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Begriffsmagie

26.10.2021

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Das Wort besitzt magische Kraft; im Gedicht tut sie Wunder mit beschworenen Blüten, die zu duften scheinen, im Denken aber verlockt sie in ontologische Fallen und logische Labyrinthe, aus denen es kein Entrinnen gibt.

Im Vergleich zu Gottes allmächtigem Schöpferwort oder dem hybriden Geist des urtümlichen biblischen Autors wissen wir um die reale Ohnmacht unseres Redens. Das Opfer mag den Täter, der das Messer, die Pistole gezückt hat, kniefällig bitten – vergebens. Der Dieb rennt trotz unserer Aufforderung, stehen zu bleiben, davon, denn unser Wort ist leider kein Lasso, womit wir ihn einfangen könnten.

Der Täufling erhält wie durch Schicksalsspruch seinen Taufnamen; doch nur aus dem Munde des dazu legitimierten Zeremonienmeisters. Er bleibt das magische Siegel auf seiner Existenz, und er hört ihn wohl im Halbschlaf oder aus dem monotonen Rauschen des Wasserfalles wie aus dem Munde der Mutter oder der Geliebten rufen.

Der Name des Homer verweht auf den Wogen des Meeres wie der Gesang der Sirenen, die Odysseus, nicht aber uns, den Lesern, gefährlich werden könnten; dagegen dürfen wir im Erzähler seines Romans immer wieder die liebenswürdige, wenn auch bisweilen wie von Schleiern gedämpfte Stimme Prousts vernehmen.

Der Urteilsspruch gilt; doch nur aus dem Munde des legitimierten Richters; mag er in Urzeiten als Fluch seine unmittelbare Wirkung getan haben, wird seine Vollstreckung heute sichergestellt, wenn die schwere Türe hinter dem Gefangenen ins Schloß fällt.

Das Wort ist Fleisch geworden; doch nur im Herzen des Frommen.

Die Qual des Einsamen in den Weltmetropolen wird unerträglich, vernimmt er wie fernes Brandungsrauschen die ozeanische Gesänge des frühen Dichters.

Was wir Wirklichkeit, Realität oder mit sonst einem passenden Begriff benennen, ist das Gitterwerk, an dem einzig die Ranken unserer wahren Rede Halt finden (aber auch und sogar die wilden unserer unwahren).

Die unwahre Rede ist wie der unfruchtbare Seitentrieb unserer wahren Rede, die doch beide am selben Gitter ranken; dagegen ist die sinnlose Rede wie das Wuchern erstickender Triebe über der flachen Erde.

Der Künder des Zauberspruchs, in dem sich die Magie der Beschwörung und der poetische Charme von Klang und Rhythmus vermählten, überlebte den Scheidungsprozeß zwischen Religion und Kunst oder die Ernüchterung der Abklärung als abgemagerter, halb verrückter Eremit der hermetischen Dichtung.

Verlaine wollte dem Vers nur die magische Substanz des Wohlklangs belassen, De la musique avant toute chose; der Rest war ihm, was er verächtlich Literatur nannte. Doch verwehte diese leise Melodie einer schmerzlichen Verzückung nur allzu rasch, als sich der Höllenlärm der Maschinen erhob oder die Totenstille am rostigen Zaun der Hinterhöfe von kümmerlichen Ranken herabtropfte.

Der Mond ist in der Dichtung eines Goethe oder des alten Japan ein magisches Wort-Ding, das unmittelbar aus dem Meer einer sich selbst kaum bewußten Seele auftaucht; die dunklen Wogen oder die nächtliche Wasseroberfläche, die er mit seinen bleichen, unfruchtbaren Strahlen überstreicht, beginnen wie aus dem Munde des Somnambulen ihre seltsam plätschernde, ihre schluchzende Rede.

Die Meisterdenker, die Worte wie Sein und Nichts, Idee und Geist, Subjekt und Objekt, Dialektik und Metaphysik als magische Begriffe und Beschwörungsformeln mißbrauchten, haben uns und sich selbst in ontologische Fallen gelockt, aus denen uns nur der dünne, leicht einreißende Faden der philosophischen Sprachkritik den Weg ins Freie weist.

