Fülle der Zeit
Philosophische Sentenzen und Aphorismen
Dummheit und Schamlosigkeit reichen sich die Hand und verkünden im grellen Scheinwerferlicht coram publico, alle könnten alles sagen.
Wer sogleich auf des Menschen Rechte pocht, will verführen und betrügen.
Was nicht in die harte Goldmünze von Verbindlichkeit und Verpflichtung gewechselt werden kann, erweist sich damit als Falschgeld der Anmaßung und Talmiglitter eitler Ansprüche.
Triefauge zeugt mit Lall-Maul einen Bastard namens „Hab es längst gesehen, längst gesagt“.
Die höchste Kunst besteht nicht darin, alles zu sagen, sondern das Wesentliche fühlbar zu machen durch Verschweigen.
Gewisse Aureolen sind unsichtbar vor zu grellem Licht.
Sie schimmern vage nur in einem sanften Dämmerschein, den ein vulgäres Auge scheut.
Gedichte, Knospen weißer Rosen, die geisterhaft auf dunklem Wasser scheinen, in das sie wie vergehend ihre Fülle neigen.
Die Toren glauben, von Dünkel geschwollen, an Entwicklung, als könnte es noch werden; doch Vollendung steht am Ursprung.
Alkaios schenkte der Welt den schön gewundenen Kranz seiner makellosen Odenstrophe, Jahrtausende reichten ihn weiter, über Horaz bis zu Klopstock und Hölderlin.
Die charismatisch-autoritäre Herrschaft der aristoi, die sich mittels genealogisch-physiognomischer Auslese und platonischer Examinierungen selbst in ihre Räte und Logen kooptieren, ist die dem zuchtlosen Wesen der Plebs angemessenste Staatsform.
Was ist der selbstgefällig seine stromlinienförmig frisierten Phrasen und mit arroganter Selbstanklage gewürzten Sottisen herunterleiernde republikanische Staatsbeamte ohne Stil und Kultur gegen den musisch gebildeten Mandarin des chinesischen Kaiserreichs, der mit den Höflingen, ja dem Kaiser selbst, in köstlich nach Pflaumenblüten und Erdbeeren duftenden Versen um ein kleines Lächeln der Kaiserin wetteiferte?
Wie gut ist die monadische Existenz, auf daß wir vom widrigen Hauch des Fremden nur gestreift werden.
„Es steht ja nicht da!“, ruft der Begriffsstutzige aus. – „Es ist eine Ellipse!“, macht ihm der Kundige klar.
Er schreckte vor der Hand dessen, von dem es hieß, er habe alle Fesseln abgeworfen und sich selbst verwirklicht, wie vor der eines Leprösen zurück.
Die Neugier und Sensationslust erwarten sich das Funkeln eines geschliffenen Steins, doch hält der Dichter nur einen matten Kiesel hin, eine bleiche Muschel.
Das große Wort ist schlicht, das Zischen der tausend Zungen nur monströs.
Nach einem feuchten Händedruck wollen wir uns waschen; von dem Speichel aber, den sie über die Texte der Klassiker rinnen lassen, Schauspieler nennen sie sich, soll sich der Hörer gesalbt fühlen.
Reine, klare Höhenluft, sie macht den Geist luzide, so leuchtet unterm kalten Mond der Enzian.
Lautlos fährt der Komet ins Dickicht der Nacht, unfaßlich wie der Zauber dichterischen Worts, ein Aufglanz, und das Dunkel wieder.
Der Geist der Syntax ist der Genius des Gedichts. – So erhält die chinesische Lyrik ihr Schwebendes, Ungefähres, Unwirkliches. – So das schwer wie von Kapitellen herabhängende Laub goldener Bilder der Hymnus über der hohen Säule des indogermanischen Periodenbaus.
Das große Gedicht dient der Katharsis, nicht dem Ausdruck eigenen Empfindens.
Alles, was sie noch von dem letzten Dicht-Meister deutscher Zunge, Stefan George, wissen: Er habe was mit Knaben gehabt. Doch daß ihm galt, was Diotima im platonischen Symposium über die Stufen der Sublimierung des Eros kundtut, ob nun in Hinsicht auf Männlein oder Weiblein, das nicht, das gerade nicht.
Die Seele sieht ein fernes Licht, der Mund spricht wie von selbst.
Die kleine Schar, die sich abgesondert hat, der neuen Kunde harrend; und bleibt sie aus, lebten würdiger sie als der Rest.
Die Unterscheidung der Geister, der Instinkt der Lese? Pace Lessing, doch der Säer prüft das Korn, dem Winzer schwillt die reife Traube in die Hand.
Man kann nicht causaliter oder durch Trial and Error einen Tisch entwerfen und bauen; wir wissen, daß er wacklig auf drei Beinen, sicher auf vieren steht.
Gott kann die Knospe nicht durch Aneinanderreihen von Blütenblättern bilden.
Der richtige Gedanke der schlüssigen Folgerung ist da oder ist es nicht.
Du kannst entdecken, daß dies freundliche Lächeln nur Fassade war; doch nicht, daß dies Musikstück genau und ganz wie eine Fuge klingt, in Wahrheit aber keine ist.
Wir können den Kreis nicht durch eine noch so große Anzahl von Tangenten konstruieren.
Wenn wir die Idee des Mittelpunkts, des Zentrums, des Ursprungs haben, dann auch die des Kreises, der Peripherie, des Abgeleiteten.
Das Gedicht, ein Widerhall, wie des Waldhorns fern vergehendes Echo.
Der Mißwuchs und die Ungestalt geben uns eine Skizze des schönen Leibes und des wohlproportionierten Gebildes.
Die Schöpfung kann nicht gänzlich verfehlt sind, wenn sie einen Mozart hervorgebracht hat.
Man kann keine noch so primitive Flöte, und sie ist wohl das erste Musikinstrument aus Menschenhand, bilden, wenn man willkürlich Löcher in ein Schilfrohr bohrt; dazwischen muß ein Abstand sein, der eine Harmonie zumindest ahnen läßt.
Dichtung des Frühlichts und der Dämmerung, der reinen Töne transparenter Atmosphäre und der Zwischentöne von Wassern, die durch Laubes Schatten rinnen.
Hat, wie George mutmaßte, Antoine Watteau das Rokoko erfunden oder trat das schwermütige Lächeln des Pierrot gleich dem sich im Teich selbstverliebt spiegelnden Mond wie von Zauberhand aus dem kunstvoll bemalten und arrangierten Bühnendekor des Zeitgeschmacks?
Gewiß, kein George ohne den Glanz der Trauben im rheinischen Wingert, das dunkle Flüstern der Sage im Uferschilf, die melancholische Knospe des Mondes zwischen dämmernden Hügeln.
Doch auch nicht ohne die passionierte Katharsis der Dichtersprache der Romantik und Klassik und ihre zuchtvolle Beschneidung von allzu üppig überhängenden und schon gilbenden Ranken.
Die aus elektronischen Kästen springen, mit Plastikzungen Weltsprache quietschen, ohne etwas zu verkünden, was wie reife Frucht im heimischen Garten vom Baum der Erkenntnis fiele.
Kairos, wenn der süße Glanz der Frucht durch dämmernde Zweige tropft – Fülle der Zeit.
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