Dichterisch wohnet der Mensch
Philosophische Sentenzen und Aphorismen
Wo tut es weh? – Oben, im rechten Schneidezahn, Herr Doktor.
Wir können ungefähre Orte für den Ursprung unserer Schmerzen, Lust- und Unlustempfindungen, kurz unserer Leibgefühle, ausmachen.
Doch die Lokalisierung von Empfindungen gehorcht nicht einer spezifischen Geometrie, sei es der euklidischen oder sonst einer. – Wenn wir in eine Stadt reisen, die von unserem Wohnort etwa 350 km entfernt ist, würden wir, wenn wir im Hotel eingetroffen von Zahnschmerzen heimgesucht werden, nicht sagen: „Der Ort meiner Schmerzempfindung ist 350 km von meinem Heimatort entfernt.“
Das Kind hat zwei Kästchen, jeweils mit Buchstaben und Zahlen aus Holz gefüllt. Fragst du es, wo die Buchstaben sind, zeigt es auf das eine Kästchen, fragst du es, wo die Zahlen sind, zeigt es auf das andere.
Fragst du Platon, wo die Zahlen sind, antwortet er: „Dort drüben im platonischen Himmel, sie wohnen gleich neben den platonischen Ideen!“
Fragst du den wissenschaftlichen Linguisten, wo die Buchstaben sind, nach dem Ort unserer Sprache, weist er auf bestimmte Hirnregionen.
Doch was wäre prinzipiell auf der symbolischen Ebene anders, als es nun einmal ist, hätte sich herausgestellt, daß der berühmte Mathematiker Gauß oder der große Dichter Goethe statt grauer Zellen Zuckerwatte unter der Schädeldecke beherbergten?
Erst meinen wir mit dem Kind, Zahlen seien wie Murmeln Dinge, die wir in Kästchen füllen können. Dann merken wir, daß die Anzahl der Dinge endlich, die der Zahlen unendlich ist; es gibt ja zum Beispiel so viele Einsen, Zweien, Dreien, wie es das Herz begehrt. Endlich stutzen wir und merken, daß die Identität von Dingen anderer Natur ist als die Identität von Zahlen (oder Bildern, Vorstellungen, Ideen): Hans hat nur diese eine Prachtmurmel, Petra hat eine, die ihr wie ein Ei dem anderen gleicht, aber es ist eine andere. Doch die Zahl 3, die Hans zur Zahl 4 addiert, ist dieselbe Zahl, die Petra erhält, wenn sie 4 von 7 subtrahiert.
Wir können von Zahlen (Empfindungen, Vorstellungen, Ideen) nicht auf dieselbe Weise reden wie über Dinge. Das aber heißt nicht, Zahlen (Empfindungen, Vorstellungen, Ideen) seien im Gegensatz zu Dingen, die wir für physisch, wirklich, konkret, einmalig, an Raum-Zeitstellen lokalisierbar und identifizierbar erachten, metaphysisch, unwirklich, abstrakt und in einem mentalen oder metaphysischen Pseudo-Raum angesiedelt. Daß wir über Zahlen (Empfindungen, Vorstellungen, Ideen) nicht wie über Dinge reden können, bedeutet, daß die logische Grammatik der Sätze, mit denen wir über Zahlen reden, eine andere ist als die logische Grammatik der Sätze, mit denen wir über Dinge reden.
Wir können die Zahlen nach Kategorien ordnen, wie natürliche, rationale oder Primzahlen; doch die Zahl 5 als Element der Reihe der natürlichen Zahlen betrachtet ist keine andere als die Zahl 25/5 als Element der Reihe der rationalen oder als Element der Reihe der Primzahlen betrachtet.
Das Gedicht Baudelaires in der Originalsprache und seine Übersetzung durch Stefan George sind zwei verschiedene Gedichte; ich kann das eine nicht auf das andere abbilden, wie ich eine geometrische Figur durch Projektion auf eine andere abbilden kann.
Das Gedächtnis ist kein Behälter, Speicher oder Vorratsraum, in dem wir unsere Erinnerungen aufbewahren.
Die Analogie des Gedächtnisses mit einem digitalen Speicher (auf dem Rechner) führt uns in Hinsicht der logisch-semantischen Eigenschaften der Sätze, mit denen wir über unsere Erinnerungen reden, systematisch in die Irre.
Erinnerungen an Dinge, Personen und Ereignisse sind nicht die Schatten oder Abziehbilder von Dingen, Personen und Ereignissen, die wir im Speicher oder Katalog unseres Gedächtnisses abgelegt, eingeklebt oder abgeheftet haben.