Wenn wir einen Satz und sein Gegenteil behaupten, etwa sagen: „Jesus war ganz Mensch“ und hernach „Jesus war ganz Gott“, wissen wir, daß die dabei verwendeten Begriffe trotz ihres magischen Leuchtens für unseren sterblichen Verstand nichtssagend oder sinnlos sind. Ihnen einen übermenschlichen Sinn zu verleihen, bedarf, wie Kierkegaard wußte, eines Sprunges, doch ob eines Sprunges ins Freie oder in den Abgrund des Wahnsinns, wer vermag es zu wissen?

Freilich können zwei sich widersprechende Beobachtungssätze miteinander verträglich oder konsistent sein, wenn wir ihre Verwendung mittels Indexikalisierung (wie Orts- und Zeitangaben) einschränken und etwa sagen: „Eben war der Konferenzraum leer; jetzt ist er voll“ oder „Betrachten wir nun das Licht als Welle“ und „Betrachten wir jetzt das Licht als Photon“. Aber wenn wir sagen: „Es hat lange geregnet; das ist ein Beleg des Klimawandels“ und „Es hat lange nicht geregnet; das ist ein Beleg des Klimawandels“, ist es um die konsistente Verwendung unserer Begriffe und Aussagen nicht zum besten bestellt.

Eine ähnliche logische Aporie wie die biblische Überlieferung, wonach Moses auch das letzte seiner Bücher geschrieben habe, in dem von seinem Tod berichtet wird, finden wir im Satz des Matrosen in Melvilles Roman „Moby Dick“, der sich auf eine Tonne rettete, den Untergang des Schiffes beim Ansturm des weißen Wahls habe keiner überlebt.

Wenn es in der Bibel heißt, Gott habe Moses die von ihm selbst in Stein geritzten Gebote ausgehändigt, bemerken wir unmittelbar, inwiefern die hier vorwaltende urtümliche Gottesvorstellung mit der von der griechischen Metaphysik inspirierten, wonach Gott reiner Geist ist, nicht gut zu harmonieren vermag.

Die Übernahme der griechischen Metaphysik in die christliche Theologie ist der logische Giftwurm, der sich am Ende auf fatale Weise durch ihr Herz und Mark gefressen hat.

Wenn Gott die Welt aus dem Nichts geschaffen hat, wie die Genesis behauptet, so existierte ja nicht nichts vor der Erschaffung der Welt, sondern Gott. Wenn aber Gott, dann auch die Welt und die Natur; und schon sind wir bei Spinoza oder dem Atheismus.

Gottes Wort wird vom Autor der Genesis höchste magische Schöpferkraft zugebilligt, wenn es das Licht aus der Finsternis hervorzurufen vermag. Welche Art Theologie den Sinn von Gottes Wort auch immer zu erschließen vermöchte, keine Philosophie, es sei denn eine törichte, kann dem Menschenwort analoge magische Kräfte zusprechen. Doch was wir ständig hören, spricht für das Gegenteil, nämlich aus Eitelkeit und Anmaßung oder ihr scheinbares Gegenteil (nämlich Sünden- und Schuldbewußtsein) entspringende Aussagen über angebliche begriffliche Konstrukte natürlicher, historischer und sozialer Gegebenheiten wie Geschlecht, Rasse, Identität, Intelligenz und Dispositionen des Charakters und Verhaltens.

Ein historischer Ursprung der modernen und zeitgenössischen Begriffs- und Wortmagie liegt in der Poetik der Romantik und ihrem Programm einer Poetisierung der Welt, der freilich die Tatsachen des Lebens, Krankheit, Wahnsinn, Grausamkeit, Verfall und Tod, Hohn sprechen. Doch schon Baudelaire wußte, daß die Bilder der künstlichen Paradiese einzig den ephemeren Zauber des im Schnee erblühenden Krokus haben, der beim nächsten Nachtfrost wieder dahinwelkt.

