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Das Seltene den Seltenen

21.02.2021

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Was wir leibhaftig, fühlend, begreifend berühren und umfassen können, wirft nicht den Schatten einer Frage.

Fragen und Probleme sind Schatten, die von der Sonne der Gewißheit zeugen.

Zweifel sind Falten im Angesicht, die das Lächeln hervorgerufen hat, Mulden im Sand, die der Meereswind verweht, wieder heranrollende Wellen glätten.

Du hast deinen Schlüssel verloren, den falschen Weg eingeschlagen. Du läßt das Schloß auswechseln, du gehst den Weg zurück bis zur fatalen Kreuzung.

Der Philosoph, der die Bedeutung von Begriffen wie „Bedeutung“, „Ich“, „Bewußtsein“ vergessen hat, muß den Irrweg bis zur fatalen Kreuzung zurückgehen, vor deren Erreichen er sie wie jedermann und alle Welt sinnvoll und fraglos verwendet hat.

Die Welt, das Dasein, das Leben, der Tod stellen keine Fragen, sie sind die hinzunehmende Antwort.

Das Ethos oder das ethische Grundempfinden ist uns angeboren; die natürlichen Fühler, die uns das, was wir Mein und Dein nennen mit aller Deutlichkeit vergegenwärtigen, die uns die Grenze zwischen Ich und Du abtasten lassen, können von der Erziehung geweckt, stimuliert, subtiler und gezielter ausgerichtet, aber nicht implantiert werden. Wäre dem nicht so, wir hätten nicht überlebt.

Ist die ethische Neigung, die Grenze zwischen Mein und Dein nicht hinterhältig, böswillig, in gemeiner Absicht zu überschreiten, sondern wie wir schlicht und ergreifend sagen können: gut zu sein, eine Mitgift unserer Ahnen, so vermögen wir folglich auch die böse Neigung des Diebes und Räubers, des Raufbolds und Totschlägers durch eine noch so anheimelnde Kinderstube nicht zu neutralisieren, geschweige denn mittels Resozialisierungsmaßnahmen aus dem Bösewicht einen Nachfolger des Heiligen Franziskus zu machen.

Wir verfügen über interne Maßstäbe zur Beurteilung und relativen Einordnung des Wahrgenommenen in unser Zeige- und Handlungsfeld. Wir sehen die Gestalt eines Menschen in größerer Entfernung trotz perspektivischer Verzerrung und optischer Verkleinerung als unseren Maßen entsprechend; wir hören den Schrei in der Ferne, auch wenn er gedämpft und leise klingt, als lauten Schrei. Wir weichen im Trubel der Einkaufspassage den Passanten, auch wenn ihre Gestalten kaum mehr Wirklichkeit haben als flüchtige Schatten, instinktiv aus.

Wie das Gesicht einen physiognomischen, so hat die Stimme einen akustischen Prägestempel.

Als verletzbare Lebewesen sind wir auf das Gedächtnis angewiesen, die Erinnerung an all die Wege und Namen, all die Gesichter und Stimmen.

Nahrung, Obdach, Schutz des eigenen und des Lebens der uns Nahestehenden sind die wesentlichen Sorgen der besorgend handelnden Lebewesen, die wir sind.

Einen, der uns nahetritt und uns anspricht, mustern wir, ob sein Anspruch berechtigt ist.

Die Augen sind beim Schlaf geschlossen, nicht die Ohren, auf daß uns Geräusche drohender Gefahr nicht entgehen.

Freundschaft und Liebe, insofern sie auf Freundschaft gründet, sind Bündnisse gegen die Bedrängnisse, Fährnisse und dämonischen Schatten des Lebens.

Liebe ist ein zweites Obdach, es hat wie das erste Schwelle und Tür, Räume und Fenster, Herdfeuer und den Schmuck von Bildern und Vasen mit jenen Blumen, die bekanntlich mehr als viele Worte zu sagen vermögen.

Den Zweitschlüssel für den Zugang zum intimen Bezirk unseres Daseins händigen wir nur Vertrauenspersonen aus.

Gibt der Besitzer unseres Zweitschlüssels vor, er habe ihn verlegt, hegen wir berechtigte Zweifel an seiner Bündnistreue.

„Was tust du da?“ – „Ich setze das Weltbild, das mir ein Schlag auf den Kopf, ein Schicksalsschlag, in tausend Mosaiksplitter zertrümmert hat, wieder zusammen.“ – „Ach, laß es sein, steh auf und schau dich einfach um!“

Das betörende Bild paradiesischen Blühens und Quellens ist die Fata Morgana des Dichters, der sich vom Geist der Wüste hat in die Irre führen lassen.

Der Garten Eden kennt nicht die Klage des Vertriebenen, nicht das Schluchzen der Geschändeten, nicht das schrille Wetzen der Messer, nicht das sinnlose Lallen des Verstörten. Seine stille Schönheit zeugt durch ihre Abwesenheit von den Mächten, die uns bedrohen.

