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Seitentriebe

20.08.2020

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Wenn du dich in den Finger geschnitten hast, sagst du: „Ich habe Schmerzen“, aber nicht: „Mein Finger hat Schmerzen.“

Hast du jemandem aus Versehen auf den Fuß getreten, bittest du um Verzeihung, auch wenn der Betroffene es im Gedränge kaum verspürt haben sollte.

Der Leichnam wird uns aufgrund einer merkwürdigen Scheu nicht zum leblosen Ding unter Dingen. – Doch ist es eine gänzlich andere Situation, wenn der Pathologe versehentlich auf die Hand einer Leiche, als wenn er seinem Gast versehentlich auf den Fuß tritt.

Gefragt, ob du noch Schmerzen an der Schnittwunde empfindest, stellst du keine wie immer sorgfältigen oder umständlichen Selbstbeobachtungen an, sondern antwortest schlicht mit Ja oder Nein.

Wir sind uns nicht durch Introspektion zugänglich und gewärtig – sondern unmittelbar, ohne Medium, ohne übertragende und übersetzende Instanz.

Wir sind weder uns selbst noch anderen ein Buch mit Sieben Siegeln.

Wir verstehen manchmal das Treiben der anderen nicht, doch nur auf dem Hintergrund vieler Handlungen, deren Sinn wir aufgrund ihrer Absichten und Ziele verstanden haben.

Wir stehen anderen mehr oder weniger nahe, sind mit anderen mehr oder weniger vertraut; aber daß wir mit uns selbst vertraut seien, ist eine wenig glückliche oder sogar irreführende Metapher.

Von jemandem, dem ich einst nahestand, bin ich nun entfremdet, jemandem, der mir fremd war, bin ich nahegekommen. Das kann man von sich selbst nicht sagen.

Eine res cogitans oder ein reines Bewußtsein hat weder Namen noch Adresse und kann keiner Person und ihrer Biographie zugeordnet werden; dies gilt auch für Surrogat- und Scheinbegriffe wie das Selbst, das Subjekt oder das Ich.

Der größenwahnsinnige Patient wird vom untersuchenden Arzt gefragt, ob er Max Müller heiße, worauf er antwortet: „Ich heiße Julius Caesar.“ Ebenso wird etwa der Heiratsschwindler nicht seinen bürgerlichen Namen angeben, sondern vollmundig tönen: „Ich heiße Wilhelm von Beerenfeld.“ So ist leicht zu ersehen, inwiefern wir das „ich“ in der Äußerung oder die Verlautbarung in der ersten Person nicht mit dem Eigennamen des Sprechers gleichsetzen oder erklären können.

Der Demente hat seinen Namen vergessen, aber er kann sagen: „Ich weiß ihn nicht mehr.“

Heißt dies aber, das mit „ich“ Gemeinte sei eine autonome reflexive Instanz, die über allen Äußerungen des Sprechers schwebt? – Ich kann keine Form der Reflexion meines Bewußtseins sein, denn eine solche Form trüge kein Kriterium an sich, woran ich erkennen könnte, daß sie die Form der Reflexion meines und keines anderen Bewußtseins ist.

Die Äußerung „ich“ repräsentiert (darin den logischen Konstanten ähnlich) nichts; der Pfeil auf der Wanderkarte, der den Standort des Betrachters angibt, repräsentiert nicht die Tatsache, daß ich dort stehe, wenn ich dort stehe.

„Ich habe heute früh unseren alten Freund Peter gesehen, er ist also von seinem Italienaufenthalt zurückgekehrt.“ – „Das kann ich bestätigen, ich traf ihn gestern in der Cafeteria der Universität.“ Zu glauben, wir seien aufgrund der Ich-Zentriertheit unserer Erfahrung auf ein subjektives Weltbild eingeschränkt und von den Erfahrungen anderer abgeschnitten, ist ein philosophischer Irrglaube.

Können wir das Vorkommen ich-zentrierten Lebens nicht mit dem Gebrauch des Eigennamens erklären, so ebensowenig mit der sprachlichen Fähigkeit zu Äußerungen in der ersten Person. Denn das Kleinkind hat sie noch nicht, der Sterbende nicht mehr, ohne daß wir ihnen ein ich-zentriertes Leben absprechen würden.

Wenn ich dich auf dem alten Klassenfoto nicht gleich erkenne, zeigst du mit dem Finger auf das Abbild eines jugendlichen Körpers und sagst: „Das bin ich.“

Ich-zentriertes Leben, könnten wir sagen, ist eine Funktion des menschlichen Körpers (nicht des Gehirns allein). Nur ein Mund kann „ich“ sagen, kein reines Bewußtsein.

