Die archetypische Redesituation
Philosophische Sentenzen und Aphorismen
„Dort!“, flüstert der Jäger oder der Krieger seinem Kameraden eindringlich zu, wenn er ihn, mit dem Wort und dem Fingerzeig zugleich, auf die Nähe der zu erlegenden Beute oder des bewaffneten Feindes hinweist.
Wir können Äußerungen wie „Dort!“, „Jetzt!“, „Vorwärts!“, also Aufforderungen und Befehle nicht zeichnen oder rein grafisch darstellen; sie bedürfen des sprachlichen Ausdrucks.
Die Verlautbarung eines Befehls durch den, der über die Autorität, etwas zu befehlen und anzuweisen, verfügt, sowie die Ausführung des Befohlenen durch den, der in seinem Dienst steht, scheinen eine der primitiven Formen sozialer Kooperation darzustellen, die vor der Existenz einer artikulierten Sprache nur rudimentär ausgeprägt, nicht aber zur sozialen Vollgestalt entwickelt worden sein konnten.
Das Bild auf dem Warnschild, auf dem der Autofahrer Steine von einem ragenden Felsen herabbröckeln sieht, kann seine präskriptive Funktion, auf die Gefahr des Steinschlags aufmerksam zu machen, nur im Kontext des Befahrens oder Begehens eines Weges zur Geltung bringen; ansonsten „sagt“ es nichts über eine mögliche Gefahrenquelle.
Es ist von großem Vorteil, wenn der Feind die Aufforderung „Dort!“ oder „Vorsicht!“ nicht versteht, weil er dieser oder der Sprache überhaupt nicht mächtig ist.
Der Befehlshaber weiß, daß der Untergebene seine Anweisung verstanden hat, wenn er sieht, daß er sie befolgt.
Die archetypischen Befehlshaber sind die Eltern, die archetypischen Hörer sind die gehorsamen Kinder.
Der Archetyp von Befehl und Gehorsam steht am Beginn der Religion; wobei nunmehr die hörenden und gehorsamen Menschen die Stellung von Kindern gegenüber den göttlichen Ahnen einnehmen.
Der Vater weiß, daß der Sohn seine Anweisung verstanden hat, wenn er sieht, daß er das Feld pflügt, die Saat ausbringt oder die Ähren schneidet.
Das Kind versteht die Züchtigung als Strafe dafür, den Anweisungen des Vaters nicht willfahrt zu haben. Der religiöse Mensch versteht die Krankheit, die Mißernte, den feindlichen Überfall als Strafe für eine Sünde, das heißt eine Form des Ungehorsams gegen die göttlichen Weisungen.
Die biblische Erzählung von der Offenbarung und Aushändigung der Befehle Gottes in Form der Gesetzestafeln an das jüdische Volk durch Mose können wir nicht als sagenhaftes Dokument vom Ursprung einer Religion überhaupt lesen, denn sie setzt die kulturgeschichtlich spätere Erfindung der Schrift voraus.
Die Anweisung Gottes an Abraham dagegen, aufzubrechen in das verheißene Land, die einen frühen historischen Horizont vor dem Aufkommen der Schrift aufweist,, bildet die religiöse Form der archetypischen Redesituation.
Anweisungen implizieren die Existenz von Gedanken, Gedanken aber sind Fragmente, Teilmengen oder Ausschnitte von Weltbeschreibungen; so impliziert die Anweisung „Vorsicht!“ den Gedanken „Dort nähert sich der Feind“, der wiederum Teil einer Weltbeschreibung ist, in der ein geographischer und kultureller Raum in die jeweils eigene und die korrespondierende fremde Welt untergliedert wird.
Welchen Gedanken und welche Art der Weltbeschreibung eine Anweisung impliziert, muß derjenige, dem sie gilt, aus dem Äußerungskontext und den Umgebungsbedingungen der archetypischen Redesituation erschließen.
Unvollständige Anweisungen können nicht oder nur scheinbar ausgeführt werden. Der Anweisung, den Haufen Bücher in das Regal einzusortieren, fehlt die Angabe des Kriteriums, gemäß dem eine solche Einreihung zu geschehen habe (nach Farbe, Sachgruppe, alphabetischer Reihe der Autorennamen).
