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Im Niemandsland

20.04.2022

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Eigentlich handeln die Mächte, Mächte des Lebens und des Todes, des Aufbaus und der Vernichtung, der Sonne und der Nacht; dennoch bleibt nicht unschuldig, wer sich in ihren Dienst stellt oder auch sich sträflich ihrem Dienst und Anspruch verweigert.

Die geschichtlichen Mächte verkörpern sich in den Emblemen, Wappen und Allegorien derjenigen Länder, Nationen und Sprachen, die sie besetzen, die von ihnen besessen sind. – Keine Grenzbefestigung, keine Expansion, kein Krieg, ohne daß die römischen Legionen nicht das imperiale Zeichen des Reichsadlers aufgepflanzt hätten.

Das dichterische Wort verkörpert die Macht der Sprache. Wer sich in ihren Dienst stellt, mag siegreich sein oder scheitern, die Grenzen des Sagbaren ausweiten oder sich auf die harte Essenz des nicht zu Verschweigenden zurückziehen; doch kann er durch Schlampigkeiten, Mißtöne, schiefe Bilder und Metaphern sündigen.

Homer sah göttliche Mächte, übermenschlich-hohe, grausame und doch auch mit Einsicht begabte, in den Masken der in ihrem Dienst kämpfenden, siegenden und fallenden Hellenen und Trojaner den mythisch-historischen Krieg führen. Achill schont Hektor nicht; und doch läßt er sich von seines Vaters Bitten bewegen, ihm den Leichnam auszuhändigen.

Vergil gibt der Hoffnung inmitten des Untergangsfeuers Gestalt in der Figur des Aeneas, der seinen Sohn bei der Hand nimmt, den greisen Vater aber auf der Schulter aus den Flammen trägt. Aeneas, das heißt die Verkörperung der Roma aeterna.

Singt Sappho, so in ihr, durch sie, mittels ihrer Stimme die Macht des Eros oder Aphrodite.

Dem Propheten reinigt der Engel mit Feuer und Glut den adamitischen Mund, auf daß er reiner Gottes Willen verkünde.

Wer flucht, von dem sagen wir, er spreche im Zorn, oder auch, der Zorn habe aus ihm gesprochen.

Als wäre das Stammeln des Inspirierten ein Exempel in der Sammlung Freudscher Witze und Fehlleistungen.

Im Rascheln des Blatts, im Rauschen des Wipfels, im moosgrünen Schatten unter dem Zweige gewahren wir noch, bei ihrer vollkommenen Abwesenheit, die Stimme, das Seufzen, den Schlaf der Dryade.

Im Gedicht sagt das Wasser mit leisem Brausen und unheimlichem Glucksen von der lange versunkenen Nymphe, dem Schluchzen Ophelias.

Im Niemandsland des abwesenden Mythos beschwört das Gedicht im nächtlichen Glitzern des Teiches, im Gischt des Katarakts, im verfänglich sprudelnden Wirbel des Maares und im unerlösten Seufzen des Wassers im Schilf die seelische Macht und mythische Größe des Wahnsinns.

Wäre auch die mythische Metamorphose uns als abgegriffener Groschen humanistischer Bildung in den Schatten des Lorbeerbaums gefallen, das Gedicht kann unter der harten Rinde noch immer das klopfende Herz Daphnes hörbar machen.

Unser Verständnis ist unmittelbar, wenn wir sehen, wie der sich gekränkt Dünkende schmollt oder grollt. Wir müssen nicht wissen, ob er rechtens handelt oder die Kränkung imaginär war.

Die Klage klopft, einer Bettlerin gleich, an die Pforte des einsamen Dichters, und das Scherflein, das in ihrer blechernen Schale klingt, ist sein Vers.

Nur wer nicht über den Tellerrand schaut, wer sich den Blick auf die nähere und fernere Umgebung, beispielsweise das Luxusleben des Herrn Nachbarn oder den Glamour seiner Dame, durch das hochgewucherte Buschwerk seines Vorgartenzauns verstellen läßt, wer nicht über den Tag hinausdenkt, nämlich in die Nacht seines Untergangs, der mag den blanken Groschen des Glücks oder der Zufriedenheit einheimsen.

Freilich nicht auf Dauer; denn auch sein Herbst kommt und die herabgewehten Blätter geben den Blick auf die Öde frei, in der er sich zuletzt wiederfindet.

Ideen klingen nicht, haben weder Farbe noch Duft noch Tonalität; Werke, die sie zu verkörpern sich anheischig machen, mindern die Intensität ihres Daseins und ihrer Wirkung, handele es sich auch um Ideen mit dem Nimbus höherer Weihen wie Humanität, Völkerverständigung und Weltfrieden; daher die Schwächen Mahlers, aber auch der Neunten Beethovens, von den konzeptuellen Basteleien elektronischer und serieller Kompositionen zu schweigen.

