Subjektivität und Objektivität
Philosophische Sentenzen und Aphorismen
Subjektivität ist die Voraussetzung und conditio sine qua non von Objektivität.
Subjektivität und Objektivität, Wahrnehmung und Welt sind korrelative Begriffe. Der Kontext subjektiver Wahrnehmung und Erwartung unterliegt objektiven Erfüllungsbedingungen; worüber ich reden kann, muß von der Rede eines anderen bestätigt oder verworfen werden können.
Daß wir etwas wahrnehmen und erfahren, daß wir über etwas reden, das existiert oder nicht existiert, ist das offenbare Geheimnis, nicht was wir wahrnehmen und erfahren, nicht worüber wir reden.
Zahlen gibt es nur im logisch-symbolischen Raum des Zählens.
Die Bedingung korrekten Rechnens umfaßt die Möglichkeit fehlerhaften Rechnens.
Farben gibt es nur, wenn wir an bestimmte Stellen des Wahrnehmungsfelds eine Farbskala anlegen. Werden sie deshalb zu bloßen subjektiven Empfindungen oder psychologischen Fiktionen? Nein, wir gehen ja unter Wahrung größtmöglicher Vorsicht nur bei Grün über die Ampel.
Liebe, das scheinbar subjektivste Gefühl, kann aufgrund fehlender Fürsorge oder eines Verrats in seiner Geltung objektiv in Frage gestellt oder bestritten werden.
Wie Zählen und Zahlen eine Funktion des logischen Raums, sind Gefühle und Handlungen eine Funktion des sprachlich kodierten sozialen Raums.
Man kann bei einer Rechnung oder Gleichung, die nur eine richtige Lösung hat, unbegrenzt viele Fehler machen.
Die sprachlich-grammatische Kodierung begrenzt den Sinn der Kommunikation; wer trotz der Feststellung der Tatmerkmale von Heimtücke und Habgier dem Mörder die Fähigkeit, intentional zu handeln, abspricht, verletzt den Sinn der Kodierung und begeht einen Kategorienfehler.
Rechte und Pflichten sind korrelative Begriffe.
Das Recht des Gläubigers auf verzinste Rückgabe des geliehenen Geldes ist das im Rechtscode festgelegte kategoriale Spiegelbild der Pflicht des Schuldners, die geliehene Summe mit Zins und Zinseszins zu begleichen.
Im Gegensatz zur religiös abgesicherten Staatsordnung der Römer, die ungewöhnliche Wetter- und Naturphänomene wie Gewitter und den Flug von Wahrsagevögeln durch Augurendeutung in die politische Entscheidungsfindung einbaute, gehören solche Phänomene gemäß unserer sprachlich-sozialen Kodierung einer anderen Ordnung, bloßer Natur, an.
Die sich begrüßen, werden sich auch voneinander verabschieden; es kann ein Abschied für immer oder ein Abschied in der Erwartung einer Wiederbegegnung sein. Die Eröffnung der Begegnung durch die Begrüßung und ihre Beendigung durch den Abschied sind korrelativ; wobei die Besonderheit eintritt, daß der Abschied die Erwartung oder den Ausschluß der Wiederbegegnung implizieren oder ambivalent beide Möglichkeiten offenlassen kann.
Was zwischen Begrüßung und Verabschiedung in den sozialen Räumen der Kommunikation geschieht, kann weder vorausgesehen noch gesteuert werden; es sei denn, es handelt sich um die Ausführung eines Rituals, aber dann sprechen wir nicht von der Erfahrung einer Begegnung, sondern von der Routine einer Handlungsmechanik. Jemand kann in der festen Absicht die Wohnung des Freundes betreten, es zum letzten Mal zu tun, und am Ende besinnt er sich eines Besseren.
Ist einer größer, älter, klüger als der andere, so ist dieser kleiner, jünger, dümmer als der erste; hier handelt es sich um relationale Begriffe. Ob die Antwort des einen auf die Frage des anderen diesen zu weiteren Aussagen veranlaßt oder zum Abbruch des Gesprächs, kann weder vorausgesehen noch willentlich gesteuert werden; Rede und Gegenrede sind korrelative Begriffe, insofern sie nicht nur die Möglichkeit der Fortführung des Dialogs, sondern auch die Möglichkeit seines Abbruchs implizieren.
Bei korrelativen Begriffen kommt die Möglichkeit der Negation und der Verwerfung zur Geltung.
Reden impliziert die Möglichkeit des Verschweigens, Aufklärung die Möglichkeit der Verdummung.
