Sachverhalt und Gedanke
Philosophische Sentenzen und Aphorismen
Dank des Vampirismus der Zivilisation und der Feminisierung der Institutionen und Sitten verkümmert der Drang heroischer Männer nach dem Abenteuer des Lebens und des freien Denkens; nicht nur der emotionale Ausdruck auf den Gesichtern des Stubenhockers und des gähnenden Lebensfristverlängerers in Ärmelschonern verkümmert. Das von der Woge des Unbekannten überschäumte und unter den Schreien Poseidons bebende Schiff der kühnen Dichtung und des hohen Gedankens vermodert im Hafen der Langeweile.
Nur Christus gebührt das göttlich-schöne Antlitz, das sich auch in der Todesangst nicht verzerrt; das wußten die großen Maler und umringten den Mann der Passion auf seinem Kreuzweg mit den häßlichen Fratzen und dämonischen Visagen der römischen Soldateska.
Das synthetische Grauen Kafkas.
Poetische Scharlatane, die in das trübe Wasser einer Pfütze treten und ein Geschrei erheben, als wäre es die Sintflut. Philosophische Falschmünzer, die sich mit dem bunten Flickenkleid fremder Gedanken schmücken, die sie als dernier cri aus eigener Werkstatt anpreisen.
Welche geistige Öde: Kafkas Erzählung „Die Verwandlung“ als schulische Pflichtlektüre, mit der von biederen Schulmeistern und jüdelnden Akademikern (mit vom Großvater überkommenem makellosem arischen Ahnenpaß) ausgetüftelten und dogmatisierten Interpretation auf die „Entfremdung des modernen Menschen“ oder noch ärger „die Unterdrückung und Verstümmelung des Individuums in der Kleinfamilie“.
Absonderungen stereotyper Wendungen und Klischees aus dem Munde von Politikern, Künstlern, Mediensklaven, dem automatischen Speichelfluß des Pawlowschen Hundes nicht unähnlich. Was ist hier der Auslöser des konditionierten Gebarens? Das Flackern devoter Blicke, das Gellen der imaginären Glöckchen an der dem Gegner übergestülpten Narrenkappe.
In der Erzählung „Das Urteil“ läßt Kafka dem verstörten Herrn Sohn vom zum Riesen in Unterhosen aufgeblähten Herrn Vater aus nichts als Jux und Perfidie den Tod durch Ertrinken anbefehligen. Welche Übertreibung, welche Geschmacklosigkeit! Manchmal enttäuscht selbst Kafka als Genie der Narration, wenn er auch meist durch eine feinziselierte, mit gespitztestem Bleistift exekutierte Diktion besticht.
Das über den Sohn verhängte Todesurteil sollen wir am Ende, wenn es nach dumpfen deutschen Musterpädagogen geht, auf das Gewaltpotential des Patriarchats oder im Sinne der schlichten Hausmannskost psychologischer Veganer auf Kafkas ödipale Ängste beziehen – wie fade, wie abgestanden, wie langweilig!
Der vom billigen Fusel allumfassenden Verstehens und Vergebens trunkene Narr auf Kanzel und Katheder, der von der Gottesebenbildlichkeit von Hinz und Kunz faselt, verleugnet die theologische Wahrheit, daß nach dem Fall nur der eingeborene Sohn dem Vater ähnlich sieht.
Unser Erinnerungsvermögen beruht nicht auf einer Galerie von Bildern, die mit einem zeitlichen Index für jenes Ereignis ausgestattet sind, das sie abbilden; wenn wir uns an den Garten unserer Kindheit erinnern, steigen bestenfalls schematische Umrisse aus dem Nebel der Erinnerung auf, die wir weder mit genauen räumlichen noch zeitlichen Koordinaten versehen können.
Der Vergleich der Erinnerung mit einem Gang durch die Alte Pinakothek ist eine trügerische Analogie.
Wir haben keine Schwierigkeit, uns daran zu erinnern, wie wir vorgestern unseren Freund Peter im Park getroffen haben und ihm zusagten, ihm heute das ausgeliehene Buch zurückzubringen. Wie das Wetter war, ob dort Orchideen blühten oder Rauhreif auf den Blättern lag, wie Peter aussah, wie er gekleidet war, all dies und vieles andere, was wir der ikonischen Kraft des Vorstellungsvermögens zuschreiben, spielt für unsere Erinnerung an das Treffen und unser Versprechen keine Rolle. Ausschlaggebend ist indessen die begriffliche und propositionale Form, in der wir das, woran wir uns erinnern, darstellen: nämlich, daß wir Peter da und dort trafen, daß wir ihm dies und jenes versprachen.
Das Kriterium der Korrektheit unserer Erinnerungen beruht auf der korrekten Darstellung des Sachverhalts, der in dem relevanten Zeitpunkt stattfand. Die Darstellung kann bisweilen das in der Vergangenheit Wahrgenommene zu Rate ziehen, ist aber kein Wahrnehmungsurteil. Mit der Erinnerung an die richtige Wahrnehmung, daß Peter ein kariertes Hemd anhatte und mißmutig dreinschaute, kann ich den Sachverhalt, ihm begegnet und meine Zusage gemacht zu haben, weder stützen noch in Frage stellen.