Wenn wir uns an jemanden erinnern, haben wir etwa sein Gesicht, sein Lächeln, seinen beschwingten Gang vor Augen, aber nicht den Schatten einer Seele, an deren leibliche Erscheinung wir uns nicht mehr erinnern.

Etwas vor Augen haben, das ist keine Erklärung für den Vorgang der Erinnerung, sondern eine Metapher für das, was wir unter Erinnerung verstehen.

Einer küßt das Porträtfoto seiner verstorbenen Frau. – Ist dies eine symbolische Geste? Damit wäre zu wenig gesagt. Ist es eine Ersatzhandlung (im Sinne Freuds)? Damit wäre zuviel gesagt.

Es gibt kein menschliches Tun und Reden, das nicht in die Form einer Äußerung der ersten Person gebracht werden könnte.

„Mir ist heiß, schwindlig, unheimlich, bang; mich friert, mir graut, mir träumte“ – mit solchen Ausdrücken der Betroffenheit von Stimmungen und mentalen Zuständen befinden wir uns gleichsam auf der Schwelle zum ich-zentrierten Leben.

Nur wer seine Absichten, Wünsche, Befürchtungen mitteilen kann, vermag sie auch zu verbergen.

Unsere sublimsten Wertgefühle sind mit unseren elementarsten Leibempfindungen verbunden. Wer grob angerempelt wird, fühlt sich in seiner Würde verletzt, der auf den Fuß Getretene auf den Fuß seiner Integrität getreten.

Die Akzeptanz des Todes entwickelt sich im besten Falle mehr oder weniger harmonisch mit der Erfahrung des körperlichen Verfalls.

Die Götter der Griechen, denen im Gegensatz zu den Menschen ewiges Leben beschieden war, sind meist in guter körperlicher Verfassung, voll Jugendfrische oder in rüstigem Alter.

Aber wurde ihnen ein leichtes Leben rechtens darum zugesprochen, weil es den Schatten des Todes nicht kannte?

Das im Vergleich mit den ungeheuren zeitlichen und räumlichen Dimensionen des Universums kurze, flüchtige, winzige menschliche Dasein könnte einem nichtig und eitel erscheinen. Aber dies ist eine ebensowenig plausible Schlußfolgerung wie jene von seiner erwünschten oder geglaubten ewigen Dauer auf seine Sinnhaftigkeit.

Nichts wird sinnlos an Tätigkeiten und Verrichtungen wie dem Jäten des Gartens, dem Pflücken und Einmachen des reifen Obstes, dem Brotbacken oder dem Geburtstagsständchen, weil sie rückschauend betrachtet nur kurz währten und in manchem Aspekt nicht ganz gelangen oder weil sie vorausblickend betrachtet dem geschwächten Kranken oder dem Sterbenden nicht mehr möglich sein werden.

Seine Vergänglichkeit ist kein Einwand gegen das Leben.

Nur krankhafte Skrupel hemmen den Impuls, Blumen zu schenken, die doch rasch dahinwelken.

Was wir unter Liebe, Sorge und Verantwortung verstehen, erhält Bedeutsamkeit nur in einer Welt, in der dasjenige, was wir lieben, worum wir uns sorgen, wofür wir Verantwortung tragen, Gefahren, Bedrohungen und möglichem Leiden ausgesetzt ist.

Es ist ein Glaube im Sinne religiösen Glaubens, der jene inspiriert oder verführt, die in der Wissenschaft Lebensorientierung suchen und in der wissenschaftlichen Methode den Pfad ins Herz der Dinge sehen.

In der Pathologie des Nervensystems nicht nur die Ursache, sondern auch den Grund zu sehen, aus dem der Erkrankte seine Geliebte erdrosselt oder sein Kind mißhandelt hat, heißt den Begriff von Vergehen und Schuld, von Verbrechen und Strafe aufzulösen.

Wir können nicht dankbar sein, wenn jener, vom dem wir annehmen, daß wir ihm zu Dank verpflichtet sind, nicht anders handeln konnte, als er uns half oder förderte.

Das Theater, das No-Spiel der Japaner, die griechische Tragödie oder die römische Komödie, gibt uns bisweilen ein besseres Muster an die Hand, um das Leben zu begreifen, als die Wissenschaft der Psychologie und Soziologie.

Es ist wahr, die einen ziehen auf der Kirmes des Lebens eine Niete, die anderen schießen den Hauptgewinn ab, aber das macht jene vielleicht nicht weniger glücklich und diese nicht weniger unglücklich.

 

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