Torheiten
Philosophische Sentenzen und Aphorismen
Der Tor meint, das Gedächtnis sei eine Art Privatgalerie, zu der nur er den Schlüssel habe, mit Bildern, die nur ihm anzuschauen vergönnt sei.
Das Gedächtnis gleicht nicht einem zierlichen Schrein, in dem man alte Briefe und wertvolle Dokumente aufbewahrt: Man könnte vergessen, wo er sich befindet. – Wir können ja, haben wir den Inhalt eines alten Briefes vergessen, nicht das Schränkchen öffnen und ihn nachlesen.
Welche Dummheit zu glauben, etwas sei mit einem anderen oder gar mit sich selbst identisch, es sei denn in dem Sinne, daß der vulgäre Nachbar von nebenan sich als derselbe Mensch herausstellt, dessen als erlesen gefeierte und als geistreich erachtete wirre Glossen regelmäßig im Intelligenzblatt abgedruckt werden.
Wie geistlos zu glauben, eine Erinnerung an den ersten Schultag sei dasselbe wie das, was sich in Form von elektrischen Impulsen und neuronalen Ereignissen im Hirn dessen abspielt, der sich gerade an seinen ersten Schultag erinnert.
Wie töricht zu meinen, das Personalpronomen der ersten Person Singular stehe nicht nur für den Namen der Person, die von sich sagt „Ich gehe jetzt spazieren“, sondern darüber hinaus für eine mentale Instanz namens „Ich“, die konsequenterweise von sich sagen müßte: „Ich bin derselbe, der von sich spricht, wenn ich sage: Ich gehe jetzt spazieren.“
Aber zu sagen: „Ich bin derselbe, der von sich spricht, wenn ich sage: Ich gehe jetzt spazieren“ ist nur ein philosophisch verquaster und sinnloser Ausdruck für die eigentliche Äußerung: „Ich gehe jetzt spazieren.“
„Selbst“ ist keine mentale Instanz, sondern eine verstärkende Partikel des Satzes mit demonstrativem Charakter, welche die Urheberschaft der Handlung der in Rede stehenden Person unterstreicht, wie wenn ich sage: „Ich habe es selbst geschrieben (und nicht abgeschrieben).“
Wie töricht anzunehmen, ein Farbeindruck sei ein inneres Bild, eine subjektive Empfindung oder eine phänomenale Quale-Repräsentation des farbigen Gegenstandes, den man sieht. Mit welchem inneren Auge könnte ich denn wiederum sehen, daß es sich bei meinem inneren Bild um das Bild dieser Rose handelt, die ich gerade sehe, und wie beurteilen, daß ihre Farbe nicht Blau, sondern Rot ist?
Torheit zu meinen, die Zeitempfindung oder das Zeitbewußtsein beruhe auf der inneren Wahrnehmung eines Ablaufs von Bildern, subjektiven Zuständen oder Apperzeptionen eines Bewußtseinsstromes. Nichts dergleichen muß ich unterstellen, wenn ich mich an die gestrige Begegnung erinnere, wenn ich befürchte, es würde heute wieder ein langer Tag, wenn ich hoffe, morgen weniger Termine abarbeiten zu müssen.
„Inneres Zeitbewußtsein“ ist nur ein philosophisch verquaster und sinnloser Ausdruck, der die sorgfältige Beschreibung der Sprechakte, in denen wir Zeitadverbien wie soeben, jetzt, später oder gestern, heute und morgen verwenden, nicht ersetzen kann.
Das Kind singt „Hänschen klein“, doch ist, damit es das hinkriegt, sein Bewußtsein nicht wie eine fluide Substanz durch Retentionen und Protentionen gleichsam über den zeitlichen Ablauf der Melodie verteilt.
Das Verstehen des nimmer enden wollenden Satzes aus dem Roman von Proust beruht nicht auf der geheimnisvollen Selbstvergegenwärtigung eines kontinuierlichen Bewußtseinsstromes; es unterscheidet sich vom Verständnis der Kassiererin bei Aldi für den Satz des Kunden: „Ich möchte noch Geld abheben“ nur durch das geübte Geschick der Gedächtnisleistung.
