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Meine Hand, deine Hand

12.02.2021

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Zu sagen, unser Selbstverhältnis könne eher als Vertrautheit mit uns selbst als durch eine Art Selbsterkenntnis mittels Reflexion beschrieben werden, verkennt den Umstand, daß wir von uns nicht behaupten wollen, wir seien uns heute schon vertrauter als gestern. Im Gegenteil, wir können uns bisweilen fremder denn je dünken, ohne daß wir aufhören, wir selbst zu sein.

Nach Jahren, in denen es Wind und Wetter ausgesetzt war, hat das einst in der Abendsonne so bezaubernd glänzende Kupferdach des Kirchturms eine grünlich-trübe Patina angenommen. So auch wir mit der Patina unserer abgetanen Erlebnisse, unserer halbbewußten Routinen, unserer intimen Verstörungen, unserer verblaßten und grau gewordenen Sehnsucht.

Daß sich das grammatische Geschlecht außer in den Fällen seiner Kongruenz mit dem natürlichen wie bei Mann und Frau, Vater und Mutter von der sexuellen Identität des Gemeinten grundlegend unterscheidet, erhellt schon aus der Tatsache, daß es nur zwei sexuelle Geschlechter gibt, deren Abarten wir nicht zu Eigenwesen überhöhen wollen, aber drei grammatische.

Es gibt Sprachen wie die ostasiatischen, die kein grammatisches Genus aufweisen; sie entsprechen demnach dem Scheinideal einer angeblichen gendergerechten Sprache. Kein Hinweis darauf, daß diese sprachliche Tatsache irgendeine Auswirkung auf die soziale Stellung der Frau in den Gesellschaften hat, in denen sie gesprochen werden.

Der Kopf, der Mund, der Rücken; die Wange, die Schulter, die Hand; das Lid, das Auge, das Kinn – wer hat die Chuzpe oder die esoterische Weisheit gepachtet, uns darüber ins Bild zu setzen, was am grammatischen Geschlecht dieser Wörter männlich, weiblich und neutral im natürlich-geschlechtlichen Sinne ist?

Sapere aude – in Zeiten, da Hinz und Kunz dem snobistischen Fernsehmoderator nach dem Munde reden, da jedes berichtete Ereignis sein Etikett um den Hals baumeln hat, den Kommentar, wie es zu interpretieren sei.

Als abtrünnig werden gebrandmarkt, die an der Echtheit der kurrenten Meinungsmünze Zweifel erheben.

Vertrauensseligkeit ist oft ein Zeichen charakterlicher Schwäche und geistiger Impotenz.

Von der Sonne der Wahrheit geblendet schlüpfen sie unter die Röcke eines dunklen Mythos, unter die Fittiche irgendeiner Heilslehre, die ihre Verstörung, ihren Makel, ihre Wunde zum Entréebillet in schönere Welten, zum Obolus für die Überfahrt zu den Inseln der Seligen deklariert.

Als wären die Erinnerungen hungrige Herden, die herbeidrängen, um das junge Gras und das würzige Kraut der Gegenwart abzuweiden.

„Dort“, „da“, „dann“, „dies“, „du“, „dein“, „der“, „die“, „das“ – der Dentallaut der indogermanischen Sprachen zeigt den deiktischen Hintergrund in der Genese der Bedeutung an.

„Ich“, „mein“, „wir“, „unser“ – die Verschiedenheit der Wortstämme verweist auf die herausragende Position des Personalpronomens der ersten Person.

„Meine Hand“ hat eine andere Bedeutung als „deine Hand“ oder „seine Hand“, auch wenn jemand mit dem Ausdruck „deine Hand“ auf meine Hand hinweist.

Kein anderer kann auf den Schmerz oder das Kältegefühl zeigen, das ich in meiner Hand verspüre.

Meine Hand hat als Träger meiner leiblichen Sensorik nicht den realen Ort, den die Hand meines Gesprächspartners einnimmt.

Wenn wir davon sprechen, daß uns der Kopf schwirrt, meinen wir nicht jenen Körperteil, von dem wir sagen, er sei rund oder verliere Haare.

Wenn wir gehen, meinen wir nicht, daß unser Körper eine Strecke im Raum zurücklegt; wenn wir ausrufen „Dort geht Peter“, meinen wir nicht, daß Peters Körper eine Strecke im Raum zurücklegt.

Der Körper und seine Teile sind nicht wie das Haus, das sein Eigentümer bewohnt; der Eigentümer des Hauses kann es vermieten oder verkaufen; ich kann nur im übertragenen Sinne jemandem meine Hand leihen.

Das Subjekt ist nicht der Eigentümer oder Mieter seines Körpers, nicht die Seele, die im Hause des Leibes herumgeistert.

Der Phantomschmerz, den der Amputierte verspürt, sagt uns eine Wahrheit über das Verhältnis von Subjektivität und Leib.

Meine Hand befindet sich in einer anderen ontologischen Dimension als deine Hand.

