Aspekte der Mitwelt
Philosophische Sentenzen und Aphorismen
Die abgegriffene Münze der Wahrheit ist nicht die gängige Währung der Kommunikation.
Wann tauschen wir Argumente aus? Etwa mit dem Nachbarn, der uns bestohlen hat, oder der Geliebten, die uns betrogen hat?
Die Lehre vom rationalen Diskurs als allgemeinem Modell der Verständigung ist nicht nur dumm, sondern gefährlich.
Es sah nur so aus, als würde er zögern und überlegen, aber ihm verschlug die Unverschämtheit des Gegenübers einfach die Sprache.
Unser reziprokes Verhältnis zu anderen läßt sich modellhaft auf ein Band auftragen, dessen kurze Eingangsstrecke von jenen emotionalen Werten und ethischen Haltungen gebildet wird, die wir unter dem Stichwort „Sympathie“ zusammenfassen; die analoge Endstrecke wird dementsprechend von jenen Werten gebildet, die wir unter dem Etikett „Antipathie“ rubrizieren – das lange und gleichsam unbesetzte Mittelstück steht für die Haltung, die wir Gleichgültigkeit oder Indifferenz nennen.
Wir ergänzen das Modell, indem wir über der Strecke der emotionalen Werte und ethischen Haltungen eine gleich lange Strecke mit den Namen und Symbolen jener Personen und Gruppen auftragen, auf die sich jene unmittelbar beziehen. Es ist klar, daß die Namen von Nahestehenden und Freunden über den Marken der unteren Reihe auftauchen, die freundschaftliche Einstellungen bedeuten, und Namen von Feinden über den Indices von feindseligen Einstellungen.
Es kommt allerdings nicht selten vor, daß wir die Namen von Verwandten und Angehörigen oder Geliebten über den Indices feindseliger Einstellungen finden; wir müssen nicht die antike Tragödie oder Büchners Woyzeck bemühen, um uns darüber zu vergewissern, wie Feindseligkeit und Haß in Familien und intimen Beziehungen wüten.
Sympathie meint eine dichte Skala von emotionalen Werten und ethischen Haltungen, von der Zuneigung über die sorgende Anteilnahme in der Freundschaft bis zur hingebungsvollen Treue in der Liebe und zu Hochschätzung und Verehrung; ebenso reicht Antipathie von Mißtrauen und Argwohn, Abneigung und Verachtung bis zu Feindschaft und glühendem Haß.
Wir beobachten ein Regime natürlicher, nicht durch moralische Lehren und philosophische Programme verdunkelter Vernunft in dem, was wir das Ethos des gewöhnlichen Lebens nennen können: So handeln wir vernünftig, wenn wir uns nicht nur vor physischen Gefahren, sondern auch vor Bedrohungen der Mitwelt in acht nehmen, vor jenen Personen, die uns verwirren, irreführen und schaden können, und sind klug beraten, ihnen zu mißtrauen und sie uns vom Leibe zu halten. Während es unvernünftig wäre, unseren Argwohn auch jenen gegenüber aufrechtzuerhalten, die uns wohlgesonnen sind und durch ihre Worte und Taten bewiesen haben, daß sie uns fördern wollen.
Wir erfassen die wahren Formen und Strukturen des gewöhnlichen Lebens im täglichen Miteinander nicht durch Analyse des Bewußtseins, sondern mittels Betrachtung typischer Redewendungen des alteingesessenen Sprachgebrauchs. So sprechen wir von der Hand, die uns ausgestreckt, der Brücke, die uns gebaut, dem Licht, das uns durch einen freundlichen Hinweis aufgesteckt wurde, um Formen uns widerfahrener Sympathie zu bezeichnen; von einem Knüppel, der uns zwischen die Beine geworfen, von einer falschen Fährte, die uns heimtückisch gewiesen, vom Gift, das uns durch zweideutige Worte in den Becher geträufelt wurde, um Formen uns widerfahrener Antipathie zu bezeichnen.
Die Milliarden, die auch noch leben, die Tausende, die um uns wohnen, die Hunderte, die uns bei unseren täglichen Gängen als Passanten streifen, sind uns gleichgültig und haben kein Gesicht.
Wir leben nicht als Glieder eines abstrakten Monstrums namens Menschheit, sondern als Frau dieses Mannes, als Freund dieser Freundin, als Großmutter dieses Enkels, als Mitarbeiter dieses Büros, als Chef dieser Abteilung, als Mitglied dieses Vereins.
Die medialen Bilder suggerieren uns imaginäre Beziehungen zu Leuten, die uns eigentlich nichts angehen.
Sie konnte sich um ihre Kinder nicht kümmern und gab sie in fremde Hände, weil eine höhere Moral ihr befahl, sich für das Wohl der ganzen Menschheit zu engagieren.
„Ich habe mich gewaschen“ ist reflexiv, „Wir haben uns köstlich unterhalten“ aber nicht, sondern entspricht dem Medium der alten Sprachen.