„Erinnerst du dich daran, was du mir letzte Woche versprochen hast?“ – Ja, aber nicht an jedes einzelne Wort, nicht ob ich sagte: „Ich werde dir das Buch heute mitbringen“ oder ob ich sagte „Ich werde dir das Buch heute zurückgeben.“
Die Erinnerung ist nicht wie ein Knall, dessen Echo ich im Hohlraum meines Bewußtseins vernehme. Nehme ich so etwas an, beginnen sogleich die törichten Fragen wie: „Hat das Echo meines Bewußtseins die Lautstärke des wirklichen Knalls?“ – „Wird meine Erinnerung schwächer, weil das Echo im Hohlraum meines Bewußtseins allmählich verhallt?“
Wie töricht zu meinen, mein Gesprächspartner bewohne eine mir Nichtschwimmer für immer unzugängliche Privatinsel, von der her er mir verbale Rauchzeichen gibt.
Die Begriffsstutzigkeit von Philosophen ähnelt bisweilen der Verdutztheit und Verblüffung eines einfältigen Menschen, der den Witz oder die Pointe der Fabel oder den Sinn des Märchens, die man ihm erzählt hat, nicht versteht, und dann bohrend nachfragt: „Wirklich? Ist das so passiert? Können Tiere denn sprechen? Lebt die böse Hexe noch?“
Wie unverständig anzunehmen, was wir freier Wille nennen, sei wie der Impuls des Autofahrers, jetzt den rechten Blinker zu setzen, dem die Entscheidung vorausginge, nach rechts abzubiegen. Aber ich spreche frei und ungezwungen und nicht wie ein Automat, ohne mich zuvor für die Verwendung dieses oder jenes Wortes entschieden zu haben. Und der Fahrer setzt den Blinker nicht, nachdem er sich aufgrund der Überlegung, rechts abzubiegen, dafür entschieden hat, sondern er setzt den Blinker in der Absicht abzubiegen.
Der freie Wille ist nicht das, was sich im Hinterzimmer abspielt, wo der Generalstab tagt, die freie Handlung nicht das, was die Soldaten auf Geheiß des Generalstabs ausführen.
Der freie Wille ist nicht das Ziehen und Zerren des Puppenspielers namens Geist an den Drähten, die die Puppe namens Körper zum Tanzen bringen.
Es ist nicht so: Du überlegst, was du sagen willst, und deine Lippen und deine Zunge geben sodann deine Überlegung kund, sondern schlicht so: Du sprichst überlegt. Oder einmal konzentriert und verständig, dann wieder nachlässig und wirr.
Du hast den Schalter nicht versehentlich betätigt, sondern weil es dunkel wurde, hast du Licht gemacht.
Auch wenn du dem anderen im Gedränge versehentlich und nicht aus böser Absicht auf den Fuß getreten bist, entschuldigst du dich.
Der Kavalier, der der Dame aus dem Mantel geholfen hat und, nachdem sie sich freundlich bedankt hat, „Keine Ursache“ erwidert, will damit nicht die Spontaneität, Urheberschaft und Absichtlichkeit seines Handelns in Abrede stellen.
Was wir eine gute Tat nennen, ist keine aus dem moralischen Gesetz abgeleitete Handlung, die dessen hehrer Wächter und Hüter oder Gesetzgeber gegen den Widerstand des Körpers seinen bösen oder pathologischen Neigungen abringen muß, sondern ein Handeln aus ethischen Absichten, die sich von anderen Absichten, wie etwa der Absicht, dem Freund ein schönes Geschenk zu kaufen, nur dem Grad nach unterscheiden, etwa wenn man dem Freund mittels Geldüberweisung aus der Patsche helfen will.
Die törichte Überschätzung und Überschwänglichkeit abstrakter Imperative und moralischer Idealsprachen rührt von der ebenso törichten Unterschätzung und Geringschätzung der moralischen Alltagssprache mit ihrem Gebrauch konkreter Aufforderungen und Auszeichnungen oder dem Tadel bestimmter Handlungen wie des Helfens oder Schadens, Förderns oder Behinderns und von Haltungen und Einstellungen wie Großherzigkeit oder Ranküne.
Torheit erweist sich an der Unfähigkeit, Unterschiede von Kategorien und Typen von Gegenständen, Begriffen und Handlungen wahrzunehmen. So unterscheiden wir einen technischen Fehler bei der Ausführung eines Handwerks oder einer Rechnung von einem moralischen Fehler bei der Ausführung eines Verbrechens. Beim Rechenfehler sprechen wir von Zerstreutheit, Unkenntnis und mangelnder Begabung, beim Betrug, Diebstahl und Raubmord von Vorsatz, Schuld und krimineller Neigung. Oder wir unterscheiden den physiologischen Vorgang der Übertragung von nervösen Impulsen auf die Hand vom psychologischen Vorgang der geschickten oder ungeschickten Handbewegung; bei jenem sprechen wir vom normalen Funktionieren und krankheitsbedingtem Defekt, bei dieser von Zweckmäßigkeit und Versehen.
