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Von dichterischer Gleichnisrede

26.05.2021

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Damit etwas als zweideutig gewertet werden kann, muß etwas anderes als eindeutig einleuchten.

Wäre alles zweideutig, wir könnten es nicht einmal wissen.

Müller heißen viele, doch der gemeinte wohnt in dieser Wohnung; oder ist der gesuchte Dieb.

Wir können mit dem, was wir sagen, den Sinn verfehlen; wäre dem nicht so, wir wüßten nicht, ob wir ihn jemals getroffen, ja überhaupt je etwas Sinnvolles geäußert haben.

Wir werden zurecht auf unseren Irrtum hingewiesen, wenn wir eine Tanne mit einer Fichte verwechselt haben. Wir können uns nicht mit der modischen Phrase herauswinden, alle Systeme der Klassifikation, alle Taxonomien und Ordnungssysteme seien arbiträr und willkürlich.

Wenn der eine Sprecher eine Tanne mit einer Fichte verwechseln kann, so mag ein anderer einen fir tree mit einer spruce, wieder ein anderer einen sapin mit einer épicéa verwechseln. Doch was jedes Mal dem Deutschen, dem Engländer und dem Franzosen widerfährt, ist dasselbe (dieselbe Art der Verwechslung).

Die wissenschaftliche Taxonomie belehrt uns, daß wir nicht ohne weiteres eine Tanne mit einer Fichte verwechseln können, sondern beispielsweise eine Weißtanne mit einer Rotfichte, ja eine Weißtanne mit einer Blautanne.

Wenn wir etwas anderes meinen als was wir sagen, wird uns das Leben korrigieren, der Kellner uns das bestellte Bier servieren, auch wenn wir an ein Glas Wein dachten.

Wenn wir der Gastgeberin zu ihrem Ehrentag feierlich einen Kaktus überreichen, verdienen wir ihr spöttisches Lächeln zurecht.

Auch wenn wir Virtuosen der Farbwahrnehmung und Farbbenennung sind und spielend Lindgrün, Tannengrün, Farngrün, Algengrün, Smaragdgrün, Turmalingrün, Jadegrün und manche andere Grünnuancen unterscheiden gelernt haben, genügt uns der simple Hinweis darauf, daß die Ampel auf Grün gesprungen ist, um zu wissen, wie wir uns zu verhalten haben.

Wie wir nicht in einem Atemzug ja und nein sagen oder an allem zugleich zweifeln können (ohne uns dem Verdacht der Verrücktheit, Unredlichkeit oder aufdringlicher Geltungs- und Großmannssucht auszusetzen), müssen wir an der Identität und Eindeutigkeit bestimmter Begriffe, Namen und Aussagen festhalten, um andere überhaupt ins Zwielicht der Zweideutigkeit rücken zu können.

Woher nehmen, wenn nicht stehlen? Doch wir haben es ja reichlich, von Mutter Natur und Stiefmutter Kultur.

So existieren wir nicht wie gewisse subatomare Teilchen in einem permanenten Unbestimmtheitszustand fluider Scheinexistenz und verwandeln uns nicht erst dann, wenn uns der Nachbar mal wieder in ein Schwätzchen verwickeln will und uns mit „Na, Herr N. N.!“ oder „Na, Frau N. N.!“ auf dem Treppenabsatz begrüßt, spontan in das jeweils angesprochene Geschlecht. Hier sorgt die Natur in den allermeisten Fällen gnädig für Eindeutigkeit und die Kultur zieht den Hut sprachlicher Konvention vor ihr.

Wenn wir unsere visuelle und sprachliche Farbpalette verfeinern und nicht eintönig und einsilbig immer nur von Blau reden, sondern von Himmelblau, Veilchenblau, Kobaltblau, Königsblau, Türkisblau, Caerulean und Azurblau, implizieren wir damit nicht, der Farbbegriff Blau sei aufgrund unserer nuancenreichen Sensorik und unserer ausgetüftelten Sprachpalette zu einer bloßen Fiktion oder in ontologische Unbestimmtheit herabgesunken.

Licht und Dunkel, Tag und Nacht, die Tageszeiten, die Jahreszeiten, Blühen, Reifen und Vergehen, die Gestalten, der Formenreichtum und die Taxonomien von Flora und Fauna – all dies sind Variationen auf das schicksalhafte Motiv der Ordnung, der Struktur, der sprachanalogen Gliederung natürlicher und künstlicher Formen, schließlich der logisch-grammatischen Ordnung der Sprache selbst.