Wahre oder falsche Urteile über Sachverhalte können nicht mittels Assoziationen von Wahrnehmungen oder sie repräsentierenden Vorstellungsbildern gebildet werden. Sie wiesen sonst keinen grammatisch-logischen Unterschied zu Traumberichten auf.
Kinder zeichnen abstrakte Strichmännchen, die weit hinter dem, was sie an plastischen Gestalten und wohlproportionierten Figuren in ihrer Umgebung sehen und gesehen haben, zurückbleiben; sie zeichnen nicht Bilder ab, die ihnen etwa die Galerie ihres Gedächtnisses bereithielte, sie zeichnen Begriffe: Mensch, das heißt ein Lebewesen mit einem Kopf und zwei Augen, zwei Armen und Händen, mit denen es nach einem Ding greift, und zwei Beinen und Füßen, auf denen es steht.
Wir bedürfen für die angemessene Alltagsverwendung des Begriffes „Mensch“ keiner terminologisch und ontologisch ausgefuchsten physiologischen, biologischen oder sozialen Theorie; ähnlich wie wir getrost von Wasser sprechen, auch wenn wir nicht wissen, daß es H2O ist.
Die Verwendung des Begriffes „Mensch“ steht auf dem freilich nie ganz sicher auftretenden Fuß der Analogie, daß wir „Mensch“ nennen, was so aussieht wie ein Mensch, unangefochten und nicht in skeptische Zweifel gestürzt durch Machsche Täuschungen im Spiegel.
Es besteht ein wesentlicher grammatisch-logischer Unterschied zwischen den Fällen, in denen wir falsche Begriffe verwenden, und denen, in denen wir Begriffe falsch verwenden: Aufgrund einer oberflächlichen Ähnlichkeit der Zeichenausgabe des Computers ihm eine Sprachfähigkeit zu unterstellen, wie nur Menschen sie haben, geht begrifflich in der Bestimmung der Fähigkeit von Maschinen fehl; wenn Klein Erna wähnt, ihr Hündchen Fips könne ihr versprechen, sich heute früher schlafen zu legen, mag sie in einer kindlichen Märchenwelt leben, aber in Wirklichkeit handelt es sich um eine falsche Verwendung des Begriffs „Versprechen“.
Sachverhalte kann man nicht wahrnehmen, sie sind in das, was wir wahrnehmen, unsichtbar verflochten wie die Verknotungen und Verschlingungen auf der Rückseite eines handgewebten Teppichs, von dessen Vorderseite wir nur die schönen Muster und Motive sehen.
Wenn ich das Blumenbild mit schwarzer Farbe übermale, sehe ich ein anderes Bild, die verschmierte schwarze Fläche. Wenn ich den Sachverhalt, meinem Freund etwas versprochen zu haben, verneine, bleibt gleichsam gar nichts übrig, ähnlich dem Gekritzel auf der digitalen Tafel, das ich ohne Rest wegwischen kann.
Ein Gegenstand kann je nach Sichtbedingungen adäquat oder verzerrt wahrgenommen werden, in jedem Falle haben wir einen visuellen Eindruck. Wenn sich aber herausstellt, daß eine wesentliche Bedingung für die Geltung eines Versprechens nicht erfüllt worden ist, ich zum Beispiel meinen Freund angelogen habe, fiel der Sachverhalt gleichsam ins Wasser und ward nicht mehr gesehen
Wenn ich das Bild von Vermeer unter optimalen Sichtverhältnissen betrachte, kommen seine farblichen Werte und Nuancen optimal zur Geltung; wenn ich das Versprechen eingelöst habe, verschwindet der Sachverhalt.
Wir können, anders als Wittgenstein im Traktat annahm, die Welt nicht aus atomaren logisch-ontologischen Bestandteilen aufbauen, denn Sachverhalte sind keine aus Elementen und atomaren Bestandteilen aufgebauten Gegenstände.
Der Sachverhalt, daß mein Freund lächelte, als ich ihm das Buch wie versprochen zurückbrachte, setzt sich nicht aus den Ennervationen und Muskelbewegungen auf seinem Gesicht zusammen, die bei seinem Lächeln eine kausale Rolle spielen.
Der Sachverhalt, daß sich in diesem Glase Wasser befindet, besteht nicht aus einer Menge von Wasserstoffmolekülen und Sauerstoffatomen; auch wenn ich den Sachverhalt nicht ohne das Dasein dieser Elemente zum Ausdruck bringen könnte.
Was wir als Wasser wahrnehmen, fühlen, schmecken, könnte in einer anderen Welt aus anderen Elementen als H2O bestehen. Nicht so, was wir den Sachverhalt des Versprechens nennen: Sind seine Bedingungen erfüllt, gilt er, ob unter Engeln, Teufeln oder Menschen, sonst nicht.
