Ordnung und Verfall
Philosophische Sentenzen und Aphorismen
Dem Deutschen der Gegenwart leben oder gar dienen heißt im Sprachmatsch waten.
Jeder Kontakt bedeutet auch die Gefahr der Ansteckung mit giftigen Unwahrheiten und pathogenen Phantasmen.
Je näher man den Sachen rückt, umso fremder und rätselhafter wirken sie; je länger man lebt, umso unwirklicher wird alles.
Der Hunger und der Tod sind die großen Sklaventreiber. Nicht einmal Kafkas Hungerkünstler ist frei, nicht einmal der todesverachtende Märtyrer.
Alterstorheit zeigt sich im Stellen unmöglicher Fragen wie der, ob es nicht besser wäre, nicht geboren zu sein.
Angesichts all der feixenden Fratzen und gurgelnden Schlünde, auf die man traf, von den Greueln der großen Schnauzbärtigen einmal abgesehen, wird einem die Frage Cur deus homo immer enigmatischer.
Ob man seine Schwächen und Schwären mit schillernden Ordensbändern überdeckt oder ins warme Honiglicht von Klageleuchtern reckt, man bleibt an ihnen kleben, bleibt, ein verfitzter Faden, an sich selber hängen.
Worte, die man nicht länger im Munde führen will, weil an ihnen der Dunst der Lüge und die Spucke der Heuchelei haften.
Um sich aufrecht zu halten, muß er sich selbst vergötzen und beweihräuchern.
Es ist ein Vorurteil zu glauben, ein Volk, das die größten Dichter und Denker hervorgebracht hat, sei von sich abgefallen, weil es auch den größten Narren und Verbrechern gehuldigt und sich ihnen preisgegeben hat.
Ob wir uns durch den Blick des anderen erhöht oder gedemütigt, bestätigt oder beschämt fühlen, wir sind allemal nicht bei uns selbst.
Die sich zur Herrenrasse überhoben, müssen fremden Völkern dienen.
Der Rhein ließ sich begradigen, doch der Strom des Lebens zernagt die frisch befestigten Ufer immer aufs neue.
Das Wort Heimat verliert seinen Sinn, wenn die Ahnen in ungeweihter Erde ruhen oder ihre Grabmäler geschändet und umgestürzt sind.
Je sorgfältiger betrachtet, je genauer beschrieben, umso kühler, fremder, mysteriöser der Eindruck.
Die Gnadenkapelle sog ihre magische und heilbringende Aura aus der heidnischen Quelle, über der sie errichtet worden war.
Wir fegen und wischen, täten wir es nicht, erstickten wir bald im eigenen Kehricht. Welchen Besen haben wir, den Haushalt der Seele auszumisten?
Die Ordnung, die uns gewährt ist, bedarf des unermüdlichen Kampfes wider die Mächte der Unordnung und des Verfalls.
Wer entkräftet liegen bleibt, verklärt seine Ohnmacht mit einer verlogen-blumigen Rhetorik der Nächstenliebe und heuchlerischen Euphemismen einer universalistischen Moral.
Eines Tages wacht man auf, in einer Hand gelähmt, auf einem Auge blind, auf dem Küchentisch die Todesanzeige des Freundes oder der Geliebten.
Je sublimer der Gedanke, umso fragiler das Gleichgewicht seiner Bestandteile.
Gelähmt in der Öde des Herzens, umspukt in der Krypta des Geistes, greift ein dostojewskischer Held zum Messer, um überhaupt etwas bewirkt, überhaupt eine Tat getan zu haben.
Die Lust ist der schnell rinnende, einsam glänzende Tropfen auf der zerfurchten Stirn der Begierde.
Wer die Menschheit retten will, hat sich selbst verloren.
Einsames weißes Blütenblatt auf dem Brackwasser der Kloake, das Antlitz des Erlösers unter der Rotte der römischen Soldateska.
Aus dem Urlaub in den Bergen heimgekehrt, pilgert der große Dichter zum Grab seines zwischenzeitlich verstorbenen Hündchens.
Auch wenn wir uns die Ohren zuhalten, wir hören das Seufzen der Erde unter dem unerbittlichen Pfluge in uns widerhallen.
Trost, daß jenseits des Menschen noch Wasser rauschen.
Langeweile baut Raketen und stürzt sich in den Abgrund zwischen Sternen.
Eine tiefe Einsicht des frühen Wittgenstein: Der Name für einen Gegenstand zeigt, daß er ein logisches Individuum ist, das wir im Satz durch ein spezifisches Symbol darstellen. Wir verstehen, daß es sich um denselben Gegenstand handelt, wenn dasselbe Symbol wieder auftaucht. Dabei ist die Tatsache, daß es den Gegenstand gibt oder nicht gibt, für den Aufbau der logischen Syntax ohne Belang.
