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Tönungen des subjektiven Lebens

30.06.2020

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Ist das philosophische Denken fruchtbar, wie es das Dichten, Malen, Komponieren im besten Falle zu sein scheint? – Die Hebamme Sokrates, was sie ans Licht des Tages aus welcher Nacht Schoß auch immer zu schlüpfen verhilft, sie hat es nicht gezeugt, hat es nicht ausgetragen.

Die Unfruchtbarkeit der medienhörigen Intellektuellen und Feuilletonphilosophen wird daran kenntlich, daß sie vor ihren mit Sprachgerümpel und Talmijargon beladenen Karren den lahmen Gaul einer sinisteren Doktrin oder einer die Menschheit humanistisch einseifenden oder apokalyptisch blendenden Ideologie spannen.

Sie wollen etwas sagen, das heißt, sie können es nicht, oder es läßt sich aufgrund inkonsistenter Fäulnis nicht oder nur mit größtem Widerwillen über die Zunge bringen.

Der Dünkel hüllt sich in vom Rampenlicht verklärte enigmatische Wolken, die verletzte Eitelkeit übertüncht ihre Pickel mit der Schminke greller Sophismen, das verkannte Genie glaubt sich im Winkel unterm Spinnenweb selbstgesponnener Rätsel schmollend ewig unverstanden.

„Menschheit!“, „Humanität!“, „Fortschritt“, „Vernunft!“, „Freie Wahl von Herkunft, Eltern, Hautfarbe, Geschlecht und sexueller Orientierung!“, „Freie und geheime Wahl von Todesart und Todesstunde!“, „Öffentliche Bloßstellung, Demütigung und Spießrutenlaufen für Rassisten, Nonkonformisten und weiße Elefanten!“, „Lachgas für die Moribunden!“, „Bier und Bratwurst für alle!“

Mit großen Worten, steilen Thesen und parfümierten Phrasen locken wie die schon welke Schönheit mit ausgestopftem Busen und fettem Lippenstift.

Zu den Wörtern, die leicht ins logisch-semantische Chaos und Verderben ziehen, gehören die Wörter „alle“ und „nicht“. – „Alle Raben sind Vögel“ oder „Es ist nicht der Fall, daß ein Rabe nicht ein Vogel wäre“ ist kein empirischer Satz, der durch den spektakulären Fund eines Raben widerlegt werden könnte, der kein Vogel wäre, oder der durch die empirische Untersuchung aller Tiere bestätigt werden könnte, derart, daß unter den Nichtvögeln kein Rabenkrächzen vernommen ward.

Ist der Satz „Alle Raben sind Vögel“ wenn nicht empirisch also apriorisch? Er ist ein Satz mit dem Schein logischer Notwendigkeit über eine kontingente sprachliche Tatsache, nämlich, auf welche Weise wir Raben als Vogelart zoologisch klassifizieren.

Unter allen Dingen in dem Zimmer, in dem ich dies schreibe, finden wir Stühle, Bilder, Bücher, aber nicht mich; ich bin derjenige, der Dinge in diesem Zimmer sieht, sie als Stühle, Bilder, Bücher benennt.

Gewiß, einer, der mich kennt und an mich denkt, mag mich vielleicht vor seinem geistigen Auge in diesem Zimmer sitzen sehen und dabei das Körperschema im Blick haben, das dem ähnelt, das ich im Spiegel erblicke oder auf einem Foto. Doch mit der Aussage, du seist gestern mit deinem Freund spazieren gewesen, meinst du nicht, du seist mit seinem Körper unterwegs gewesen, schon gar nicht mit einem von gewissen Organen umhüllten Gehirn, auch wenn dieser Körper ohne ein Gehirn nicht gehen und reden könnte. – Doch schon zu sagen, der Körper geht und redet, überschreitet die Grenze zum Unsinn.

Das subjektive Leben, das wir führen, ist nicht beschreibbar wie das Leben des Hundes, dessen Körbchen vor unserem Bett steht.

Was es mit dem subjektiven Leben auf sich hat, kann vielleicht nur metaphorisch vergegenwärtigt werden, mit mehr oder weniger kühnen Bildern wie der Wölbung und Verzerrung der Raum-Zeit durch eine schwere Masse, der Tönung eines Bildes durch ein Clair obscur, der Brechung des irisierenden Lichts in einem Kristall, der Modulation eines musikalischen Themas oder dem Mitschwingen der Obertöne über einem angeschlagenen Grundton.

