Torheiten der Philosophie
Philosophische Sentenzen und Aphorismen
Was wir meinen, ist nicht, was wir uns etwa vorstellen, wenn wir zu unserem Gast sagen: „Das Wetter ist schön, machen wir noch einen kleinen Spaziergang!“ Einer mag an den blühenden Flieder im nahegelegenen Park denken, ein anderer an den Seerosenteich in seiner Mitte, doch was sie meinen, ist dasselbe.
Wenn wir meinten, was wir uns dabei denken oder vorstellen, käme keiner, dem wir es mitteilen, je zum Verständnis des Mitgeteilten.
Das Proton Pseudos der Philosophie ist die Annahme, wir bezögen uns mit dem, was wir meinen, auf die Idee, die Vorstellung oder das Wahrnehmungsschema, worunter wir den mitgeteilten Begriff fassen.
Wir beziehen uns aber mit dem Begriff, etwa dem Begriff „Kanne“, nicht auf die Vorstellung oder das Wahrnehmungsphänomen einer Kanne, sondern auf die Kanne sensu strictu, wenn wir etwa den Tischnachbarn bitten: „Reich mir doch bitte die Kanne!“
Die Unterscheidung von Phänomen und Sache gehört zu den tiefsten Torheiten der Philosophie, die von Platon über Kant, Fichte, Hegel und die Idealisten bis zu Husserl und den Phänomenologen oder den logischen Positivisten ihre fatalen Spuren hinterlassen haben.
Vielfach erwächst das philosophische Mißverständnis aus einer Verwechselung von Phänomen und Symptom: Schweißausbrüche, Gliederschmerzen, Husten und Fieber sind, was wir zurecht Symptome der Krankheit namens Grippe nennen. Wir geben die Ansteckung mit einem bestimmten Virentyp als Ursache der Erkrankung und ihrer Symptome an; aber wir liegen logisch-grammatisch falsch, wenn wir diese Symptome als Phänomene beschreiben, hinter denen sich die eigentliche Sache namens Grippe oder das sie verursachende Virus verbergen. Denn Schweißausbrüche, Gliederschmerzen, Husten und Fieber sind die „eigentliche Sache“, wenn wir dem Patienten die Krankheit namens Grippe zuschreiben, und das Virus ist die „eigentliche Sache“ in dem Falle, wenn wir ihre Ursache angeben.
Es ist natürlich Unsinn zu sagen: „Denk dran, morgen besuchen wir unseren Freund Peter. – Jedenfalls die Person, die wir Peter nennen und deren körperliche Erscheinung wir schon oft wahrgenommen haben; freilich wer und was Peter, wie die Philosophen sagen, an sich und eigentlich ist, der noumenale Peter halt, das entzieht sich unserer Kenntnis.“
Es geht bei manchen Philosophen ähnlich grotesk zu wie in der jüdischen Kabbala, die den Leuten neben ihrem bürgerlichen und gewöhnlichen Geburts- und Taufnamen einen geheimen, ihnen selbst verborgenen mystischen Namen zuschreibt, der ihr eigentliches ontologisches Wesen unmittelbar zum Ausdruck bringt. – Nur leider kennt ihn niemand außer Gott.
Das grammatisch-logische Unkraut der Philosophen wuchert auf dem fetten Gartengrund, der neben den genießbaren Gemüsesorten des regulären Sprachgebrauchs auch ihre degenerierten, ungenießbaren und verderblichen Vettern hervorbringt.
So finden wir neben den regulären Formen im Gebrauch des Verbums „scheinen“ (und all seiner Ableitungen wie „Schein“, „Anschein“, „scheinbar“, „Erscheinung“) auch all ihre irregulären, zu Schein-Sätzen und Schein-Gedanken verlockenden entarteten Varianten. „Es scheint Regen zu geben“ bedeutet „Es könnte regnen oder auch nicht“; „Er scheint verlegen zu sein“ bedeutet „Sein Erröten könnte der Ausdruck von Befangenheit oder eines schlechten Gewissens sein“; „Sie gibt sich den Anschein, ihren Studienabschluß ernsthaft in Angriff zu nehmen“ bedeutet dasselbe wie „Scheinbar nimmt sie ihren Studienabschluß ernsthaft in Angriff“, nämlich: „Sie tut nur so, als büffele sie zu Hause ihr Lernpensum, in Wahrheit treibt sie sich mit ihrem neuen Freund herum.“
Der Satz „Er ist eine imponierende Erscheinung“ ist ein sinnvoller deutscher Satz, dagegen ist der Satz „Farben sind bloß Erscheinungen, doch die Dinge, die uns farbig erscheinen, sind in Wahrheit farblos“ ein philosophischer Unsinns-Satz.