Was wir einen Gedanken nennen, ist daher nur ein echter Teil einer Weltbeschreibung, wenn er Kriterien nennt oder enthält, nach denen die Elemente der zu beschreibenden Welt geordnet, gegliedert, strukturiert sind oder sein sollen.
Daher impliziert die archetypische Redesituation unter anderen Gedanken den Gedanken der Ordnung und Struktur, das heißt der Möglichkeit, verschiedene Gegenstände oder Weltelemente aufgrund des Kriteriums einer oder mehrerer spezifischer Eigenschaften verschiedenen Mengen zuzuordnen. Somit enthält die archetypische Redesituation keimhaft den Gedanken formaler Systeme, wie sie Logik und Mathematik zu entfalten berufen sind.
Keine Weltbeschreibung ohne Koordinatensystem. Der Nullpunkt des archetypischen Koordinatensystems ist der Ort des Sprechers, der Ort, an dem wir von uns in der ersten Person sprechen. Der Hörer muß demgemäß die Koordinaten des Sprechersystems in seine eigenen „übersetzen“; dies geschieht mittels einer geregelten Transformation. So befindet sich, was für den Sprecher links heißt, für den Hörer rechts, so heißt, was der Sprecher mit „du“ meint, auf Seiten des Hörers „ich“, und was der Sprecher meint, wenn er sagt „Ich glaube, dort droht Gefahr“, gibt der Hörer mit dem Satz wieder „Er glaubt, dort drohe Gefahr.“
Im cartesischen oder objektiven Koordinatensystem sind die Spur des Sprechers und die archetypische Situation der Rede zugunsten metrischer Angaben über Vektoren oder in Zahlenverhältnissen darstellbare Funktionen und Gleichungen, beispielsweise die Funktion x2 oder die Gleichung y = x2–1, aufgelöst und getilgt. Wir könnten mittels einer solchen Metrik die labyrinthischen Verläufe unserer Lebensbahn zwar objektiv darstellen, ermangelten aber der Möglichkeit, sie als Bahn unseres eigenen Lebens zu identifizieren.
Anweisungen oder Aufforderungen im Kontext der ursprünglichen Redesituation implizieren, wie gezeigt, Gedanken; Gedanken aber können immer in der Form deskriptiver Aussagen dargestellt werden. Ihr Kern oder das, was wir den Satzradikal nennen können, der in allen Aussagemodi wie Aufforderung, Frage oder Zusage als deskriptive Konstante fungiert, besteht demnach in einem Ausdruck, dem wir eine referentielle Bedeutung zuweisen, wie dem Ausruf „Vorsicht!“ in der gegebenen Äußerungssituation die Bedeutung „gefährliches Tier“.
Der Satz „Junggesellen sind unverheiratet“ stellt eine definitorische Tautologie dar, er hat keine referentielle Bedeutung. Nur nichttautologische oder kontingente Aussagen wie „Peter ist ein Junggeselle“ haben eine referentielle Bedeutung. Wir erkennen dies daran, daß es sich aufgrund näherer Beobachtung herausstellen mag, daß Peter kein Junggeselle ist, aber keine noch so intensive empirische Untersuchung die Wahrheit der Annahme bestätigen könnte, daß dieser oder jener Junggeselle verheiratet ist.
Die Tatsache, daß wir in unseren Annahmen falsch liegen können, ist die unmittelbare Folge der Kontingenz unserer empirischen Aussagen. Daher können wir kein mathematisch fundiertes System der Semantik bilden, ohne kontingente Formen des Urteils, und dies sind die für unsere Lebensform entscheidenden, auszuschließen.
Wir können einen kontingenten Satz wie „Peter ist Junggeselle“ zwar formalsemantisch in den Funktionsausdruck „x ist Junggeselle“ auflösen, erhalten aber für das Argument „Peter“ nur einen eindeutigen Wahrheitswert, wenn wir Peters Identität durch andere als logische Verfahren festgestellt haben.