Ähnlich wie zu meinen, das Bewußtsein sei eine Form der Selbstreflexion, ist es eine Täuschung, anzunehmen, das Modell der mitweltlichen oder interpersonalen Beziehung sei eine Form der Spiegelung. Wir spiegeln einander nicht, sondern begegnen uns in der Mitte geteilter Umwelten.
„Wir haben uns verabredet“ heißt nicht, daß ein Kollektiv-Gespenst namens „wir“ mit sich selbst über eine Sache einig wurde, sondern daß sowohl ich wie du zu dem von mir oder dir vorgeschlagenen Treffen an diesem bestimmten Ort und zu dieser bestimmten Zeit jeweils ihre Zustimmung gegeben haben.
„Ich grüßte ihn und er gab meinen Gruß zurück.“ – „Wir haben einander begrüßt.“ – „Das Kind wirft dem anderen einen Ball zu, dieses wirft ihn jenem zurück.“ Hier ist weder der Ball noch der Mitspieler das (intentionale) Objekt der Handlung, sondern die Figur oder Gestalt des Ballspiels. Ähnlich beim Grüßen: Das (intentionale) Objekt der Handlung sind nicht die beteiligten Personen, sondern der Zweck der Handlung erfüllt sich in der Abgeschlossenheit der rituellen Gestalt der Begrüßung und der Grußformel.
Soziale Interaktionen können vielfach als Figuren ritueller Spiele gestischer und verbaler Art betrachtet werden.
Auch Figuren, die scheitern oder bewußt unterbrochen und sabotiert werden, sind ausdrucksvoll. Wird mein Gruß nicht erwidert oder blickt der Gegrüßte verlegen oder trotzig unter sich, kommen darin seine Verlegenheit, seine Mißachtung oder Verachtung zum Ausdruck.
Wir können auch viele Weisen des verbalen Austauschs, die gehobene Konversation, die Plauderei, den Streit als Formen rituellen Spiels betrachten, auch und gerade, wenn es den Beteiligten durchaus ernst damit ist.
Schweigen hat vielerlei Bedeutung und Funktion; es kann Verlegenheit, Langeweile, Mißachtung, Zurückweisung, Überlegenheit und manches andere zum Ausdruck bringen.
Wenn wir den Ball im Gespräch nicht auffangen und zurückwerfen, geben wir unseren Überdruß oder unsere Mißbilligung kund.
Typische Redewendungen zur Beschreibung kommunikativer Situationen weisen uns auf die tieferliegenden Spuren ihrer physiognomischen Herkunft oder Beimischung; etwa, wenn wir sagen: „Er hat ihm die kalte Schulter gezeigt“, „Es war, als hätte sie ihm den Rücken zugekehrt“, „Das sagte er ihr mit verbissenem Mund“, „Sie las ihm seine Enttäuschung von den Augen ab“, „Er reagierte nur mit einem Stirnrunzeln.“
Die monotheistischen Religionen vermögen mittels einer transzendenten Instanz imaginäre Beziehungen herzustellen, welche die gleichsam leere und unbesetzte Strecke der emotionalen Indifferenz bisweilen stark verkürzen, so weiß sich der gläubige Moslem als Teil der globalen Umma.
Das Übermaß seiner Angst läßt den Psychotiker Personen als bedrohlich verdächtigen, die dem Normalen gleichgültig sind.
Die Griechen imaginierten in mythischen Bildern die numinose Macht interpersonaler Bezüge, so gesellt sich neben Helena und Paris wie eine Traumerscheinung die Göttin Aphrodite, Sappho sieht sie in der Aura um die Geliebte.
Israel symbolisiert das Heil und Unheil menschlicher Beziehungen in den Bildern von Götzendienst und Frömmigkeit, in den Gestalten von Götzenanbetern und Propheten. So will Nabot, der treue Diener des Herrn, seinen Weinberg, das Erbe der Väter, König Ahab, dem danach gelüstet, aus dem schlichten Grunde, weil er ihm nicht gehört, nicht herausgeben, seine Frau Isebel, die Götzenanbeterin, verführt ihren Gatten, den Götzenanbeter, ihr in der Angelegenheit freie Hand zu geben. Und sie bringt es dahin, daß Nabot gesteinigt wird und der Weinberg Ahab zufällt. Gott aber sendet seinen Propheten Elia, der dem Maßlosen den Zorn und die Rache des Herrn ankündigt.
Diese Geschichte bildet den biblischen Hintergrund des dramatischen Geschehens um Philemon und Baucis in Goethes Faust, dem es nach der Hütte und der Kapelle der frommen Alten gelüstet, aus dem schlichten Grunde, weil sie nicht ihm gehören und das Gebimmel der Andachtsglocken seine wüsten Ohren verschreckt. – Doch Faust schickt der Herr keinen Propheten, er hat bekanntlich Mephisto an seiner Seite.
Wir bemerken hier die Bedeutung der Unversehrtheit von Integrität, Eigentum und kultureller Identität für den Wert menschlicher Beziehungen; aber auch die tragische Tatsache, daß ihre Verletzung aufgrund der sündhaften Natur des Menschen, um mit der Bibel zu sprechen, unausbleiblich ist, und so auch in ihrem Gefolge Zerstörung, Mord, Rache, Krieg.
Comments are closed.