Der Tor fragt nach letzten Gründen, wo uns der unabweisliche Abbruch der Begründungsreihe an die Grenze des Sagbaren führt.
Das Herz hat seine Gründe, die der Logik und der Vernunft spotten.
Auch der Wahnsinn und die Bosheit verfolgen ihre Ziele methodisch und stellen oft eine virtuose Verstandesleistung anhand von scharfsinnigen Syllogismen unter Beweis, an denen der Logiker nichts zu mäkeln hätte. Der Paranoide hat das Handeln des Nachbarn vollständig durchschaut, und seine logischen und unwiderleglichen Schlüsse aus seinem Verhalten sind eben jene Schlinge, die sich immer enger um seinen Hals zieht. Der Bösewicht entwirft mit kühlem Kopf die Fallen, Mißhandlungen und Folterwerkzeuge, die seine heißen sadistischen Gelüste befriedigen.
Torheit verzweifelt vor der Bosheit, denn sie kann nicht akzeptieren, daß der Böse nicht aus Unverstand handelt, sondern obwohl er und weil er die Wahrheit kennt.
Der Böse quält die Unschuld, nicht weil er ihr Leiden nicht sieht, sondern obwohl und weil er es gerne mitansieht.
Den bösen Willen kann man nicht heilen und nicht wie Unkraut roden, sondern nur unter Quarantäne stellen.
Torheit anzunehmen, daß alle Wörter etwas bedeuten, daß alle Sätze nach dem gleichen Muster gebildet sind. Pronomina wie „ich“ und „du“ bedeuten nichts, wie die symbolischen Nennworte etwas bedeuten, „Haus“ Haus und „Maus“ Maus, sondern verweisen auf den Sprecher und den Angesprochenen, deren Namen freilich eine Bedeutung haben, die Identität ihres Trägers. Nicht nur folgen Fragen, Aufforderungen und ironische Bemerkungen einem anderen Muster als Aussagen, sondern auch Aussagen wie „Junggesellen sind unverheiratete Männer“ einem anderen Muster als etwa die Aussage „Der Rover ist auf dem Mars gelandet.“ Jene kann ich nicht überprüfen, sondern nur akzeptieren, diese muß ich ungeprüft nicht akzeptieren.
Es ist eine Zeichen von Begriffsstutzigkeit, Symptome oder Anzeichen mit Kriterien zu verwechseln. Schönwetterwolken am Abend sind ein Anzeichen für den morgigen schönen Sommertag. Der blaue Himmel des Folgetags ist kein Anzeichen für den schönen Sommertag, sondern ein Moment dessen, was wir einen schönen Sommertag nennen.
Fieber ist ein Grippesymptom, der Nachweis von Erregern im Blutserum ist ein Kriterium der Krankheit.
Das Lächeln des Gastgebers ist kein Zeichen der freundlichen Begrüßung, sondern ein Teil der freundlichen Begrüßung. – Wir schließen nicht vom Lächeln des Gastgebers auf seine Freundlichkeit, sondern nehmen es als Moment dessen wahr, was wir Freundlichkeit nennen.
Der Seitensprung des Gatten mit der Sekretärin ist kein Anzeichen der Untreue, sondern ein Akt der Untreue.
Die Logik ist ein Hilfsmittel zur übersichtlichen Ordnung unserer Aussagen, aber kein Fernrohr für einen tiefen Blick in die Tiefen des Seins.
Worte wie „alle“ und „nichts“ haben wie die Pronomina keine Bedeutung, sie sind nur Hinweise auf den Umfang, in dem eine Funktion wie F(x) in einem definierten Kontext erfüllt ist. So sagen wir schlicht: Für alle x, für einige (oder mindestens ein) x, für kein x gilt: F(x). Heißt F(x), der gemeinte Gegenstand hat die Eigenschaft, sichtbar zu sein, und ist der Kontext ein Zimmer, bedeutet die Aussage „Ich kann nichts sehen“ nicht, daß der Sprecher blind ist oder wie Alice im Wunderland suggerieren mag, sie könne das Nichts sehen (was eine außerordentliche Sehstärke erforderte), sondern etwa: „Es ist zu dunkel, um festzustellen, ob im Zimmer Gegenstände oder Leute sind.“
Eine der deutschesten Formen von Torheit ist die Verwechslung des grammatischen mit dem natürlichen Geschlecht, des grammatischen mit dem natürlichen Genus, deren aberwitzige Auswüchse als das neue Heil einer geschlechtergerechten Sprache gefeiert werden und zum ideologischen Sprech- und Schreibdiktat erhoben worden sind. Als würden unter „Finnen“, „Juden“ und „Hessen“ nur die männlichen Mitglieder dieser Gruppen befaßt, als müßten „der Täter“, „der Bote“, „der Fahrer“, „der Kollege“ ausschließlich Vertreter der Spezies mit Bart und Hoden sein. Man wartet darauf, daß neben den „Finnen“ nicht nur die „Finninnen“, neben den „Juden“ nicht nur die „Jüdinnen“, neben den „Hessen“ nicht nur die „Hessinnen“, sondern neben den „Deutschen“ auch die „Deutschinnen“ auftauchen.