Für ein historisches Werk können wir im Anhang einen Index von den Namen all der Dinge, Personen und Ereignisse (Orte, Zeiten) einrichten, jeweils unter Angabe der Seiten, unter denen wir das jeweils vom Historiker Berichtete finden. Doch so funktioniert, was wir Erinnerung nennen, nicht; wir schlagen nicht „im Kopf“ das Buch oder die Annalen unseres Gedächtnisses auf und finden dort mithilfe beispielsweise des Lemmas „Mutter“ all die Seiten, die Berichte über Ereignisse aus dem Leben unserer Mutter enthalten.
Der Vorname unserer Mutter wird zufällig erwähnt; und wir denken unwillkürlich an das junge Mädchen dieses Namens und an eine Episode seiner Jugendzeit, die uns die Betrachtung von alten Fotos vor Augen geführt hatte, Zeit harter Arbeit auf den Feldern oder ausgelassener Feste, lange bevor diese Frau mit uns schwanger ging.
Wir suchen die Erinnerung nicht im Speicher unseres Gedächtnisses auf, sie findet uns wie von selbst. Auf solche Weise schlummern unsere Erinnerungen, wie es Proust so köstlich beschrieben hat, gleichsam in den sich unvermutet öffnenden Schalen unserer gewöhnlichen Wahrnehmung, in einem Duft, einem Klang, einem unerwarteten Wechsel der Atmosphäre.
Wie wurden unsere Erinnerungen wach? Wir können nicht sagen, wir hätten sie geweckt.
Wir können Erinnerungen nicht willkürlich heraufrufen; könnten wir es, wären sie uns schon vorab bewußt.
Wir lernen sprechen und schreiben, aber nicht uns zu erinnern. Wenn die Ampel auf Grün schaltet, erinnern wir uns nicht an die Bedeutung des Signals „Gehen!“, sondern gehorchen gleichsam einem bedingten Reflex, der an die Assoziation der Farbe mit der Bedeutung des Signals geknüpft ist.
Freilich erlernen wir Techniken, andere Personen an uns zu erinnern; wir schreiben eine E-Mail oder eine Einladungskarte.
„Tut dies zu meinem Gedächtnis!“ – Aber auch wenn wir der Feier solchen Angedenkens mit der gebührenden Hochachtung beiwohnen, kann uns die Erinnerung böse Streiche spielen (indem wir unwillkürlich an das berühmte Gemälde von Leonardo da Vinci denken und uns in seiner ästhetischen Betrachtung verlieren, statt zu beten).
Die Gruppe herrscht über ihre Mitglieder mittels Abrichtung ihres Gedächtnisses. Kalender, Festtage, rituelle Begehungen. Aus der Gruppe erwächst der Staat mit seiner echten Kultur des Gedenkens oder einem ideologischen Mummenschanz sogenannter „Erinnerungskultur“.
Wir stellen fest, daß die rote Rose etwa fünf Meter von uns entfernt ist. Aber der Roteindruck, den wir durch sie haben, ist nicht fünf Meter von uns entfernt. Wir können nicht sinnvoll fragen, wo er ist.
Unsere Sinneseindrücke und Wahrnehmungen, unsere Empfindungen und Erinnerungen befinden sich, gemessen an der objektiven Maßgabe von wissenschaftlichen Geometrien oder Orts- und Zeitmessungen, nirgends, an keinem spezifischen Ort. Die von uns wahrgenommene Farbe haftet weder an der Rose noch an der Retina noch im neuronalen Sehzentrum.
Wir hören das Thema einer Sonate und sehen das Klavier, mit dem es angeschlagen wird; das Klavier steht etwa 20 Meter von uns entfernt auf dem Podium, aber der Höreindruck ist nicht 20 Meter von uns entfernt, er ist weder im Ohr noch im Kopf, er ist uns auch nicht ganz nah auf den Leib gerückt. Wir können nicht sinnvoll fragen, wo er ist.
Wir erhalten die amtliche Mitteilung, uns dann und dann bei der Behörde einzufinden; wir haben die Bedeutung der Mitteilung richtig aufgefaßt. Doch die Bedeutung ist weder das Schriftbild der Mitteilung noch eine mentale Entität in unserem Kopf, die wir wie einen Merk- oder Spickzettel im Kalender unseres Gedächtnisses ablegen oder anheften könnten.
Wir sind, was wir sind, als diejenigen, die Gestalt-, Farb- und Klangeindrücke wahrnehmen und Bedeutungen aus Mitteilungen dechiffrieren, um danach zu handeln. Aber was für die Eigenschaften der Sätze gilt, die über Empfindungen, Wahrnehmungen, Vorstellungen und Erinnerungen sprechen, nämlich, daß ihre Logik und Grammatik eine andere sind als die von Sätzen, die über Dinge, Personen und Ereignisse sprechen, gilt a fortiori auch für uns selbst als sogenannte subjektive Wesen: Wir sind als solche genausowenig Bezugspunkte in einer euklidischen oder nichteuklidischen Geometrie, wie es unsere Empfindungen, Wahrnehmungen, Vorstellungen und Erinnerungen sind.