Die Gestaltformen und Ausdruckscharaktere des Gedichts, vom Vers über die Strophe bis zu den Einzelformen der Ode und Hymne, von Terzine und Sonett, des Liedes und des Liederkranzes haben ihr Gleichnis in den Metamorphosen der Elemente, von Erde, Wasser, Feuer und Luft, den Bildungen und Wandlungen der Wolken, den Organen von Pflanzen und Tieren.

Arroganz technomorphen Denkens oder alles verrechnende Überheblichkeit verkennt die Koinzidenz, die Korrespondenz und tiefere Harmonie von Auge und Licht, Ohr und Klang, Sinnesorganisation und Sinn, Sprache und Leben.

Die Gleichnisrede des Gedichts legt Zeugnis ab von dieser Koinzidenz, Korrespondenz und Harmonie.

So begriff Hölderlin die Frucht des Weinstocks oder die Gabe des Dionysos, das Gedicht, in der alten mythologischen Gleichnisrede als Frucht der Hochzeit von väterlichem Strahl und mütterlichem Dunkel, von Himmel und Erde.

Der rechtens Gerügte blickt verlegen unter sich, der öffentlich Beschämte errötet und schleicht davon, der verdientermaßen Gelobte und mit einem Preis Ausgezeichnete nimmt Lob und Preis lächelnd und dankbar entgegen; die Rede ist schöpferisch, das Wort ist Tat und schafft seelische und moralische Wirklichkeiten.

Wer als befugter Repräsentant der strafenden Justiz dem überführten Kriminellen eine nichts weniger als heitere Epoche seines Erdenwallens ankündigt, schafft mit seinem Urteilsspruch eine höchst einschneidende soziale Realität, wer über den Oberbefehl verfügt und den Krieg erklärt, hat womöglich eine das Leben großer Massen prägende historische Zäsur bewirkt.

Der moralisch Empörte und der moralisch Blinde wollen mit dem sophistischen Hinweis auf die Wandelbarkeit und die Positivität von Recht und Gesetz die Eindeutigkeit der als strafwürdig geltenden Tat vernebeln und den Unterschied des rechtlich Erlaubten vom kriminellen Akt verwischen.

Bilden moralische Empörung und moralische Stumpfheit nicht oft den Januskopf desselben fragwürdigen Charakters?

Hätten wir aufgrund sorgfältiger Beobachtung des Nahrungsverhaltens der Waldtiere gewisse Eigenschaften von Früchten, Beeren und Pilzen nicht eindeutig objektiviert, die einen als nahrhaft, die anderen als giftig in unserer Taxonomie der Flora rubriziert, wären Magenverstimmung, Übelkeit und Erbrechen noch die geringfügigsten Folgen.

Wer die Aggregatzustände des Wassers, Regenschauer und kristalline Flocken, Tau und Reif, Dunst und Nebelschwaden, die frostigen Chiffren am Fenster, tropfende Eiszapfen, aber auch die Wandelgestalt der Wolken, Cumulus, Cirrus, Stratus, als symbolische Zeichen der Seele liest und verwendet, schreibt Gedichte.

Wer im gespenstischen Nebel des Morgens das unverhoffte Blau des Tages durchblicken läßt, kann, ohne es ausdrücklich zu machen, einen allgemeingültigen seelischen Vorgang dichterisch benennen und durch Benennung beschwören.

Sich natürlicher Formen und Vorgänge als Gleichnis zu bedienen, sollte nicht als poetische Lizenz mißverstanden werden, vor der am Gegenstand zu bewährenden und zu bewahrheitenden Genauigkeit des Nennens in ein vages, unbestimmtes Stammeln und selbstgefälliges Assoziieren oder in das Suchen nach verstiegenen Vergleichen auszuweichen.

Die Gleichnisrede kann aus allen sensorischen Quellen schöpfen, Tasten, Fühlen, Schmecken, Riechen, Sehen und Hören, und mit dem dargereichten Trunk seelischer Dürre und geistiger Engstirnigkeit abhelfen; so kann das frische Wasser kühlen und erquicken, das morastige, brackige beklemmend dunsten, Tauwasser unter verschneiten Büschen ahnungsvoll sickern und glucksen, der Nebel sich zu einem lichtlosen Labyrinth verdicken oder von einem kaum noch gehofften Frühlingshauch zerstreut werden.

Wie man mittels Grautönen und Variationen von Schwarz-Weiß-Mischungen in Tuschzeichnungen alle möglichen seelischen Imponderabilien darstellen kann, so auch anhand der Aggregatzustände des Wassers und der Wolkenbildungen in dichterischer Sprache.