Es ist töricht, darauf zu hoffen, daß uns die Naturwissenschaft demnächst über den Sinn unseres Erdenwallens ins Bild setzen werde. Aussagen über den Ursprung und die biologische Entwicklung des Lebens, über den Urknall oder die Möglichkeit extraterrestrischer Intelligenz können nicht den Sinn haben, den wir Aussagen über die Verwirklichung oder das Scheitern unser Lebenspläne zumessen oder Fragen wie, ob es sinnvoll ist, die brüchige Beziehung fortzuführen, oder ob es wirklich sinnvoll ist, sich weiter mit unlösbaren philosophischen Scheinproblemen zu befassen.
Ähnlich wie die Reihe möglicher Gründe bricht die Reihe möglicher Sinngebungen an der Grenze des Sagbaren ab. Es ist sinnvoll, den Kühlschrank wieder zu füllen, zumal wenn sein Inhalt auch anderen bekömmlich sein soll; es ist sinnvoll, die Ehe trotz aller Entfremdungen zugunsten der Sorge für die Kinder weiterzuführen; ob es nicht sinnvoll wäre, nach dem Weggang der Kinder eine aufrichtige, wenn auch schwere Einsamkeit einer geheuchelten, wenn auch bequemen Zweisamkeit vorzuziehen, steht dahin. Doch die Frage, ob es überhaupt sinnvoll war, zu heiraten und Kinder in die Welt zu setzen, übersteigt die Fähigkeit zu einer Antwort, weil sie vom Rahmen des so und nicht anders gelebten Lebens dessen eingegrenzt wird, der die Frage stellt.
Aller Sinn zerbricht an der tragischen Dimension des Daseins. Er sieht sie in tiefer Ohnmacht liegen und da er die Geliebte für tot hält, tötet er sich. Sie erwacht, und da sie den Geliebten tot an ihrer Seite findet, tötet sie sich.
Keine Vernunft, auch nicht die kommunikativ aufgehübschte, vermag den tragischen Schatten schönzureden oder zu vertreiben.
Manchmal behindert oder verwirkt die Art und Weise, wie wir sie verwirklichen, die Verwirklichung unserer Absicht. Manchmal verderben die Vordringlichkeit und Aufdringlichkeit unserer Absicht die Reinheit des Tuns.
Der Schauspieler, der nach der Wirkung seiner Rolle beim Publikum Ausschau hält und nach dem Applaus schielt, versinkt in hohlen Posen und stößt durch gespreizte Rhetorik und geschwollenes Pathos ab; der Maler, der schon während des Farbauftrags seine Signatur im gedämpften Licht des Museums leuchten sieht, verfällt ins Schrille, Grelle, Manierierte; der Pianist, der seinen verehrten Meister, der im Publikum sitzt, an Ausdruckskraft übertrumpfen will, verhunzt die Sonate durch einen allzu pointierten Anschlag oder ein zerdehntes Adagio
Das Feuer der Revolution, das die morschen Stützen der Gesellschaft verzehren sollte, führt zu einem Flächenbrand.
Der sehend gewordene Ödipus blendet sich.
Der radikale Kritiker hat mit dem Unkraut auch die Rosen und Lilien ausgerissen.
Der Tor hat das Öl seiner Lampe und die Substanz seines Gemütes schon aufgebraucht, wenn die Dämmerung hereinbricht.
Das Großmaul, der Schönredner, der polyglotte Bramarbasierer, sie haben alle Worte verbraucht, sie sind verstummt und erstarrt, wenn es Abend wird und das eine schlichte Wort Not täte, um den unerwarteten Gast zu begrüßen.
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