Was wir subjektives Leben nennen, ist keine Sammlung psychologischer Tatsachen und kann durch keine empirische Psychologie erfaßt werden.

Natürlich sind Empfindungen, Gefühle, Erinnerungen empirisch erforschbar, ja meßbar und auf ihre biologische und soziale Funktion oder geschlechtsspezifische Rolle und Färbung hin beschreibbar; doch nicht die seltsame Tatsache, daß ich oder du sie haben, wir uns im Medium von Empfindungen, Gefühlen, Erinnerungen unmittelbar gegeben sind.

Mit den empirisch-wissenschaftlichen Methoden, mit denen wir Licht- und Klangwellen untersuchen, können wir nicht die Tatsache erklären, daß ich und du sie sehen und hören.

Der Mediziner und Neurologe kann detailliert und mit wissenschaftlicher Präzision uns darüber aufklären, wie Photonen über Auge und Netzhaut aufgenommen und im visuellen Cortex verarbeitet werden; aber nur aufgrund sprachlichen Mißbrauchs wird er vom Gehirn sagen, daß es die auf solche Weise erzeugten visuellen Bilder sehe.

„Ich sehe, empfinde, fühle, erinnere mich …“ – diese Wendungen sind nur scheinbar Bausteine rein empirischer Sätze oder rein psychologischer Aussagen; wir erkennen dies unmittelbar, wenn wir sie durch Einsetzen der dritten Person in echte empirische Aussagen umformen.

Wenn ich etwas sehe, heißt dies nicht, ich hätte visuelle Bilder im Kopf; denn auch diese müßte ich ja wiederum sehen.

Was ich sehe, ist nicht nur dies und das, sondern die Welt in ihrer Bedeutsamkeit für mein Leben.

Du kannst mich durch den Hinweis korrigieren, daß es bei dem Baum dort, den ich für eine Tanne halte, in Wahrheit um eine Fichte handelt. Doch gleichsam eine kopernikanische Wende in der Weise zu erfahren, in der ich die Welt sehe, dazu bedürfte es größerer Korrekturen und Erschütterungen.

„Hans hat fünf Bernsteine in der Hosentasche.“ – „Er hat einen Freund.“ – „Peters Fahrradhelm ist blau.“ – „Peter ist Hansens Freund.“ – Auch in den kleinen Wörtern haben und sein lauern die tückischsten logisch-semantischen Fallstricke.

Wenn Peter Hansens Bernsteine stibitzt, ist er die längste Zeit sein Freund gewesen. – Die Bernsteine haben nicht ganz freiwillig ihren Besitzer gewechselt, die Freundschaft zwischen Peter und Hans ist zerbrochen.

Wir sprechen von Bernsteinen als von Sachen, Dingen, Objekten, dagegen von der im Sinne Goethes sittlichen Wirklichkeit der Freundschaft, die sich in keinem Einzelding darstellt, in keiner Sache inkarniert. Diese Wirklichkeit, in der wir leben und weben, läßt sich beschreiben, doch nicht wie die Anzahl, die Farbe, der Ort von Bernsteinen. Zu ihr gehören das Lächeln Peters, wenn Hans ihm seine Bernsteine schenkt, und die sittliche Natur von Konventionen und Ritualen wie das Schenken sowie moralische Gefühle wie Hansens Empörung und Wut angesichts des Verrats und der Hinterhältigkeit des untreuen Freundes, aber auch Peters schlechtes Gewissen, aufgrund dessen er seinem ehemaligen Freund tunlichst aus dem Wege geht.

Zur Freundschaft wie zur Liebe (aber auch vice versa ihren Widerparten Feindschaft und Gegnerschaft) gehören die mit ihnen verknüpften sozialen Gepflogenheiten wie das Geschenk, die Hilfeleistung, das gemeinsame Fest sowie die sie umhüllenden und tragenden Emotionen und moralisch getönten Gefühle wie Freude und Trauer, Dankbarkeit und Verzicht, Hoffnung und Zweifel, Zuneigung und Mißtrauen.

Die Freude über das Geschenk des Freundes und die Trauer und die Verzweiflung aufgrund des Zerbrechens der Freundschaft sind von anderer Natur als die Freude des Kinds, wenn sich die Mutter über die Wiege beugt, und seine Verzweiflung, wenn es nachts hungrig aufwacht und ihre Nähe vermißt.

