Sprache und Ontologie I
Er ist an der Rechenaufgabe gescheitert, hat die Prüfung nicht bestanden, kam seinen beruflichen Anforderungen nicht nach und wurde entlassen, weil seine Mutter getrunken und ihn vernachlässigt hat, weil die Prüfer an seiner abweichenden sexuellen Orientierung Anstoß nahmen, weil sein Arbeitgeber ihn aus Schikane überfordert hat. Nein: weil er zu dumm war, um die Gleichung zu lösen, weil er sich ungenügend auf die Prüfung vorbereitet hat, weil er wichtige Kundentermine verschlafen hat.
Wir lassen uns gerne von einer oberflächlichen Psychologie über grundlegende Elemente unserer Ontologie täuschen, die wir semantisch ziemlich leicht aufspüren können, wenn wir davon sprechen, jemand habe diese oder jene Eigenschaften, Neigungen und Dispositionen oder jemand sei ein Mann oder eine Frau, intelligent oder dement, musisch begabt oder amusisch, bei Sinnen oder schizophren.
Wir finden ähnliche von einer oberflächlichen Psychologie inspirierte und verfehlte Kausalannahmen oder Pseudo-Erklärungen allenthalben. Er wurde nicht zum Trinker, weil sich seine verständnislose Frau von ihm getrennt und die Mitwelt sich mitleidlos und ohne Empathie von ihm distanziert hat, sondern aufgrund seiner Trunksucht geriet seine Ehe in die Schieflage, wegen seiner ständigen Fahne, seiner Unbotmäßigkeit und Verwahrlosung hat sich die Umwelt genervt und angewidert von ihm distanziert.
Sein Leben geriet aus der Bahn, weil er entdeckt hat, daß sein Vater in die Verbrechen der Nazis verstrickt war. Nein: Sein Leben, eine ontologisch komplexe Struktur von Charaktereigenschaften, Persönlichkeitsmerkmalen, Neigungen und Dispositionen, die tiefer liegen als die Überzeugungen und Ansichten, die man sich in seinem Verlauf bildet, sein Leben wäre auch mißraten, hätte er entdeckt, daß sein Vater zum Widerstand gehört hat.
Warum Aristoteles und kein anderer, und ein Grieche und zu dieser und keiner anderen Zeit, die Logik hat begründen können, wissen wir nicht und können wir nicht wissen.
Sich vorzustellen, wie es wäre, nicht geboren zu sein, ist widersinnig.
Sich vorzustellen, wie es wäre, wenn es die Welt nicht gäbe, ist absurd.
Obwohl wir keine klare Theorie über das haben (oder haben können), was wir eine Tatsache nennen, sagen wir ohne zu zögern, daß der Satz: „Die Erde gab es schon lange vor meiner Geburt“ durch die Annahme gerechtfertigt wird, daß es die Erde schon lange vor meiner Geburt gab.
Ein Bild scheint mindestens zwei Elemente aufweisen zu müssen, damit es zu einem Piktogramm wird, zum Beispiel eine lineare Strecke und eine Pfeilspitze an ihrem einen Ende, damit es zu einem Bild eines Pfeiles wird, dessen Richtungsangabe ich ohne Mühe zur Kenntnis nehmen kann.
Wie viele Elemente oder syntaktische Einheiten muß ein Satz mindestens aufweisen, damit er semantisch gehaltvoll ist?
„Theaitetos sitzt“ scheint wie das Pfeil-Bild nur zwei Elemente zu haben; doch in Wahrheit können wir den Satz so analysieren: T ϵ (S), und neben den Namen T für Theaitetos und S für die Menge aller Sitzenden haben wir als dritte syntaktische Form das Elementzeichen, das den Bezug der beiden genannten Elemente angibt.
Ihre Sprache schien verwirrt, sie sprach von sich in der dritten Person, etwa wie es kleine Kinder machen, die von sich sagen: „Peter Aa!“ Sie hat wohl einen Ausfall bei der Sprachentwicklung erfahren, womöglich aufgrund der Vernachlässigung durch ihre Mutter. Nein: Sie leidet unter einer Psychose.
Die Psychose, eine ontologisch komplexe Struktur von bedeutungs- und symbolverzerrenden Verhaltens- und Vorstellungsformen, Persönlichkeitsmerkmalen und genetischen Dispositionen, können wir nicht kausal mittels der verstörten, irritierten und meist verständnislosen oder gar grausamen Reaktionen erklären, die ihre seltsamen und oft erschreckenden Äußerungen durch die Umwelt erfahren; diese Reaktionen mögen ein verzerrtes Spiegelbild der psychotischen Äußerungen darstellen, sie sind indes durch diese Äußerungen ausgelöst, nicht die Psychose durch das verstörte Gebaren der Umwelt.