Der die konventionelle Gleichnisrede vom alle Stimmen und Konturen verschluckenden Nebel gebrauchende Dichter tut gut daran, nicht seinerseits in sprachlichem Nebel herumzutappen, sondern die Vergleichsgegenstände und gleichsinnigen Aspekte seiner sprachlichen Mittel sicher und bewußt auf subtile und genaue Art und Weise zu setzen und zu benennen.

Wenn der Nebel des Gedichts gleichsam wider alles Erwarten und auf geradezu magisch-wundersame sprachliche Weise gelichtet wird, sind wir dem Glück des gelungenen dichterischen Ausdrucks nahe, weicht er aber nur dem angestrengten Blasen und Fächeln eines hohen rhetorischen Aufwands, läßt uns die mühsam errungene Aussicht eher verlegen oder verdrossen zurück.

Das gute Gedicht vermag der dürstenden Seele den Trunk aus einem bisher verborgenen Quell zu reichen, aber auch dem hungernden Geist eine Münze in die Bettelschale zu werfen, und ihr heller Klang läßt umso mehr aufhorchen, wenn ihr das geheimnisvolle, edle Siegel einer fremden Königsherrschaft aufgeprägt ist.

Es ist ein Ausdruck von Stupidität, zu glauben, man könne die Bedeutung eines Gedichts als Wegmarke auf dem Lebensweg des Dichters verstehen. Wie dann Ilias oder die Siegeslieder verstehen, haben wir doch von Homer und Pindar nur Bruchstücke meist legendärer Biographien.

Hätte die als engherzig-pietistisch stigmatisierte Mutter Hölderlin, so die albernen Unterstellungen der zeitgeistig befangenen Deuter, sein väterliches Erbteil ausbezahlt, wäre er vor einem unsteten Nomadenleben bewahrt worden und ihm wie Mörike ein beschauliches Dasein in einer schwäbischen Pfarre beschieden gewesen. Aber dann hätte er, bürgerlich saturiert, nicht die großen Elegien und Hymnen wie die Friedensfeier oder Patmos geschrieben.

Wer die Dichtungen Hölderlins als Versatzstücke der Psychologie, Psychiatrie oder Soziologie mißbraucht, beraubt das Dichterwort seiner Eigenständigkeit, Ausdrucksmacht und inneren Würde.

Diotima ist nicht das über dem Brokatdeckchen der Biedermeieranrichte schwebende idealisierte Bild einer Dame der guten Gesellschaft, die sich Dienstboten leisten konnte und deren Hände nicht vom Wäschewringen rot aufgequollen waren, sondern die Chiffre für eine äußerste Empfindungsmöglichkeit und sublime Fühlweise der menschlichen Seele.

Es hätte auch, wie bei Baudelaire, eine schöne, verführerische Mulattin sein können. Und diese ist wiederum nicht das idealisierte Bild vorzivilisatorischer Triebmächte, die bedauerlicherweise dem französischen Kolonialismus zum Opfer gefallen sind, ebensowenig wie nur das exotisch geschminkte, Zigarre rauchende Gegenbild der enggeschnürten, gepuderten Pariser Salondame.

Man kann dichterisch alles durch die Blume sagen.

Die befruchtenden Quellwasser des Reims versickern in der deutschen Trümmer- und Bruchlandschaft nach dem Krieg, ihr letztes Rinnsal, an dem immerhin noch eine ansehnliche Flora und vielblättrige Blumensprache dichterischer Gleichnisrede sproß, finden wir bei Wilhelm Lehmann.

Dann kamen die Blaumänner, jene Ingenieure und Techniker der Rede, die den Musenkuß als regressive Form eines infantilen Eros verdächtigten und jede Bezugnahme auf außeralltägliche, gar göttliche Quellen der Inspiration als Eingeständnis eines von Archaismen überwucherten Geistes denunzierten, dem die Neonsonne der Sprachlabore noch nicht die unerläßliche Aufklärung über die Trostlosigkeit des Lebens und die Eitelkeit und Unbezüglichkeit aller dichterischen Symbolik und Gleichnisrede verabreicht hat.

Jetzt klöppeln wieder zarte weibliche Hände barock verschlungene oder rokokohaft durchbrochene lyrische Spitzen, mit denen sie bisweilen aber nur rätselhaft starrende Blicke gedanklicher Unschärfe und ein in begrifflichem Zwielicht frostig schimmerndes Inkarnat verhüllen.

 

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