Wenn wir gefragt werden, was wir mit „Bernsteinen“ meinen, können wir auf die Sammlung in der Vitrine oder eine Abbildung zeigen; wenn Peter nach der Bedeutung des Wortes „Freund“ gefragt wird, kommen wir semantisch nicht von der Stelle, wenn er auf Hans zeigt.

Peter könnte beschreiben, wie er sich im Umgang und in Bezug auf Hans verhält; daß er ihn als ersten zum Geburtstag einlädt, ihm Ansichtskarten aus dem Urlaub schickt, ihm sein Fahrrad ausleiht, in seiner Abwesenheit seine Katze hütet, ihn bei verbalen oder tätlichen Attacken schützt und verteidigt, für ihn einkaufen geht und das Essen zubereitet, wenn er krank darniederliegt.

So könnten wir einem, der seine Bedeutung nicht kennt, das Wort „Freundschaft“ erklären; nicht aber die Bedeutung des Wortes „Bernsteine“, wenn wir beschreiben, was wir mit ihnen machen: sie ihrer Farbenpracht wegen sammeln und gerne anschauen, sie gegen andere eintauschen, die wir lieber haben wollen, sie durchbohren und auf Fäden stecken, um die Kette einer Freundin zu schenken.

Wenn wir über längere Zeit Gedichte einiger bedeutender Dichter gelesen haben, kommen wir allmählich oder in einer plötzlichen Intuition dahin zu verstehen, was wir mit „Dichtung“ meinen. Doch fänden wir keine Definition dessen, was ein Gedicht ausmacht, mit der wir einem, der noch nie eines gelesen oder gehört hat, die Bedeutung des Worts mit einem Schlag verständlich machen könnten; sodaß er, trifft er demnächst zufällig auf ein Gedicht, sagen könnte: „Aha, das ist ja ein Gedicht“, wie einer, dem man die Regel zur Bestimmung einer Primzahl beigebracht hat, für jede ihm vorgelegte natürliche Zahl zwischen 1 und 100 angeben könnte, ob sie eine Primzahl ist oder nicht.

Wenn Peter und Hans einander als Freunde betrachten, sind sie es; denn bei einem reziproken Verhältnis genügt der Anspruch eines einzelnen nicht. Doch wenn Hans und Martha sich als verheiratet betrachten, sind sie es keineswegs, es sei denn ihre Ansicht ruht auf einem institutionellen Pfeiler und Dokument wie einem Ehekontrakt. Die Ehe ist rechtlich kodifiziert und kann im Gegensatz zu Freundschaft oder Liebe definiert werden.

Wir können nicht sagen, daß ein Eimer Wasser enthält, wenn er nicht H2O enthält; dagegen können wir von Peter sagen, er sei mit Hans befreundet, auch wenn er nicht besonders verläßlich ist, denn Verläßlichkeit ist keine notwendige Eigenschaft dessen, was wir Freundschaft nennen, und wir pflegen auch mit unsicheren Kandidaten befreundet zu sein.

Es gibt keine endliche Reihe von notwendigen Eigenschaften, sodaß wir, wenn eine fehlt, nicht mehr von Freundschaft (von Liebe oder einem Gedicht) sprechen könnten.

Wenn Peter das Verhalten von Hans schmerzt, können wir davon ausgehen, daß er ihn als seinen Freund betrachtet, anders als wenn ihm sein Verhalten gleichgültig wäre.

Der physische Schmerz und das physische Schmerzverhalten geben uns kein adäquates Modell für das, was wir als den seelischen Schmerz und die von ihm ausgelösten Reaktionen ansehen; wir verbrennen uns die Hand am Feuer und der Schmerz läßt sie uns unwillkürlich zurückziehen. Wir erfahren eine seelische Verletzung in einer Freundschaft oder Liebesbeziehung; doch der Schmerz bleibt zunächst unterhalb der Schwelle des Bewußtseins und tritt erst nach und nach zutage; wir ziehen uns nicht unwillkürlich von dem Freund oder der Geliebten zurück, sondern drängen uns im Gegenteil wie hilflos oder in Panik in ihre Nähe.

In den Sätzen „Hans hat Schmerzen“, „Peter hat viele Bernsteine“ und „Hans hat einen Freund“ gehorcht der Gebrauch von „haben“ ganz unterschiedlichen grammatischen Funktionen. – Dasselbe gilt in den Sätzen „Hans ist Peters Freund“, „Die Bernsteine sind in der Vitrine“ und „Wasser ist H2O“ für den Gebrauch von „sein“.