Wir nehmen etwas wahr, aber wir sprechen über etwas. Wir können über das, was wir wahrnehmen, sprechen und über das, was Peter über seine Wahrnehmung gesagt hat; wir können die artikulierten Laute einer sprachlichen Äußerung wahrnehmen, aber nicht den mit ihr gemeinten Sinn. Der Sinn einer Äußerung erschließt sich unserem Verstehen; einen Satz und den mit ihm dargestellten Sachverhalt verstehen ist aber etwas anderes als die artikulierten Laute seiner Äußerung wahrnehmen.
Erinnerungen und bestimmte Gefühle haben wie Sätze, aber anders als Wahrnehmungen, nicht nur einen perzeptiven, sondern auch einen begrifflichen oder intentionalen Gehalt. Ich erinnere mich an Peters freudiges Lächeln, als ich das Versprechen einlöste und ihm das Buch zurückbrachte; aber die Erinnerung daran, daß Peter sich gefreut hat, lächelt nicht.
Die Stimmung der Schwermut und das Gefühl einer unbestimmten Angst, wie sie Kierkegaard und Heidegger beschreiben, haben keinen spezifischen intentionalen Sachgehalt; diesen enthalten aber die Trauer um den Tod eines geliebten Menschen und die Angst, aufgrund eines Fehlverhaltens einen Freund zu verlieren.
Nicht gefühlsgetönte Interjektionen und damit verbundene Kundgaben wie Aufforderungen und Appelle, sondern intentional, begrifflich oder gedanklich bestimmte Benennungen und Prädikationen sind der Ursprung und Wesenskern der menschlichen Sprache.
Es gibt keinen psychologischen und semantischen Übergang von der Interjektion „Aua!“ zur Äußerung des Kindes „Papa groß“ oder „Puppe schläft“. Das legen die unübertroffenen Untersuchungen und Analysen Karl Bühlers über die geistige Entwicklung des Kindes nahe.
Die gedankliche Leistung des Kindes, das von der Puppe sagt, sie schlafe, geht nicht aus der bloßen Wahrnehmung hervor; denn was an einer Puppe deutet auf ihren Schlaf?
Wenn das Kind namens Carla feststellt, daß Papa groß ist, wird es bald auch feststellen können, daß es selbst im Verhältnis zu ihm klein ist, und sagen „Papa groß, Carla klein“; im nächsten Schritt aber sagen: „Papa groß, Carla nicht“.
Die semantische Leistung der Äußerung eines Sachverhalts oder Gedankens ist abgeschlossen, wenn sie als Behauptung erfaßt wird, die auch verneint werden kann; denn damit gelingt der Übergang zur Bildung von relationalen Ausdrücken wie „Papa größer als Carla“ oder „Carla nicht größer als Papa“ und konsistenten Satzgefügen wie „Puppe kleiner als Carla, Carla kleiner als Papa“, was den Gedanken impliziert: „Wenn die Puppe nicht größer als Carla und Carla nicht größer als Papa ist, dann ist die Puppe nicht größer als Papa.“
Wenn man alle Gegenstände aus dem Zimmer räumt, bleibt das leere Zimmer übrig; aber die Verneinung eines Sachverhalts bezieht sich auf keinen gleichsam aus unserer Lebenswelt in den Nebel der Vorwelt entrückten oder extraterrestrischen Sachverhalt. Was wir als unwahr bezeichnen, wie die Falschheit der Behauptung, es gebe eine größte Primzahl, stellt einen sprachlichen Sachverhalt dar, nämlich die Verneinung der wahren Aussage, daß es zu jeder gegebenen Primzahl einen Nachfolger gibt, aber keinen realen Sachverhalt. Doch die wahre Aussage, zu jeder gegebenen Primzahl lasse sich ein Nachfolger bilden, stellt nicht nur den sprachlichen Sachverhalt einer Behauptung dar, sondern einen Gegenstand des mathematischen Universums.
Die Tatsache des Todes zieht eine absolute Grenze, in der wir nur mehr uneigentlich vom Leben des Verblichenenreden können, denn die Sachverhalte und Begebenheiten einer abgeschlossenen Biographie tauchen alsbald in das mildere Licht der Trauer und das unwirkliche der Nostalgie, wobei die Disteln eines widerborstigen Charakters sogar mit ihren giftigen Stacheln langsam im anonymen Wüstensand eines unerhörten oder gemeinen Schicksals versinken.
Daß die Geburt und der Tod jeweils einen absoluten Sachverhalt und einen singulären Sachverhalt zur Geltung und Wirkung bringen, erfahren wir am intensivsten, wenn wir den Ereignissen beiwohnen.
Die indefiniten Pronomina „etwas“ und „jemand“, mit denen wir uns auf alles und jeden beziehen, denen wir einen Namen geben können, stellen die allgemeinsten ontologischen Begriffe dar, die uns die natürliche Sprache frei Haus liefert. Sie implizieren den Begriff der Identität, der Negation und der Subordination, denn etwas, was wir Rose nennen, schließt die Bezeichnung Orchidee aus, was Pflanze, die Bezeichnung Tier, was Peter, die Bezeichnung Anna; was wir Rose nennen, ist der Bezeichnung Pflanze subordiniert, was Pflanze, der Bezeichnung Lebewesen.
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