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Die Unerforschlichkeit des „ich“

15.02.2021

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Anmerkung für den philosophischen Laien: „ich“ bedeutet hier das Personalpronomen der ersten Person wie in der Wendung „Ich bin es bloß“ auf die Frage „Wer da?“ und hat keine tiefsinnige psychologische Bedeutung, geschweige denn den Sinn von „Person“ oder „Persönlichkeit“.

 

Man kann mit sich selbst nicht bekannt oder vertraut sein; sonst könnte man morgen mit sich selbst noch vertrauter sein als heute, gestern mit sich weniger bekannt gewesen sein als heute.

Ich bin kein Resultat, Echo oder Reflex von Informationen, die mir aus irgendwelchen Kanälen zufließen, und seien es die sensorischen meines eigenen Körpers. Wer soll die Informationen denn aufnehmen und verstehen – wenn nicht ich?

Keiner kann mir sagen und einflüstern, der zu sein, der ich nun einmal bin, wenn ich es nicht schon zuvor gewesen bin.

Ich bin kein phänomenaler Zustand und kein Phänomen; ein Zustand solcher Art wie fröhlich oder traurig zu sein, ein Phänomen wie dieser Grünton sind Dinge, die ich habe, die ich empfinde.

Ich zu sein ist keine Form des Wissens. Was ich weiß, könnte ich auch nicht wissen; aber nicht um sich zu wissen oder nicht von sich zu wissen, heißt kein Ich zu sein, heißt nicht zu existieren.

Wissen können wir nur in der Form von Sätzen angeben, so wenn ich sage: „Ich weiß, daß der Mond der einzige Erdtrabant ist.“ Dabei besteht der Inhalt des Wissens in der Identität der Ausdrücke „Mond“ und „einziger Erdtrabant“. Aber der Inhalt des Wissens in einem Scheinsatz wie: „Ich weiß, daß ich ich bin“ ist leer.

Subjekt oder ich zu sein ist zugleich eine Form leiblicher Vergegenwärtigung und die transzendentale Bedingung der Möglichkeit von Sprache.

Nur ich kann von meiner Hand reden; meine Hand hat eine andere ontologische Bedeutung oder befindet sich in einer anderen ontologischen Dimension als deine Hand oder seine Hand. Meine Hand ist mir gegenwärtig in einer Weise, wie mir mein Löffel, den ich damit zum Mund führe, und meine Suppe, die ich schlürfe, nicht gegenwärtig sind.

Zeichen gestischer und sprachlicher Art kann es nur geben, wenn es jemanden gibt, der sie verwenden oder lesen kann. Wer sie verwendet und liest, ist eben das Subjekt dieser Vorgänge, das von sich sagt: „Ich spreche, ich lese.“

Auch die Objektivität der Sätze der Mathematik und Wissenschaft ist letzten Endes und zum guten Schluß eine Funktion der Subjektivität dessen, der mathematische Gleichungen löst oder physikalische Gesetze aufstellt.

Der Satz, der Morgenstern sei identisch mit dem Abendstern, ist sinnvoll, insofern er auf die Identität ihrer Bedeutung, nämlich die Venus, hinweist. Der Satz, die Venus sei mit sich selbst identisch, ist sinnlos, also auch der Satz: „Ich bin mit mir selbst identisch.“

Es ist töricht oder trivial zu sagen: „Ich weiß, daß meine Hand schmerzt“; die Schmerzempfindung ist ebenso wie die Farbempfindung kein Wissen. Die korrekte Äußerung „Es tut mir weh“ ist keine versteckte propositionale Aussage über etwas, was ich weiß, sondern der Ausdruck meiner Schmerzempfindung oder die Übersetzung des kindlichen „Aua!“ in Hochdeutsch.