Wir können nur etwas sinnvoll äußern oder etwas Sinnvolles sagen, wenn, was wir sagen, auch unwahr sein könnte; so wenn wir Hans Peter nennen, weil er ihm als seinem Zwillingsbruder wie ein Ei dem anderen gleicht, oder Hans Eigenschaften zusprechen, die nur auf Peter zutreffen, wie die Eigenschaft, an dem Ort und zu der Zeit in unser Blickfeld geraten zu sein, als er für uns unsichtbar zu Hause weilte.
Wir können etwas wissen nur, wenn wir es auch nicht wissen könnten; daher ist es unsinnig zu behaupten, daß es sich bei dem ego cogito oder dem intuitiv gegebenen Selbstbewußtsein um eine Form des Wissens handele, denn wir können, was wir sind, ja nicht nicht wissen oder etwa sagen: „Ich habe es wohl gesehen, aber weiß nicht genau, ob ich es war, der es gesehen hat.“
Sie wollen die Welt verbessern, aber nicht ihr eigenes übergriffiges Benehmen und lärmendes Gebaren.
Sie wähnen, der Kampf um die Reinheit der Meere und die Integrität der Natur rechtfertige die Verpestung der Sitten und die Verluderung der Sprache.
Sie sind närrisch genug zu glauben, beim grammatischen Genus handele es sich allemal um die semantischen Geschlechtsteile der Sprache, die eine neu in Mode gekommene obszöne Schamhaftigkeit hinter grell bemalten Feigenblättern und bunten Flicken zu kaschieren habe.
Bücher zu schenken ist oft eine Form mentaler Übergriffigkeit.
Strenge Diät der Lektüre ist der erste Schritt zur Erlangung geistiger Unabhängigkeit und schlanker Seelenanmut.
Vielleser sind oft wie geistig lahme Globetrotter, die den zu Hause Gebliebenen aus Reiseprospekten zitieren.
Dummheit ist das uferlose Meer, Weisheit das unter Wettern schwankende Schiff, das keinen Hafen findet.
Liederlich im Auftritt, schludrig im Ausdruck.
Der Sinn der Dichtung gleicht dem schillernden Tropfen, der sich aus dem Dunst und Nebel der Dämmerung kondensiert.
In der feinnervigen Verästelung des Blatts und in den harmonischen Proportionen des Gliederbaus der Tiere zeigt sich der Sinn des Lebens, wie in der logisch-grammatischen Struktur des Satzes der Sinn der Rede.
Die Vase fällt zu Boden und zersplittert in tausend Stücke, der Kristall wächst im Dunkel der Erde zu einer geheimnisvoll funkelnden Ordnung.
Chemische Elemente, Kristalle, Organismen deuten auf die Äquivalenz von Sinn und Struktur, Funktion und Wohlgeordnetheit.
Das Tagebuch bricht ab; etliche leere Seiten künden von unheimlicher Stille.
Die Kirchen tun nur noch so, als ob sie das Heil verwalteten; dieses entfloh, eine schüchterne Taube, längst in die traurigen Hinterhöfe, wo ihr der Zweifel Sonnenkörner streut.
Daß sie im täglichen Gebrauch verblaßt, ist keine Einrede wider die schöne Prägung der Münze.
Die garstigen Raben der Demagogie, des rhetorischen Muckertums und der Gesinnungsgängelei nisten gern im Dickicht des deutschen Charakters.
Man sinkt in die Anonymität des Lebens der Insekten; könnte eine Ameise eine Autobiographie verfassen, sie unterschiede sich in nichts von der ihrer Schwestern.
Dämonisch ist die Lust an der Zerstörung, die sich in den Mantel des großen Neubeginns hüllt.
Der Sinn des pflanzlichen Daseins ist die Bestäubung, in der sein Keim über den eigenen Verfall hinaus bewahrt bleibt. Daher der erstaunliche Aufwand an Prachtentfaltung, ätherischer Lockung und ornamentaler Anmut. Welcher Keim, wenn es nicht der physische der Nachkommenschaft ist, die schon im pubertären Geschwätz enttäuscht, bewahrt den Sinn eines individuellen menschlichen Lebens über seinen Verfall und Tod hinaus? Die unsterbliche Seele können wir nicht mehr glauben. Blieben auch die Anmut einer Geste und die einmal im Kairos der Begegnung aufging, die Knospe eines liebenden Worts, eine Weile im Gedächtnis der Treuen lebendig, die dankbaren Empfänger entgehen dem Schicksal nicht, nicht der Nacht des Chaos und Verfalls.
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