Sich als Aufklärung tarnende oder ausgebende philosophische Anmaßung will uns weismachen, daß wir mit den Formen der Anschauung und den Kategorien des Denkens in das Gehäuse oder Gefängnis der Erfahrung eingesperrt sind, in dem die Dinge gleichsam ihre eigenen Simulakren darstellen, ähnlich den Projektionen in der platonischen Höhle. Doch sind, was wir sehen, wirkliche Blumen, und wie wir sie botanisch klassifizieren und beschreiben, gibt uns Auskunft über ihre reale Beschaffenheit; doch sind, mit denen wir umgehen und reden, wirkliche Menschen, und wir erfassen, was sie meinen und beabsichtigen ohne Abstriche, wen sie redlich mit uns sprechen, wenn sie, wie sie es zugesagt haben, ihr Versprechen einlösen.

Wir sind, was wir glauben, fühlen, beabsichtigen, und doch wird, was als unser Wesen anzusprechen allzu großsprecherisch und vollmundig wäre, erst enthüllt, wenn, was wir glauben, von anderen bestätigt oder in Zweifel gezogen wird, wenn wir, was wir fühlen, in den Augen derer, die wir lieben oder denen wir mißtrauen, ablesen können, und wenn unsere Absicht, den anderen mit einem Geschenk zu erfreuen, durch sein offenherziges Lächeln bestätigt oder sein verlegenes durchkreuzt wird.

Genausowenig wie der Physiker in seinem Labor die Photonen erzeugt, deren Verhalten er im Doppelspalt-Experiment untersucht, erzeugt der Künstler, Dichter und Musiker mit Farben, Worten und Klängen eigene Welten; ja, die Farben, Worte und Klänge findet er vor. Die Gesetze der Farbharmonie, der antiken Versmaße und der Sonatensatzform sind nicht mit den Gesetzen der Physik und Chemie vergleichbar. Die Zertrümmerung des Atoms führt zu gigantischen Zerstörungen, die Zertrümmerung der tonalen Klangharmonien höchstens zu einer vorübergehenden Irritation des feinsinnigen Hörers; die Analyse des Erbguts führt zu einer wirklichen Entdeckung, nämlich der Entlarvung des Täters; die Analyse einer Bachschen Fuge bestätigt am Ende die Regeln der Komposition, die wir schon an anderen Werken des Meisters erkundet haben.

Die Verwendung und Propaganda von magischen Begriffen wie „die Moderne“, „die Avantgarde“, „die Auflösung der literarischen Gattungen“, „der Tod des Autors“ oder „die soziale Plastik“ durch Meisterdenker wie Adorno e tutti quanti und ihre vulgarisierende Aussaat und Hybridisierung im lauwarmen Sumpf der Feuilletons haben das vom Zeitgeist gegängelte unbedarfte Gemüt und den Vertreter des Common Sense auf eine Weise eingeschüchtert, daß sie ihrem ureigensten Verlangen nach sublimen Formen in der Kunst zu mißtrauen begannen und schon den schlichten Gebrauch von floralen Metaphern in der Lyrik, die Führung durch die Labyrinthe des Erzählstoffes an der Hand des Erzählers oder die harmonische Auflösung einer Dissonanz in der Sonate unter den Verdacht des Kitsches oder emotionaler Unreife stellten.

„Trauma“, „traumatische Erfahrung“, „Fremdheitserfahrung“, „Stigmatisierung“, „Ausgrenzung“ oder „Auslöschung der Identität durch die Gewalt des Vaters, des Mannes“, will sagen, des weißen Mannes, gehören zu den magischen Begriffen in den muffigen Salons des Zeitgeistes und den geistig sterilen Redaktionen des Kulturbetriebs. Der Wert eines Buches wird nicht mehr nach literarischen Kriterien ermessen, sondern nach der Menge von Blut und anderer Absonderungen, die aus seinen Seiten triefen, nicht nach dem poetischen Ausdrucksreichtum und den subtilen Anspielungen seiner Darstellung und Diktion, sondern nach der drastischen Wiedergabe der Striemen und Narben, die seine Protagonisten von der verzückten oder hysterischen Hand des Autors abbekommen, und all den verkrusteten Hautfetzen, die seine Zeilen mühsam zusammenhalten.

Augenblicke des Glücks, und sei es des bescheidenen eines, der sich trotz schmerzender Glieder oder der Atemnot des Alters auf die stille Parkbank des Abends gerettet hat, hoffen vergebens auf dichterische Resonanz im Wohlklang magischer Bilder und Worte.

 

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