Die Erfahrung, man selbst oder ein Ich zu sein, hat keine Grade der Gewißheit; sonst hätte sie eben jene propositionale Struktur, aufgrund derer ich sagen könnte: „Ich vermute, daß es mir weh tut“ oder gar „Ich weiß nicht, ob es mir weh tut.“

Ich kann sagen: „Ich bin mir der Sache, ich bin mir der Situation bewußt“, aber nicht: „Ich bin meiner bewußt“; das ist nur eine philosophisch irregeleitete Übersetzung der Äußerung „Ich bin bei Sinnen (und habe deine Bemerkung nicht überhört, habe dein Eintreten wohl bemerkt).“

Niemand und nichts hat oder unterhält eine Beziehung zu sich selbst. Nur Dinge, die sich voneinander unterscheiden, können sich aufeinander beziehen oder in Relation zueinander stehen. Ich bin nicht im mindesten von mir verschieden. Also ist es auch unsinnig zu verkünden, ich sei mit mir identisch und wer „ich“ sage, lasse damit ein begriffliches Ungetüm wie seine Selbstidentität zum Vorschein kommen. Wir sagen von etwas, es sei dasselbe wie etwas, wenn es sich wenigstens in einem Aspekt davon unterscheidet, wie der Morgenstern vom Abendstern, falls aber nicht, so ist es einfach, was es ist, aber nicht dasselbe wie es selbst.

Wer sagt: „Er hat Schmerzen“ und damit mich meint, sagt nicht dasselbe wie ich, wenn ich sage: „Ich habe Schmerzen.“ Denn wenn ich Schmerzen zu haben bloß simuliere, hat er sich geirrt, ich jedoch nicht, ich habe mich nicht geirrt, sondern gelogen.

Die Wahrheitsbedingungen von Sätzen, die Aussagen über das subjektive Befinden aus der Perspektive der ersten und der dritten Person betreffen, sind asymmetrisch.

Hingegen hat der Satz „Ich weiß, daß es eine größte Primzahl gibt“ dieselben Wahrheitsbedingungen wie der Satz „Es gibt eine größte Primzahl“; und weil der letzte unwahr ist, muß es auch der erste sein. Doch sind Äußerungen wie „Ich glaube, daß es eine größte Primzahl gibt“ immer wahr.

Die Wahrheitsbedingungen von epistemischen Aussagen sind exzeptionell und nicht vergleichbar mit den Wahrheitsbedingungen aller anderen propositionalen Aussagen, die mit „ich glaube“, „ich vermute“ oder „ich bezweifle“ eingeleitet werden.

Psychologische Prädikate, die einen affektiven Zustand beschreiben, wie wenn wir von einem, der lächelt, sagen, er sei guter Dinge, beziehen sich auf keine verborgene subjektive Innenwelt; daher sage ich wie jeder andere von der lächelnden Person auf dem Foto, sie sei in dem Moment wohl guter Dinge gewesen, auch wenn ich auf Anhieb nicht erkennen sollte, daß es mich selbst darstellt. Aber ich sage angesichts eines solchen Bildes, auch wenn es mich darstellt, nicht, ich sei guter Dinge, sondern bestenfalls, ich sei wohl damals gut drauf gewesen.

Wesentlich für Äußerungen aus der Ich-Perspektive ist die Selbstzuschreibung von psychologischen Prädikaten, der wir im Regelfalle einen Grad von Gewißheit und Glaubwürdigkeit konzedieren, den wir der Fremdzuschreibung solcher Prädikate verwehren. Meine Äußerung „Ich fühle mich traurig“ wirst du nicht aus ähnlichen Gründen in Zweifel ziehen wollen wie meinen Hinweis auf den Bekannten, daß er wohl traurig sei, mit der Bemerkung, er markiere oft den armen Heinrich.

Im Normalfalle freilich schließen wir nicht aus dem Gebaren und Verhalten anderer auf ihren psychologischen Zustand; wir sehen den Zorn, die Trauer, die Angst am mimischen und physiognomischen Ausdruck und bedürfen für die Zuschreibung der angemessenen psychologischen Prädikate keiner logischen Schlüsse.

Zu wissen, was „Blau“ bedeutet, heißt, den Farbbegriff korrekt anwenden zu können. Doch für das Pronomen „ich“ gilt nichts dergleichen, denn wir wenden es auf keinen uns sonst bekannten Gegenstand an. „ich“ bezeichnet keine Entität in der Welt, sondern gibt die Grenze an, von der aus wir die Welt sehen oder über sie reden, nämlich, trivial gesprochen, von unserer Warte oder Perspektive aus.