Auch wenn wir allem Grauen hinter den Mauern der Entsagung und des Schweigens zu entrinnen wähnen, nachts hören wir, was uns nicht schlafen läßt wie die ans Tor pochende Hand des Heimatlosen, unseren eigenen Herzschlag.

Nach dem anregenden Gespräch mit dem Nachbarn, der uns seine Urlaubsfotos gezeigt hat, nach dem süß-sinnlosen Geplauder mit der Geliebten bleiben geistige Verwirrung und das Gefühl der Aussichtslosigkeit.

Der sich in den endlosen Girlanden gewundener Erklärungen, geschmückt mit den Pompons geistvoller Aperçus, erging, er hatte, als er plötzlich klar sah, nichts mehr zu sagen.

Kein aufrechter, geläuterter Deutscher ohne ein Aschepartikel des Führers in der Brieftasche, ohne ein Haar des Schnauzbarts in seinem Exemplar des Grundgesetzes oder des Doktor Faustus.

Es sind Philosophen, die nicht verstehen, daß nicht Dummheit die Einsicht verstellt, sondern der obstinate Wille, uneinsichtig und wahrheitsresistent zu bleiben.

Die Tiere mit ihren transparenten, sinnreichen Verhaltensprogrammen, die Menschen mit ihren undurchsichtigen, erklügelten Spielen.

Wer für seine Wahrheit viele Opfer gebracht hat, wird zu einer unberechenbaren Gefahr, wenn man sie ihm nimmt.

Der Wille des Aufklärers, der Menschheit zu dienen, indem er ihr den Schleier der Illusion herunterreißt, nährt sich von der größten Illusion.

Die durch radikale Reformen der Sprache eine endgültige Ordnung des Gedankens stiften wollen, öffnen, ähnlich jenen, die durch eine radikale Umwälzung eine endlich gerechte soziale Ordnung errichten wollen, den Mächten der Verwirrung und des Chaos die Pforten.

Freilich, im stillen Werk- und Andachtstag hinter den Mauern der Zisterzienserklöster findet man sie, die rechte Ordnung des Zusammenlebens, findet man sie, die Ordnung des Gedankens – in der Regula Benedicti.

Gegen die üblen Folgen der Völlerei des Redens hilft nur die Diät des Schweigens.

Der Architekt preist die Schönheit und Harmonie der Brückenbögen, der Statiker sagt nein.

Wie Hans denken lernte, als er begriff, daß die Sonne nicht untergeht, obwohl sie nachts nicht scheint; daß der Freund kein Freund war, weil er ihn verraten hatte; daß die lateinischen Vokabeln hohle Nüsse blieben, wenn sie sich nicht in die goldenen Trauben des Horaz verwandelten; daß seine Hand an der Töpferscheibe erst sehend wurde, als sie die schöne Wölbung des Kruges erfühlte.

Jeder erlebt die Enttäuschungen, die seinem Charakter gemäß sind.

Manche Seelen machen ihre Enttäuschungen zu stumpfsinnigen Echsen, manche zu zischenden Schlangen, manche machen sie blind, manche machen sie sehend.

Das Seltene den Seltenen.

Vergebliche Liebesmüh, dem Farbenblinden die Schönheiten Tizians oder Monets näherbringen zu wollen, den vom Lärm des Tages Betäubten zu den nächtlichen Schauern des Wassers zu locken, den von der Wollust der Selbstgeißelung Gegerbten auf den weichen Samt der Liebkosung zu betten, den Bedeutungsblinden in das herbstliche Licht der Lyrik Georges oder Hofmannsthals zu geleiten.

Die vom süßen Likör sentimentalen Geschwätzes aufgedunsene oder vom Fusel der Zeitungsphrasen fühllos gewordene Zunge schmeckt nicht mehr die sublimen Noten und exotischen Nuancen des Baudelaireschen Weins.

Der schlichte, glatte Kiesel schmiegt sich gut in die Hand des Knaben, aber die fein gewundene Muschel hält er gebannt ans Ohr.

Das von Glanzpuder grelle Klischee der Werbeschönheit verblaßt vor dem sommersprossigen Gesicht des ungeschminkten Mädchens, dessen Augen die grüne Nacht des Meeres widerspiegeln.

Das ekstatisch verzerrte Strampeln und albtraumverrenkte Getue des umjubelten Balletts, sie stürzen plump wie fallengelassene Gliederpuppen zu Boden vor dem stillen, hohen Schreiten der Chöre Sapphos und Pindars.

Die wächsernen expressionistischen Leidensfratzen zerlaufen unter den Strahlen der Ikone.

Die Nervösen und immerzu Aufgeregten hindert der Graue Star einer sinisteren Moral daran, die Schönheiten des Daseins zu erblicken.

Die Rituale heiliger Handlungen und die Rhythmen hymnischer Gesänge verdanken sich Eingebungen, die das Herz des Menschen aus der Nacht der Verlorenheit ins Licht einer höheren Ordnung emporgehoben haben.

Nur den Erwählten öffnet der Engel die Pforten der Wahrnehmung.

 

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