie die Blüten im Sumpf, wie die freien Töne in der von Würgen gepackten Kehle.

Die aufdringliche oder aufsässige Klage des Opfers und die Stimme des exhibitionistisch entblößten Jammers verfügen über keinen hermeneutischen Universalschlüssel zum Verständnis der Mächte und Geheimnisse des Lebens.

Das Antlitz des Jammers, der Armut, der Ohnmacht ist nicht weniger abstoßend als die ölige Visage der Protzerei, des dumpfen Luxus und der von greulich-grellen Tattoos entstellten Eitelkeit.

Abtakt und Auftakt der Melodie des Lebens, der Schrei der Neugeborenen und der Seufzer des Sterbenden, gleichen sich aus, wenn die Sonate des Lebens ihre Form vollendet hat.

Die ästhetische Wahrnehmung des Raumdinges Plastik und der Gesamteindruck des Zeitdinges Gedicht stehen zueinander, wie Lessing erkannte, in hoher hermeneutischer und ästhetischer Spannung.

Wir können um das Gedicht nicht bedächtig, pfeifend oder genüßlich ein Eis lutschend wie um die freistehende Plastik herumstolzieren und es gleichsam von außen betrachten; wir müssen es Atemzug für Atemzug in unseren Blutkreislauf übergehen lassen.

Die epische Beschreibung gleicht dem (im Gedächtnis) vorrückenden Schatten der Sonnenuhr, wogegen die malerische im vollen Licht der Gegenwart glänzt.

Die moralische Absicht mindert oder verdirbt den ästhetischen Gehalt.

Wie die Pseudopodien des urtümlichen Einzellers oder die rhythmisch-fließenden Ausstülpungen der Qualle wachsen die Gliedmaßen des Gedichts aus den ins Licht gereckten Versen hervor, schrumpfen mit den ins Dunkel gehüllten wieder zurück.

Mit dem Hammer kann man nicht dichten.

Dagegen mag der nostalgische Dichter die Scherben der vom Hammer des Fortschritts zerschlagenen antike Amphore auflesen und zu Bildern zusammensetzen, in der vagen Anmutung, als würden sie dem alten Mythos ähneln.

Das schlichte Lied – „Der Mond ist aufgegangen/die goldnen Sternlein prangen“ – hebt die Gliederung des Gedankens (Mondaufgang/Leuchten der Sterne) durch eine Zäsur hervor, die mit der metrischen und rhythmischen Gliederung kongruiert:

×—◡—× —◡/×—◡—× —◡

Anders die dichterisch komplexe Kunstform der horazischen Ode:

Vides, ut alta stet nive candidum
Soracte

Der Gedanke und der ihn ausdrückende Satz („Du siehst den Berg Soracte von hohem Schnee beglänzt“) kongruieren nicht mit der metrisch-rhythmischen Bauform der alkäischen Strophe:

×—◡—× —◡◡—◡×
×—◡—×

Der Satz schließt mit der metrischen Einheit des Verses nicht ab, sondern fließt in den folgenden Vers über.

Ein der germanischen Diktion ähnlich fremdes Bauprinzip eröffnet das Hyperbaton, die Sperrung von Begriff und Attribut in der dichterischen Sprache der antiken Ode:

geluque
flumina constiterint acuto.

im Froste
starren die Wasser des Stroms, im harschen.

Mittels Sperrungen solcher Art wie gelu – acuto errichtet der odische Strophenbau bisweilen berückende, bisweilen schwindelerregende Atembögen.

Die der Rezeption der antiken Ode durch Klopstock folgenden großen Baumeister sind Goethe und Hölderlin. Ein fernes Nachwehen verspüren wir etwa noch bei Wilhelm Lehmann.

 

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