Die Ontologie der Psychose können wir semantisch aufspüren, indem wir das vom Alltagsgebrauch abweichende Sprachbild des Patienten minutiös aufzeichnen und analysieren, um hier und dort auf verborgene Krümmungen und Verzerrungen der normalen Syntax und Semantik zu stoßen, die vielleicht Hinweise auf tieferliegende Persönlichkeitsmerkmale gestatten.
„ich“ deutet nicht auf einen Gegenstand, der nur dem Sprecher bekannt ist; denn wenn ich von mir behaupte, ich hätte noch bis gestern nicht hier, sondern in Berlin gewohnt, widerlegt meine Aussage ein Nachbar, der mich vorgestern hier gesehen hat.
Meine Äußerung, daß ich traurig bin, kann bezweifeln, wer mich gut genug kennt, um zu wissen, daß ich mich bisweilen in der Identifikation der eigenen Gefühlszustände täusche, oder wer um meinen Hang zur Selbsttäuschung weiß.
Wir müssen uns angesichts des Pfeil-Bildes fragen, welche Bedeutung und Relevanz es für den hat, der es wahrnimmt: Insofern haben wir mit dem Beobachter immer ein drittes semantisches Element.
Bei jedem Bild finden wir einen unsichtbaren Punkt, der den Betrachter repräsentiert; so wie auf der Wanderkarte am Waldrand ein Zeichen für den Standort des Betrachters eingetragen ist.
Durch den ontologischen Eintrag des Subjekts und Beobachters wird die Beobachtung nicht subjektiv und das Wahrgenommene nicht zur fragwürdigen Fiktion; wie auch die eingezeichneten Wege auf der Wanderkarte durch den ebenfalls verzeichneten Beobachterstandort nicht subjektiviert werden, sondern im Gegenteil erst objektive Relevanz für den Betrachter bekommen.
Die semantische Leserichtung ist nicht vorgegeben. Wir können sagen: „Das ist Theaitetos, der dort sitzt“ oder: „Der da sitzt, ist Theaitetos“.
Wenn wir sagen: „Theaitetos sitzt auf der Bank“, können wir mittels der Verwendung eines präpositionalen Ausdrucks eine ontologisch wahre Positionierung darstellen, denn der Satz wäre falsch, würde Theaitetos unter der Bank kauern.
Wenn wir das Tempus einführen und etwa die Aussage bilden: „Theaitetos hat auf dieser Bank gesessen“, können wir ihre ontologische Bedeutung und Relevanz semantisch dadurch aufweisen, daß wir einen Zeitpunkt in der Vergangenheit wählen, an dem wir gesagt haben könnten: „Theaitetos sitzt auf der Bank.“
Wir könnten aber auch einen Zeitpunkt in der Zukunft wählen und die ontologische Bedeutung der von ihm aus formulierten Aussagen dadurch aufweisen, daß wir sagen: „Theaitetos hat auf dieser Bank gesessen.“
Auf der Basis solcher zeitlicher Perspektivwechsel können wir die Ontologie temporalisieren, ohne die Gleichsinnigkeit und Eindeutigkeit unserer Aussagen zu relativieren.
Mittels Tempuswechsel gewinnen wir fiktive Kontexte: Wenn wir etwa lesen: „Lange sitzt Theaitetos auf der Bank und grübelt vor sich hin. Als es zu regnen begann, stand er auf und …“, wissen wir, daß es sich um den fiktiven Kontext einer Erzählung handelt.
Die Töne einer Tonskala sind echte Teile sowohl einer physikalisch messbaren Reihe als auch einer Reihe distinkter Hörerlebnisse. Wenn wir einen Ton erhöhen oder vermindern, haben wir jeweils andere Hörerlebnisse, die uns etwa den Eindruck einer Erhellung oder Verdüsterung der musikalischen Atmosphäre vermitteln.
Die Komplexion von Tönen oder der musikalische Akkord vermittelt uns einen komplexen seelischen oder Erlebniseindruck.
Wir können Wasser oder H2O mittels Elektrolyse in Wasserstoff und Sauerstoff zerlegen; Wasserstoff und Sauerstoff sind echte Teile von Wasser, die sich nicht weiter in andere chemische Elemente zerlegen lassen, sondern nur in Elementarteilchen.