„Hans hat Schmerzen“ heißt nicht weniger als „Hans empfindet Schmerzen“; Schmerzen zu empfinden bedeutet aber nicht, mentale Objekte im Bewußtsein wie Bernsteine in der Tasche zu haben.

Hans könnte fünf Bernsteine in der Tasche haben, doch glauben, es seien sechs; dagegen könnte Hans nicht glauben, keine Schmerzen zu haben, wenn er welche hat, oder größere, als er wirklich empfindet.

Aussagen, deren Negation zu bilden nicht sinnwidrig ist, nennen wir empirisch, wie den Satz „In diesem Glas befindet sich Wasser“, wenn es in Wahrheit Whisky enthält. Der Satz „Hans empfindet Schmerzen“ ist insofern empirisch nur, als wir ihn auf eine faktische Ursache wie eine Verletzung und Verwundung beziehen können. Aber der Satz ist insofern nicht empirisch, als wir nicht annehmen können, Hans könnte auch etwas anderes empfinden, beispielsweise Freude, wie das Glas etwas anderes als Wasser enthalten könnte.

Die Semantik und logische Grammatik der Sätze, die sich auf das subjektive Erleben beziehen, sind von anderer Art als die Semantik und logische Grammatik empirischer Aussagen, die sich auf das Vorliegen oder Nichtvorliegen von empirischen oder psychologischen Tatsachen beziehen.

Sätze wie „Peter denkt an seinen Freund Hans“ oder „Hans erinnert sich an seinen Freund Peter“ beschreiben keine Tatsachen derart, daß Peter und Hans das Vorstellungsbild ihres Freundes vor Augen haben, Vorstellungsbilder, von denen nicht klar ist, ob man sich nicht in ihnen täuschen oder an welchem Kriterium man ihre Angemessenheit und Ähnlichkeit mit der realen Person beurteilen könnten.

Wenn ich mir den Garten meiner Kindheit als mit Kirschbäumen bestanden vorstelle, in dem in Wahrheit nur Apfelbäume wuchsen, unterliege ich einem Irrtum und erinnere mich nicht an jenen Garten. Wenn ich indes an den Garten meiner Kindheit denke, auch wenn ich nicht mehr weiß, ob Kirschbäume oder Apfelbäume darin standen, erinnere ich mich an ihn.

Sätze über subjektives Erleben wie Empfindungen, Gefühle und Erinnerungen sind keine epistemische Aussagen; sich an etwas zu erinnern glauben heißt, sich zu erinnern.

Man ist sich einer Empfindung, eines Gefühls, einer Erinnerung mehr oder weniger intensiv bewußt; aber etwas zu empfinden, zu fühlen, sich an etwas zu erinnern sind keine Formen des Wissens. Wir können jemanden, der seiner Schmerzempfindung Ausdruck gibt, nicht fragen, ob er sich seiner Empfindung auch gewiß oder sicher ist; wie jemand, der zu wissen glaubt, daß dieser Becher Wasser enthält, eines besseren belehrt werden kann, wenn es sich in Wahrheit um Whisky handelt.

Was wir subjektives Leben, Bewußtsein, Ich und Selbst nennen, sind keine epistemischen Zustände oder Formen des Wissens; es sind, könnten wir sagen, etwas wie Tönungen, Modulationen, rhythmische Ein- und Ausfaltungen des individuellen Lebens.

Gedichte geben uns im besten Falle Möglichkeiten, neue, ungeahnte, überraschende oder erschreckende Tönungen, Modulationen und Rhythmisierungen des eigenen subjektiven Erlebens zu erfahren. Uns kann sich anhand von Gedichten eine uns bisher unbekannte oder unzugängliche Weltsicht eröffnen, wir können uns an ihnen gleichsam schluck- und probeweise an einem anderen Selbst- und Lebensgefühl delektieren.

Freundschaften wachsen und zerfallen, Gefühle blühen auf und verdorren, Erinnerungen erstrahlen in frischen Farben und verblassen – das subjektive Leben gleicht einem Garten, der mit neuen Beeten bestellt und kultiviert, der vernachlässigt werden und verwildern kann. Es gleicht einer Landschaft, in der unsichtbare Quellen sprudeln und versiegen, über die dunkle Wetter ziehen, ein geisterhafter Mond aufgeht, ein Gewimmel weißer Flocken alle Sicht ins Blaue nimmt und der Schnee die Konturen der Dinge und die Stimmen des Lebens unter einem weichen, fast immateriellen Tuch begräbt und erstickt.

 

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