Mein Mund, meine Zunge, mein Kehlkopf sind keine Organe und Instrumente zur Produktion artikulierter Laute wie die Tasten des Klaviers unter den Händen des Virtuosen Instrumente zur Produktion von Klängen und Akkorden.

Der Virtuose spielt vom Blatt, ich habe, wenn ich mit meinem alten Freund plaudere, keine Partitur vor Augen.

Wenn wir uns die Hände reichen, spüre ich mit meiner Hand deine Hand, mit meinem eigenen Leib etwas an einem fremden, doch ich verspüre deine Hand als sensorische Evidenz meiner Hand und meines Leibes, nicht deiner Hand und deines Leibes.

Die Fremdheitserfahrungen des Psychotikers am eigenen Leib erhellen uns die Wahrheit über das Verhältnis von Subjekt und leiblicher Gegenwart.

Die Gnostiker, die den eigenen Leib als Fremdkörper erfuhren, als verfaulten und vergifteten Fleischappendix ihrer verbannten Seele, von einem Dämon ihnen zur Peinigung und zum Martyrium angehext und untergeschoben.

Ähnliche Fremdheitserfahrungen wie bei den Psychotikern und Gnostikern finden wir bei Baudelaire in der Ambivalenz seiner erotischen Neigungen und den Phantasmen seiner Lyrik. Die leuchtenden Blüten seiner künstlichen Paradiese, die ein dämonisch getrübtes Auge wie das seine nur in der Haschischvision erblicken kann, die schönen Brüste seiner Insulanerin, die eine versehrte und befleckte Hand wie die seine nur nach der Waschung im läuternden Quell des Traums zu berühren vermag.

Wir sind müde und zugleich umhüllt von der Schlaffheit und Taubheit der Glieder.

Wir erwachen und zugleich sind wir getragen vom frischen Tonus der Glieder.

Meine Hand gibt durch ihre Schlaffheit oder Spannung meiner zögernden oder erwartungsfreudigen Haltung Ausdruck, wenn ich sie zur Begrüßung in deine Hand lege.

Die Kälte, die Wärme, die Schlaffheit, die Spannung meiner Hand sind sowohl ein Moment als auch ein Ausdruck meiner seelischen Verfassung.

Liebe, wenn es sich nicht um blendende Maskerade oder sentimentales Geschwätz handelt, verkörpert sich leibhaft in der Zärtlichkeit der streichelnden, begütigenden Hand, in der Offenheit, Treue und Verläßlichkeit ihrer winkenden und schenkenden Gesten.

Wie der den Segen oder Fluch aussprechende Mund ist die zur Waffe greifende Hand nicht nur das ausführende Organ des Willens, sondern zugleich seine leibhafte Vergegenwärtigung.

Die Arbeit, die Liebe, der Kampf – Dimensionen der angespannten, fühlenden, verhärteten Hand.

Einsamkeit und Verschmelzung – Dimensionen des verkapselten und des hingegebenen Leibes.

Wir tragen unsichtbare Handschuhe, wenn uns Schüchternheit, Angst und Mißtrauen vor unbekannten Gesichtern auf Abstand halten.

Rituale der Hand – der bei aufgeklärten Spießern und egalitären Duckmäusern verpönte Handkuß, der Handschlag zur Besiegelung eines Vertrages oder Bündnisses, die Reinigung und Salbung der Hände, bevor sie das heilige Buch antasten, den geweihten Kelch in die Höhe heben.

Wir sind handelnde Lebewesen, ob wir unser Handwerk ausüben, Handel treiben oder zeichenhafte Handlungen vollführen.

Die Schwurhand, die sich zur Eidesleistung aufreckt, die nackte Hand, die sich zur obszönen Geste erniedrigt.

Von einem, den höhere Verpflichtung zur Untätigkeit zwingt, sagen wir, ihm seien die Hände gebunden.

Freie Hand hat, wer Souverän der Lage ist.

Von der Resignation, der Verzagtheit, der Ohnmacht sagen wir, sie habe die Hände in den Schoß gelegt.

In den Falten, den Runzeln, den Flecken der Hand sehen wir wie im Welken des Blattes das Altern des Leibes, das Altern der Seele.

Das Reden mit den Händen, das Gestikulieren, ist kein Beiwerk, sondern rhetorisches Ornament.

Die Lehrbücher antiker Rhetorik belehren über die Kraft des Ausdrucks, die dem gesprochenen Wort von den Gesten der Hand zufließt.

Das Werken und Formen, das Malen und Schreiben, sie demonstrieren ad oculos die intentionale Struktur des Handelns.

Die tachistische Art des Zeichnens und Malens, von den Zen-Buddhisten bis zu Henri Michaux: die Hand als Traumbildner und Traumdeuter.

Die Charakterologie der Handschrift, die seelische Bedeutung nachlässiger, fahriger, tauber oder wacher, hellhöriger, fühlender Handbewegungen.

Manuskript – ein Wort, das wie die Sache schon von der Aura des Mythischen, Sagenhaften, Unwiederbringlichen verklärt scheint.

 

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