Die Tragödie impliziert die Möglichkeit der Komödie; das sprachliche Ingenium Hugo von Hofmannsthals hat dies beispielsweise in einer der schauerlichsten Tragödien, Elektra, durch Einsprengsel vulgären Geredes unter den Dienerinnen am Königshof angedeutet.
Die korrelative Struktur des Dialogs und der Kommunikation ist nicht anthropomorph oder nach dem Bild des Menschen gemodelt und interpretierbar; sie reden mit dem Mund, sie könnten auch Gesten mit der Hand ausführen, Schach oder Dame als Avatare im digitalen Raum spielen. Entscheidend ist aber, daß ihr Medium, das Gespräch, eine syntaktisch-semantische Struktur aufweisen muß, die wir wohl für spezifisch menschlich, aber nicht für menschenförmig ansehen.
Das Medium zwischen Subjektivität und Objektivität ist die Semantik und Syntax einer Sprache, die als natürliches und zugleich historisch-kulturelles Phänomen eine Fülle von zufälligen, als logisch-grammatisches Phänomen eine Reihe von notwendigen Merkmalen aufweist.
Da WIR mittels einer Sprache ETWAS ausdrücken, darstellen oder behaupten, was sich als wahr oder falsch erweisen läßt, sind Sprachen weder bloß subjektive Konstrukte noch rein objektive Gebilde.
Wir sprechen nicht über natürliche Phänomene oder kosmologische Ereignisse an sich, sondern über Aussagen im Rahmen einer als veraltet und überwunden angesehenen wissenschaftlichen Theorie wie der Theorie von Ptolemäus, Aristoteles und Newton oder über Aussagen im Rahmen von bis auf weiteres für gültig und fruchtbar erklärten Theorien wie jenen Plancks, Bohrs und Einsteins.
Auf eine Frage erwarten wir eine Antwort, doch müssen wir auch mit einem verdutzten oder abfälligen Schweigen rechnen; auf eine Bitte erwarten wir ihre Erfüllung, doch fallen wir nicht aus allen Wolken, wenn sie abschlägig beschieden wird; auf die Kundgabe eines Versprechens erwarten wir seine Einhaltung, doch verlieren wir nicht die Fassung, wenn sie ausbleibt. Die sprachlich aufgerichtete kommunikative Ordnung ist zwar an unseren Erwartungen orientiert, jedoch instabil, schwankend, von Unsicherheiten bedroht und von Unwägbarkeiten umlauert.
Charismatisch inspirierte Sprachhandlungen wie der Segen und der Fluch, die Weihe und die Beschwörung stellen sich in einen numinosen Kontext, der ihre Eindeutigkeit und unzweideutige Wirkung garantieren soll.
Zerfällt das Charisma, werden Blasphemien salonfähig.
Wir können uns keine Welt der durch Sprache vermittelten Subjektivität und Objektivität denken, in der all unsere sprachlich geäußerten Erwartungen permanent enttäuscht würden.
Jemand nimmt die ironisch oder rhetorisch gemeinte Frage wörtlich; jemand ordnet Farbbezeichnungen nicht Entitäten wie Blumen und Kleidern, sondern Flecken des Gesichtsfeldes zu; jemand bezieht Begriffe für bestimmte Charaktereigenschaften wie Intelligenz, Freundlichkeit, Güte, Jähzorn und Heimtücke nicht auf die Bereitschaft, unter gegebenen Umstände klug, freundlich, gütig, zornig und verschlagen zu reagieren, sondern auf mentale Zustände: Sprachliches Verstehen impliziert die Möglichkeit des Mißverständnisses.
Eine radikale Gruppe beansprucht eine neue symbolische Deutungshoheit; mittels Infiltration der Massenmedien gelingt es ihr, den bisherigen Sprachgebrauch in Mißkredit zu bringen und seine unbelehrbaren Anhänger unter moralischen Generalverdacht zu stellen. Doch aufgrund jener grammatisch-logischen Komponenten der natürlichen Sprache, die zu ihrer Tiefenstruktur gehören und nicht willkürlich zu steuern und beliebig abzuwandeln sind, steht das sprachliche Umerziehungsprojekt auf tönernen Füßen.
Ein pseudoreligiöses Charisma, das sich in einem Projekt der Welterlösung mittels Gender-Sprache und sakralen Windrädern kundtut und die Ungläubigen mit Sprachverbot belegt, ist dazu verurteilt, im Brackwasser einer trüben Moralität unterzugehen.
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