Wenn uns etwas so erscheint, wie es in Wahrheit nicht ist, sprechen wir über dasselbe Etwas, wie etwa über den Mond, der uns in dunstiger Atmosphäre manchmal riesengroß und zum Greifen nahe erscheint, doch eben jener und derselbe Mond ist, von dem uns die Astronomie die wahre Entfernung und Größe angibt, und keine unsere Sinne täuschende Erscheinung derart, daß sich dahinter der wahre Mond versteckt. Dagegen sprechen wir anläßlich der farbigen Phänomene von etwas anderem als von den Dingen, die ihnen kausal zugrundeliegen (wie Photonen und neuronale Prozesse) und angeblich farblos sind; denn Photonen oder Neuronen das Prädikat „farbig“ abzusprechen oder das Prädikat „farblos“ zuzusprechen zeugt von grammatisch-logischer Torheit.
Nach Platon und Kant gehören das Phänomen und die Idee und das Ding an sich oder die eigentliche Sache, deren Phänomen es ist, ontologisch unterschiedlichen Kategorien an, die platonische Idee thront in der von physischer Verderbnis und Zeitlichkeit unberührten ewigen Sphäre, das Ding an sich verbirgt sich in der noumenalen Dimension, die von der phänomenalen Dimension und unserer Erfahrung mittels der Formen der Anschauung und der Kategorien des Verstandes abgetrennt in einem ontologischen Vakuum liegt. Freilich, hier bleiben uns eine Tautologie und eine logische Trivialität nicht erspart: Über das, was gänzlich abseits von den Wegen unserer Erfahrung und sprachlichen Darstellung liegt, können wir nun einmal nichts sagen. Und andererseits bedürfen wir nur der Erfahrung und der Weisen ihrer Darstellung und Mitteilung, um zu sagen und mitzuteilen, was zu sagen und mitzuteilen ist.
Die Person, die einer Straftat verdächtigt wird, gelangt vom ontologischen Status eines vermeintlichen Diebes zu dem eines wirklichen Diebes, wenn ihr die Straftat durch öffentlich kontrollierbare Verfahren der Tatfeststellung nachgewiesen wird. Die Vermutung, jemand habe die Grippe, wird anhand einer Fiebermessung bestätigt. Doch der Ausruf „Wie schön es heute ist!“ wird nicht durch die Beobachtung des Sonnenscheins und der Schön-Wetter-Wolken bestätigt, sondern ist ein Ausdruck der Wahrnehmung dieser Wetterphänomene, hinter denen sich nicht verbirgt, was wir schönes Wetter nennen, sondern die eben das schöne Wetter ausmachen.
Mit dem Ausruf „Ich!“ des Schülers auf die Frage des Lehrers, wer den Abschnitt lesen möchte, wird nicht auf ein geheimnisvolles Wesen hinter dem Phänomen der leiblichen Erscheinung des Sprechers verwiesen, das Philosophen auf den Begriff einer nur sich selbst vertrauten oder zugänglichen Subjektivität zu taufen belieben, sondern auf jemanden, den die Mitschüler Peter oder Paula nennen.
Was wir mit dem Gebrauch des Personalpronomens der ersten Person Singular meinen, hat keine ontologische, sondern eine grammatische Funktion im Umfeld der Verwendung aller anderen Personalpronomina. Aber diese Allerweltsweisheit wird von Meisterdenkern wie Kant, Fichte, Hegel und tutti quanti in den Wind geschlagen; denn sie suchen, ergründen oder ergrübeln hinter dem Pseudo-Phänomen des Subjekts ein tieferes, größeres, erhabeneres Subjekt, letztlich ein Surrogat des christlichen Gottes, an den sie in Wahrheit nicht mehr glauben.