Die Essenz der Werke kann nur ästhetisch, nicht ideologisch sein. Wir bemessen den Rang des Kunstwerks nicht nach der Idee oder der noch so hochgemuten Absicht ihres Schöpfers.

Die Meisterwerke gleichen aus der kosmischen Leere jäh auftauchenden Sonnen; freilich, sie gehen am nächtlichen Horizont auf, doch können sie sich unserem Blick ebenso plötzlich, wie sie aufgeblitzt sind, auch wieder entziehen, nicht weil sie erloschen, sondern in anderen, unsichtbaren Konstellationen entschwunden sind.

Wie über den Riesenstädten und ihren Feuern und Aschenwolken der Sternenhimmel verblaßt, so die großen Werke der Vergangenheit in dem Leuchten der Bildschirme, von dem wir wähnen, es erhelle unser Dasein.

Manche Dichtung, von minder Hellsichtigen und Hellhörigen hermetischer Verrätselung verdächtigt oder bezichtigt, gleicht einem labyrinthisch angelegten, von exotischen Blüten durchschimmerten Garten, in den sich angesichts des Wildwuchses oder der Wüste der Welt zurückzieht, wer der Devise willfahrt: Lebe im Verborgenen.

Der digitale Bildschirm hat den Lack und Chrom des Autos als Projektionsfläche kollektiver Begierden abgelöst.

Technische Zivilisation oder die totale Entweihung des Leibes und der Sinnlichkeit.

Man fühlt schon bei Lebzeiten die Desakralisierung des Körpers, der als lebloses Ding dem Verbrennungsofen anheimgegeben wird.

Sinn ist eine Kategorie des lebendigen Bewußtseins und der angewandten Sprache; ob es sinnvoller wäre, nicht gelebt zu haben, ist eine absurde Frage; denn man kann nicht ermessen, wie es wäre, nicht gelebt zu haben, nicht zu existieren.

Von der Faktizität des Daseins oder der Macht des Schicksals wissen wir nur die leere Fülle, in der das einzelne Exemplar nichts zählt.

Nur das liebende Auge sieht die Wahrheit des Einzigen und Einzigartigen.

Man erstickt, wenn man sich als Zeitgenosse definiert.

Im eleganten Künstleratelier unter dem Dach flimmern Pornofilme, im Keller des Hauses finden Verhöre unter Folter statt.

Was sie dir als Teilhabe, Zeitgenossenschaft und Engagement andienen oder aufnötigen, ist der kaum fühlbare Knebel, der dir den Mund mit lauter hübschen Phrasen stopft.

Mangel an Talent stellt die Dichtung in den Dienst der Moral oder Politik. – Der Beifall der erregten Menge ist auch dem minder Begabten vor dem die Stimme vergrößernden Mikrofon gewiß.

Die Kühnheit des Dichters, für niemanden zu schreiben, kann das Gedicht noch für eine Zeit beflügeln, über die Grenzen der verlorenen Heimat hinwegzuschweben. Wohin? Wohin auch immer, zum Strand der Schatten, zu den Inseln der Seligen, ins Niemandsland, wo das Wort die Stille findet, das Moos, auf das es, ein matt glänzender Tau, sich niederläßt.

Der Begriff einer Zahl ist keine Zahl. Die Erinnerung an einen Klang, an einen Duft klingt nicht und duftet nicht.

Ein Gedanke, ein Konzept, eine Idee können nicht „sinnlich erscheinen“; dies aber ist die verfehlte Annahme idealistischer Ästhetik (Platon, Hegel).

Man kann sich an ein Gedicht nicht wie an eine Zeitungsmeldung erinnern; täte man es, hätte man das genuin Dichterische verfehlt.

Man weiß nicht mehr, was einer gesagt hat; doch erinnert man sich an den ironischen, gehobenen oder gedämpften Ton seiner Stimme; so mit dem Gedicht.

Dichtung steht im Gegensatz zur Literatur; diese ist aus Lettern gemacht, jene eine Synthese aus Klang, Taktfolge und Rhythmus, von der Farbigkeit und Duftigkeit, die ihre Bilder und Vergleiche umhüllen, nicht zu reden.

Lyrische Dichtung ist ein Archaismus und Anachronismus in der modernen Welt; sie hat ihre Heimat nur als ein fragiles seelisches Refugium

Der Klang lyrischer Dichtung ist ein Echo des Melos der von Laute und Flöte begleiteten antiken monodischen und chorischen Lyrik, ihre Taktfolge und ihr Rhythmus sind ein Residuum der Tanzschritte antiker Chöre.