Was wir meinen, wenn wir „ich“ sagen, hat keinen spezifischen Ort in der physikalischen Raumzeit.
Da wir aber als physische Körper Dinge neben unzähligen anderen Dingen und also Bezugspunkte eines raumzeitlichen Koordinatensystems sind, neigen wir zu der irrigen Ansicht, als subjektive Wesen müßten wir Bezugspunkte eines metaphysischen Universums, gleichsam surreale Schatten der realen Dinge, sogenannte Seelen, sein.
Doch die Tatsache, daß wir über uns nicht reden können wie über rein physische Dinge und Ereignisse (es sei denn wir sprechen mit unserem behandelnden Arzt über unsere Wunde an der Hand), bedeutet, daß die Sprache, in der wir über uns angemessene Aussagen treffen, eine andere Logik hat als die Sprache, in der wir über das Wetter, den Autounfall oder die Börsenkurse reden.
Die Sprache der Dichtung ist von dieser Art. Sie hat eine andere Logik und Grammatik als die Sprache über Dinge und Ereignisse, die wir objektiv, sachbezogen oder realistisch nennen, weil wir mittels ihrer Grammatik durch Namen und deskriptive Ausdrücke Dinge und ihre Eigenschaften in der Raumzeit identifizieren können.
So können wir mit Hölderlin in einem starken, präzisen, nicht romantisch verschwommenen Sinn sagen, daß der Mensch „dichterisch wohnet“. Wohnen meint hier nicht, sich da und dort zeitweise oder auf Dauer aufhalten, auf der Erde, in Behausungen, in Räumen, die wir mittels eines physikalisch interpretierbaren Koordinatensystems bestimmen können; auch wenn dieser raumzeitliche Aspekt unseres Daseins mitgemeint ist. Wohnen heißt vielmehr, eine Welt, eine Gegend, eine Sprache und Kultur bewohnen, in einer Landschaft historisch verwurzelt sein, ihr Licht und ihre Schatten, ihre Farben und Düfte genießen und benennen.
Dichterisch wohnen meint, dem unseligen Drang zu widerstehen, die Welt, das eigene Leben, das Leben der anderen als begriffliches oder soziales Konstrukt nach dem immer herrischer faszinierenden Muster des technischen Machens und Herstellens vorzustellen und zur Sprache zu bringen, der Sprache der Technik, der Wissenschaft, der Verwaltung.
Die Räume, die wir bewohnen, sind keine objektiven, geometrisch projizierbaren und technisch nach dem Plan unseres individuellen oder eines kollektiven Willens gestaltbaren faktischen oder sozialen Strukturen, sondern Gegenden und Bauten des über die Sprache uns überkommenen Sinns oder eben des schreienden, kläglichen, trostlosen Unsinns.
Zu sagen, daß wir das Haus der Sprache bewohnen, heißt nicht, das Dasein der stummen Dinge zu leugnen, sondern es allererst als Schatten des Hauses der Sprache, als Horizont unseres Daseins unter der Sonne, als Linie unter den Linien des Lebens zu vergegenwärtigen.
So ist die Zeit unseres Daseins weder im Bild der gleichförmig strömenden Bewegung des Flusses noch nach dem Muster der gleichförmigen Bewegung der Gestirne und Atome oder der ungleichförmigen von subatomaren Teilchen zu fassen und zu ermessen, also mittels klassischer oder moderner Zeitmesser und Uhren; vielmehr nach der Erfahrung dessen, der ungeduldig auf die Wiederkehr eines geliebten Menschen wartet, der den Tag im Lichte der Erfüllung oder des Verzichts, des Zuspruchs oder der Entsagung, der alltäglichen Sorge oder der Erwartung einer festtäglichen Freude anzuschauen sich bemüht.
Ein wesentlicher Aspekt der Zeit unseres Daseins erschlösse sich der Meditation über die Zeile Goethes: „Warte nur, balde/ruhest du auch.“ Denn Warten mit seinen Schattierungen und Nuancierungen der Geduld und Ungeduld, hellhöriger Aufmerksamkeit oder dumpfer Zerstreuung und Langeweile, von Ahnung eigener Sterblichkeit oder billiger Tröstung mittels scheinbar unverweslicher Werke, Zukunftsvisionen und Menschheitsprojekten – Warten, im eigentlichen oder im defizienten Sinn, ist ein Grundmodus unserer Zeitlichkeit.
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