Die Subjektphilosophie des deutschen Idealismus ist eine Krypto-Theologie von Philosophen, die es nicht verschmerzen konnten, daß ihnen der bunte Schleier ihres Kinderglaubens von den Furien der Aufklärung heruntergerissen worden ist, und nunmehr vergebens Gebete durch eine dialektische Litanei von metaphysischen Schein-Sätze zu ersetzen suchen.
Die These der Idealisten vom Weltsubjekt ist der Ausdruck des menschlichen Elends, in der Leere zwischen den Gestirnen kein Alter Ego gewahren zu können; die Torheit des verlassenen Kinds, im Brausen des Winds, im Rauschen der Zweige, im Tosen der Wellen eine Stimme zu hören, die zu ihm spricht; und auch wenn sie noch so bedrohlich wirkt, es fühlt sich nicht mehr allein.
Noch beim Heidegger der Kehre finden wir ein ominöses Etwas, das sich aus den Tiefen des sich immer wieder verbergenden und entziehenden Seins dem zum reinen Toren gewordenen Menschen zuspricht, wenn er nur fromme Ohren hat zu hören.
Verzweiflung aber spricht aus der kindlichen Logik Platons, wenn er, wie wir alle die endgültige Verwesung der beseelten Körper vor Augen, aus der vorgeburtlichen Erinnerung an angeblich ewige Ideen auf die Unsterblichkeit der Seele zu schließen wähnt.
Welche Torheit, aus der scheinbaren Selbstgewißheit des Cogito auf die Existenz eines sie garantierenden Gottes schließen zu wollen.
Das Erbe jener Truggebilde der platonischen Ideen sind die leeren humanistischen Begriffshülsen von Gerechtigkeit, Freiheit und Gleichheit, die das Gott-Surrogat der humanistischen Religion, die Menschheit, endlich zu seiner wahren Offenbarung finden lassen sollen.
Mag sein Herr dem Hund wie eine erhabene Gottheit erscheinen; wie aber vermag der Glaube des Philosophen im Dunkel, aus dem wir stammen und in das wir wieder zurücksinken, ein Licht zu erblicken, das heller scheint als das lumen naturale, von dem er wähnt, es sei ihm von jenem verliehen worden?
Es ist eine törichte Form des Selbstwiderspruchs, wie Hegel anzunehmen, der von ihm postulierte Weltgeist berge ein höheres Wissen als er selbst.
Torheit, einem endlichen oder einem zum Weltgeist aufgeblähten Cogito Gewißheit und absolutes Wissen zu unterstellen, wenn Wissen das ist, was man als solches nur bezeichnen kann, wenn es sich im Fall des Falles auch als unwahr oder als nur scheinbares Wissen erweisen können muß.
Existenz und Sosein sind Formen der Kontingenz. Wir können weder aus einer logischen Wahrheit auf eine empirische noch aus dem Vorliegen einer Tatsache folgern, daß es so und nicht anders hat kommen müssen. Für die Auguren des Weltgeistes wie Hegel und die Propheten der Geschichtsphilosophie wie Benjamin und Adorno ist das anders. Wer in den Eingeweiden der Geschichte zu lesen versteht, dem offenbart sich der göttliche Wille und jene Vorsehung, nach der die Gestalten der Freiheit mit Notwendigkeit (sic!) vom Orient zum Okzident heraufziehen und im preußischen Staat sich vollenden; der kennt das historische Gesetz, gemäß dem die Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft mit Notwendigkeit in der proletarischen Revolution gipfelt.
Die Rede von historischen und sozialen Gesetzen, gemäß denen Ereignisse mit Notwendigkeit erfolgen, ist schlicht ein Auswuchs der philosophischen Torheit, empirischen Aussagen den falschen Anstrich von logisch notwendigen Wahrheiten zu geben.
Was wir historische und soziale Ereignisse nennen, ist ohne die mehr oder weniger große Willkür der Absichten von Handlungen und der Unvorhersehbarkeit ihrer näheren und ferneren Auswirkungen nicht denkbar; wäre Karl Martell vor der Schlacht von Poitiers mit dem linken Fuß aufgestanden oder wären die Ungarn nicht willens gewesen, den erschöpften Wienern gegen den Vormarsch der Osmanen beizuspringen, ertönten (schon längst) um uns nicht Glocken, sondern die Rufe des Muezzins; wäre der arme Schlucker und Bewohner von Männerwohnheimen in Wien, der sich später als Führer des großdeutschen Reiches in Szene setzte, zu jener Zeit mit seiner Bewerbung an der Kunstakademie erfolgreich gewesen, hätte das Buch der Geschichte ihn höchstens mit einer kleinen Fußnote bedacht („zweitklassischer Landschafts- und Historienmaler in der Manier Lenbachs und von Strucks“), ihm aber keine ausufernden Kapitel über den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust widmen müssen.
