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Die Flucht

04.09.2022

„Ist, Mutter, es noch weit? Es wird schon dunkel!“
Die junge Mutter drückt die kleine Hand.
„Siehst du den Stern beim Mond? Wird sein Gefunkel
noch heller, sind wir bald am Ostseestrand.“

Sie trägt das Bündel, die Kleine hält die Puppe
an sich gepreßt, daß sie nicht friert und weint.
Die ihnen Brot gebrockt noch in die Suppe,
die Greisin sitzt am Herde wie versteint.

Sie gehen ihren Gang ins Ungewisse,
die Heimat hat schon trüber Schnee verweht,
ein dunkles Seufzen quillt aus jenem Risse,
der ihnen durch die Nacht der Seele geht.

Dann sehen sie das Boot, das ängstlich schaukelt,
von grauen Schäumen rätselhaft bedrängt,
und andre sind, vom selben Stern umgaukelt,
die man wie Schafe auf die Planken zwängt.

Sie lauschen bang, wie schwarze Wellen schlagen,
sie fühlen, wie der Fremdheit Stachel sticht.
„Ist, Mutter, es noch weit? Es will schon tagen.“
Die Mutter küßt ihr Tränen vom Gesicht.

„Siehst du den Purpurstreif? Wird er zum Bogen,
tritt auch die Königin, die Sonne, ein.
Sind wie aus Gischt die Möwen aufgeflogen,
glänzt uns das Ufer bald wie Elfenbein.“

Die Alte, die am Ofen einschlief, träumte,
wie schreiend kreiste eine Möwenschar,
wo sich umsonst ein Mast im Strudel bäumte
und eine Puppe schwamm mit goldnem Haar.

 

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