Die primitive Aufforderung der archetypischen Redesituation kann keine spontane Lautgebärde sein, die über die emotionale Gestimmtheit des Sprechers hinaus nicht auch das granum salis eines bedeutsamen Gedankens enthielte. Selbst die spontane Bekundung des Erstaunens in der Lautgebärde „O!“ enthält den Gedanken oder den intentionalen Gehalt hinsichtlich des Gegenstands, der das Erstaunen ausgelöst hat.
Wir können nicht annehmen, daß sich Gedanken in letzte nichtintentionale und nichtreferentielle neuronale Elemente, Strukturen oder Ereignisse auflösen ließen, ohne uns in Widersprüche zu verstricken; denn neuronale Strukturen und Ereignisse können nichts darstellen oder bedeuten, demnach keine internen Elemente sprachlicher Handlungen oder sprachlich dargestellter Gedanken sein. Die Warnung „Vorsicht!“ aber muß von etwas handeln oder sich auf ein gefährliches Objekt beziehen, dessen Gegebenheitsweise phänomenal, nicht jedoch neuronal sein muß.
Wesentlich für die Struktur des Urteils, in die wir unsere Gedanken kleiden, ist die Möglichkeit seiner Negation. Der Hörer mißachtet die Warnung, weil er aufgrund von Beobachtungen zu dem Urteil gelangt ist, daß an besagtem Ort kein gefährliches Tier auf der Lauer liegt.
Die Aussage „Dort ist kein gefährliches Tier“ bedeutet, daß von allen Tieren, denen wir das Prädikat „gefährlich“ zuschreiben, nicht eines sich an dem gemeinten Ort aufhält. Die singuläre Aussage impliziert demnach eine universelle oder All-Aussage.
Die Warnung „Vorsicht!“ impliziert unter den angemessenen Umständen, daß dort beispielsweise ein gefährliches Tier lauert, auch wenn sich herausstellt, daß dies nicht der Fall ist. Wir bilden demnach schon mit den primitiven Äußerungen der archetypischen Redesituation Modelle alternativer Weltbeschreibungen, insofern die Negation der Annahme, daß dort ein gefährliches Tier lauert, die Möglichkeit einer Situation und Beschreibung impliziert, in der es hätte der Fall sein können, daß dort ein gefährliches Tier gelauert hätte.
Aus dieser Beobachtung folgern wir die Tatsache, daß die archetypische Redesituation alle komplexen sprachlichen Strukturen enthält, die uns dazu dienen, nicht nur die Bedeutung der Beschreibung bestehender Weltzustände in der Form „wenn p, dann q“ oder nichtbestehender Weltzustände in der Form „wenn p, dann nicht q“ gedanklich zu erfassen, sondern darüber hinaus auch kontrafaktische Annahmen der Form „wenn nicht p, dann nicht q“ zu bilden.
Der Ausruf „O!“ ist der Keim sowohl des dichterischen als auch des philosophischen Gedankens in der archetypischen Redesituation. Wir teilen mit ihm unser Erstaunen über etwas Unerwartetes, bisher Übersehenes oder nicht Bedachtes mit und wollen dadurch zugleich die Aufmerksamkeit des Hörers auf ein Phänomen lenken, das wie die strahlende Augenimago auf dem Flügel des Falters, der Gesang der Nachtigall oder die Stille und das transparente Licht über der schneebedeckten Landschaft durch seine außeralltägliche Aura bestrickt oder wie die Leuchtspur des Kometen, die Sonnenfinsternis oder die Unverständlichkeit der Sprache des Fremden durch seine rätselhafte Erscheinung verblüfft.
Der Ausruf „Ach!“ ist die Lautgebärde der sich selbst fühlenden und keiner Geschwisterseele gänzlich mitteilbaren Einsamkeit, ob in der Leere, die der Verlust eines geliebten Wesens aufgetan hat, oder angesichts des flimmernden nächtlichen Sternenhimmels, der sich in den ungeheuren Weiten verliert, die Pascal als Abgrund empfand, Gebärde einer Klage, die uns nicht einmal das Lächeln des Sonnengottes, des gütigen und grausamen Vaters aller Taggestalten, zu mildern vermag, nicht einmal im Rieseln und Rauschen des Wassers verhallen will.
Comments are closed.