Der Literat schreibt im eigenen Namen oder im Namen der Idee, des Kollektivs, der Moral, denen er sich verschrieben haben mag; der lyrische Dichter ist kein Schreiber, sondern ein Hörer fremder Zungen, der Musen, der Chariten, des Orpheus, des Apollon oder welcher Gottheit immer, der lichten oder dunklen Mächte, die sich ihm zusprechen, wenn er auch das Vernommene im Dialekt seiner Muttersprache aufschreibt.

Der lyrische Dichter ist ein Repräsentant der oralen Tradition, die von Homer bis zur Edda, vom liturgisch-mystischen Gesang bis zum Volkslied reicht, nicht der Funktionär einer skripturalen oder digitalen Sinnproduktion.

Die Sprache der Dichtung ist wie ein Meer, aus dem der Dichter mit der Muschel seines Gedichts nur jeweils einige Tropfen zu schöpfen vermag.

Mehr als das Gesagte gelten, anders als im gewöhnlichen Gespräch, beim Gedicht Gesten, Mienen, Ausdrucksgebärden, Tonfarben.

Die reiche Mannigfaltigkeit der Versarten und Strophenformen, der rhythmischen Bögen und Bildprogramme entstammt Zwecken, die vom Anlaß des Singens und Sagens angewiesen wurden, wie Sieg und Preis, Eros und Evokation der Geliebten, Trauer und Klage, Verlust und Andenken, Spott und Invektive, schuldhafte Verstrickung und meditierende Besinnung; doch haben sie Dauer, auch wenn die konkreten Anlässe und konventionellen Situationen und die rhetorisch-figuralen Muster ihrer Bewältigung sich verflüchtigt haben – sie werden in verwandelter Gestalt gleichsam ins Innere der dichterischen Sprache aufgenommen.

Was dem Literaten die Moral und die Verantwortung sind dem Dichter der Mythos und seine Befragung. Auch wenn ihm kein lebendiger Mythos mehr als bunte Mannigfaltigkeit verleiblichter Mächte entgegentritt, spürt er diesen Mächten an ihrem spezifischen Ort und zu ihrer eigentümlichen Zeit immer noch nach, bleibt von Gaia auch nur die Erde, vom Kampf zwischen Licht und Dunkelheit der Wechsel der Tages- und Jahreszeiten, von Apollon die Sonne, der Lorbeer und der Gesang, von Dionysos die goldene Traube und der dunkle Rausch, von Orpheus der Anruf ins Nächtige der Unterwelt; von der Schöpfung das gestaltende, sondernde, ins Licht rufende Wort, vom Paradies Blattgeflüster und das Rauschen der Ströme, von der Urschuld der Makel und Aussatz der menschlichen Seele, von der himmlischen Stadt die efeubehangenen Mauern.

Kann, wie Schelling vermutete, wie Heidegger postulierte und zu improvisieren wagte, Denken eine Form des Dichtens, Dichten eine Form des Denkens sein? Nein, wenn man unter Philosophie logisch-semantische Analyse und vernunftgemäße Besinnung versteht; ja, wenn man die klassische Form der Philosophie ad acta legt; denn ihre schulmäßigen Zentralbegriffe wie Erkennen, Wissen, Wahrheit, Bedeutung oder Verstehen lassen sich nicht rein dichterisch umformen.

Wer statt „Mensch“ „Dasein“ sagt und „Existenz“, dichtet nicht, sondern entwirft mittels neuer Termini eine neue Atmosphäre des Denkens. – Allerdings hat Heidegger unter Rückgriff auf mehr oder weniger dichterische Ausdrücke wie „Wohnen“, „Bauen“, „Sage“ oder „Geviert“ ein Bild unserer geschichtlich-schicksalhaften Situation entworfen, das der Wahrheit näher kommen mag als das von den Humanwissenschaften konstruierte.

Da alle in den Medien benutzten Worte mehr oder weniger schadhaft, wurmstichig, ranzig geworden sind, muß, wer etwas zu sagen hat, beinahe in Rätseln sprechen.

Wer keinen von jenen erreichen will, die das von den Medien verhunzte Wort für das letzte halten, wird genötigt sein, sich in das Refugium des verwaisten epikurischen Gartens zurückzuziehen, der in Wahrheit ein Niemandsland geworden ist, aus dem die Freunde und Gesprächspartner in das mit dem Dröhnen der Lautsprecher lockende und nach Brathendl duftende Tivoli, die Götter aber in die unsagbaren Fernen der Intermundien entflohen sind und dessen Mauern wohl den Lärm der Welt abhalten, aber auch das Rauschen der heimatlichen Ströme. Hier muß er anders wieder, ernster oder sogar gelassener, fragen: Wozu Dichter in dürftiger Zeit?

 

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