Die sensorischen Erlebnisse, die uns Wasser vermittelt, sind vollkommen distinkt von denen, die uns Wasserstoff und Sauerstoff vermitteln.
Wasser ist wie der musikalische Akkord, seine Elemente wie die Töne, aus denen sich der Akkord zusammensetzt.
Eine bestimmte Zusammenstellung oder Komposition von Farben gibt uns malerisch und visuell jenen komplexen Erlebniseindruck, den uns musikalisch und auditiv ein Akkord vermittelt.
Wie wir mittels semantischer Betrachtung oder Analyse von Sätzen über Höreindrücke zur Feststellung von ontologischen Einheiten des Hörbaren gelangen, nämlich der Grundtöne und ihrer Komposition in Akkorden, so kommen wir mittels der semantischen Betrachtung von Sätzen über Farbeindrücke zur Feststellung von ontologischen Einheiten des Sichtbaren, nämlich der Grundfarben und ihren Mischungen.
Wir sagen nicht, wenn wir in einiger Entfernung eine Person gewahren, deren Identität wir erst bei ihrem Näherkommen bemerken: „Dort nähert sich ein Körper, es ist Peter“, sondern: „Dort kommt jemand, es ist Peter.“
Wenn der Lehrer fragt, wer die Tafel vollgeschmiert hat, kann der Schüler verlegen, aber mutig mit der Hand auf seine Brust zeigen und damit meinen „ich“. Denn mit der Geste weist er weder auf seinen Körper noch etwa auf eine sonst verborgene Innerlichkeit, die wir Seele nennen.
Aufgrund der semantischen Betrachtung und Analyse von Äußerungen wie: „Dort kommt jemand, es ist Peter“ gelangen wir zu einer ontologischen Einheit, die wiederum nicht weiter zerlegbar und analysierbar ist; der Tradition und Konvention gemäß nennen wir sie Person.
Peter kann auf sich verweisen, indem er auf sich zeigt oder von sich in der ersten Person spricht. Wir können auf Peter verweisen, indem wir auf seinen Köper zeigen und dabei ihn als Person meinen oder indem wir von ihm in der dritten Person berichten.
Obwohl Peters Körper auf zahllose Arten in chemische, neuronale, molekulare Teile und Teile von Teilen analysiert werden kann, bildet die Person Peter eine nicht weiter zerlegbare ontologische Einheit. Die Person Peter kann nicht mit einer anderen Person wie eine Farbe mit einer anderen Farbe oder Wasserstoff und Sauerstoff zu Wasser verschmelzen; die Person kann mit anderen Personen kein komplexes Gebilde formen wie die Einzeltöne einen Akkord.
Peter bildet mit den Mitgliedern seiner Familie eine Art naturwüchsige Einheit, doch keine komplexe Einheit wie die Bienen im organisch und chemisch funktionell strukturierten Bienenschwarm; er bildet mit den Mitgliedern seines Schachclubs eine institutionelle oder formale Einheit, in die er aufgrund geregelter Verfahren freiwillig eintritt, aber auch freiwillig wieder austreten kann.
Die Ontologie der Einheiten, die wie Ehen, Vereine, Unternehmen, Armeen, Kirchen oder Staaten aus Personen bestehen, kann anhand der formalen Verfahren des Ein- und Austritts oder der Inklusion und Exklusion und der dabei verwendeten verbalen und gestischen Zeichenhandlungen semantisch analysiert werden.
So finden wir bei der Ehe das formale Verfahren der Trauung und den Sprechakt des Ehegelöbnisses, in den inversen Formen die Scheidung und die Entpflichtung vom Eheversprechen.
Freiwilligkeit ist in vielen Formen personaler Bindung und Verpflichtung ein echtes Kennzeichen der Ontologie der Person, sie berechtigt uns dazu, den Handelnden Absichten oder Intentionen zu unterstellen, die wir anhand der beteiligten Sprechakte identifizieren können wie des vor dem Standesbeamten und den Trauzeugen gegebenen Ja-Worts oder des Treuegelöbnisses des Rekruten.
Was wir am Handeln der Tiere beobachten können, entbehrt dieses Moments der personalen Freiwilligkeit wie die Brutpflege der Bienen oder die instinktgeleitete Jagd der Beutegreifer.
Wasserstoff verbindet sich spontan mit Sauerstoff zu Wasser, während wir die Bildung von Akkorden oder Farbkompositionen als Teil eines kreativen Akts ansehen, der auf die Absichten und das künstlerische Wollen einer freiwillig handelnden Person verweist.
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