Philosophische Torheit, sich zu wissen anzumaßen, was an der Zeit ist, wie Adornos Torheit, aus der Existenz der atonalen und seriellen Musik auf ihre gesellschaftliche Notwendigkeit und die sie zur Ohnmacht und Rückständigkeit verurteilende Hohlheit der Tonalität schließen zu wollen.
Freilich, Adornos Torheit ist auf dem fatalen Totenanger des Hegelschen Idealismus erblüht; denn Hegel gemäß ist die Welt eine Erscheinung und die Geschichte eine Offenbarung Gottes, also ist alles an ihnen mit der höheren Weihe der Notwendigkeit gesegnet. Daher der arrogante und unerbittliche Zug im Denken vor allem der Linkshegelianer, in deren Augen die Avantgarde der Kunst keiner künstlerischen Rechtfertigung bedarf, weil sie der aggressiv bemalte Schild der politischen Avantgarde ist. Mit einem zynischen Grinsen händigt der radikale hegelianisch gedrillte Intellektuelle den revolutionären Führern den Freibrief für den Blutzoll aus, den die soziale Revolution, als notwendiger Umbruch in der säkularen Heilsgeschichte, nun einmal verlangt.
Philosophische Torheit, aus dem Dunst der Befindlichkeiten des Zeitgeistes eine anthropologische Bestimmung oder ein Existential wie die Aufgabe der Aufklärung bei Kant oder die Angst bei Heidegger kondensieren zu wollen.
Torheit, in pseudoreligiöser Schwärmerei nicht einen fatalen Beleg der menschlichen Geistesschwäche, sondern einen zu feiernden Vorzug zu entdecken, ob es sich nun um den Tanz um das Goldene Kalb oder den Freiheitsbaum der Französischen Revolution (Hegel, Fichte, Schelling), die Fackelaufmärsche der Rot-, Schwarz- und Braunhemden (Lukács, Heidegger) oder die von wohlfeiler Wissenschaft akklamierten Prozessionen fanantischer Flagellanten aus der Sekte der Weltklimaretter handelt.
Wir bedürfen keiner Vorstellung von unserer physischen Erscheinung und keiner Bilder oder Assoziationen unseres Seelenlebens, um im Gespräch die erste Person Singular des Personalpronomens in konsistenter und korrekter Weise zu verwenden.
Es genügt uns für den Hausgebrauch, die Zahl Vier ohne emphatischen Bezug auf eine platonische Idee oder ein kantisches Anschauungsvermögen reiner Formen von Raum und Zeit zu definieren, sondern der schlichte Hinweis auf Wendungen wie „die Anzahl von Beinen, die Mäusen, Hunden und Kühen gemeinsam ist“. Desgleichen genügt uns für den Gebrauch der Begriffe „wahr“ und „falsch“ der Hinweis auf die rein logische Bedeutung von Sätzen wie „Es regnet oder es regnet nicht“ und „Es regnet und es regnet nicht“, für deren Bestimmung als (notwendig und immer) wahr beziehungsweise falsch wir keiner Rückgriffe auf meteorologische Beobachtungen bedürfen.
Wenn wir philosophisch hinterhältige Begriffe wie „Erscheinung“, „wissen“, und „ich“ am Leben unserer Sprache auf ihren korrekten, sinnfälligen und konsistenten Gebrauch hin abgetastet und überprüft haben, müssen wir Begriffsbildungen und vertrackte Wendungen wie „das Ding an sich, das sich in der Erscheinung verbirgt“ (à la Kant), „das absolute Wissen“ (Hegel) oder „die sich in der Angst offenbarende Einsamkeit des Ich“ (à la Heidegger) als unsinnige Auswüchse philosophischer Torheit betrachten.
Comments are closed.