„Außer mir sind fünf Personen im Raum“ heißt: Es sind insgesamt sechs Personen im Raum, aber nicht: fünf Personen plus eine Entität namens „ich“.

Wenn ich mich bei der Aufzählung sämtlicher Anwesenden im Raum vernünftigerweise mitzähle, gebe ich die Perspektive, aus der heraus ich die Anwesenden gezählt habe, auf.

„ich“ könnte man sagen, bezeichnet den Ort oder den Nullpunkt, von dem aus ich zähle, rede, sehe, fühle, taste, träume, wünsche, etwas beabsichtige, erwarte, erhoffe oder befürchte. Wie ich auch den Pfeil auf der Wanderkarte als Symbol des Ich-Punktes ansehe, den ich imaginär einnehme, um mich zu orientieren und von dort aus meinen Weg fortzusetzen.

Es ist absurd zu sagen, daß wir uns kennen, erkennen oder von uns wissen müssen, ob nun im Sinne der Unterscheidung von Regen und Schnee oder der Unterscheidung des Sachverhalts, daß die Dächer naß sind, vom Sachverhalt, daß sie weiß sind, um sagen zu können: „Ich habe Schmerzen“, „Ich bin müde“ oder „Ich beabsichtige, noch ein Weilchen zu bleiben“ oder auch: „Ich weiß, daß heute der Weihnachtsmann kommt.“

Das, was wir mit „ich“ meinen, könnte man zugespitzt sagen, ist nicht erkennbar; doch nicht weil es eine so mysteriöse und rätselhafte Essenz ist oder eine so vertrackte Struktur hat, sondern weil es kein Gegenstand der Erkenntnis und des Wissens ist.

Das mit dem deiktischen Wörtchen „ich“ Gemeinte hat ähnlich wie die logische Konstante „nicht“ keinen Referenten unter all den Dingen in Raum und Zeit, schließlich ist es gleichsam überall und nirgends anzutreffen; schon gar nicht ist es ein Name etwa einer wichtigen Person, deren Bekanntschaft man machen und deren besondere Eigenschaften man unbedingt kennenlernen muß.

Das „ich“ ist unerkennbar und unerforschlich, doch nicht wie der deus absconditus, sondern wie eine offen zutage liegende, nichtssagende Trivialität.

Ich kann nicht die Farbe Blau kennen, ohne andere Farben des Spektrums zu kennen, sonst wüßte ich überhaupt nicht, was eine Farbe ist.

Ich kann nicht im eigenen Namen sprechen, ohne andere Personen zu kennen, die ich ansprechen oder von denen ich angesprochen werden könnte. Es gibt keine Ich-Perspektive ohne davon verschiedene Perspektiven. Das „ich“ mag der Sonderling unter den Personalpronomina sein, aber die anderen sind es, die es gleichsam ernähren und am Leben halten.

Das mit dem Indexwort „ich“ Gemeinte ist weder eine Vorstellung noch sind es die mentalen Zustände, die man ihm oder die es sich zuschreibt. Ich kann mich, ohne ein Bild der Stadt in mir hervorzurufen, daran erinnern, in Paris gewesen zu sein. Ich begrüße meinen Bekannten, ohne mit der Grußformel irgendeine Vorstellung zu verbinden. Ich lese den Anfang von Prousts Roman, aber ich muß mir nicht vorstellen, wie der Erzähler sich früh schlafen legt, um den Text zu verstehen.

Wenn wir uns erinnern, spannen wir die erinnerten Gegenstände und Ereignisse in einen virtuellen deiktischen Rahmen, der eine Transformation des deiktischen Feldes darstellt, das in actu ist, wenn wir sagen: „Ich gehe jetzt nach draußen.“

Kleinkinder schleppen sich nicht mit einem Selbstbild oder einer Vorstellung ihrer selbst herum, wenn sie ihren Rufnamen als Kundgabe ihres Befindens („Hilde Aua!“) oder als Appell an die Großen („Hilde Suppe!“) verwenden.

 

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