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Über Geschmack

30.12.2019

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Über Geschmack läßt sich trefflich streiten – mit jenen, die welchen haben.

Wie wir metaphorisch aufsteigen von den elementaren Geschmacksempfindungen bis zu den Subtilitäten in der Verteilung von Licht und Schatten, Linien und Farbtupfern, Mustern und Ornamenten.

Geschmacklos nennen wir ungezuckerte Flüssigkeiten, ungesalzene Speisen, und können auch fade dafür sagen, öde, lau, spanungslos, schal oder matt – wir können den Eindruck visualisieren und sehen eine in Nebel gehüllte platte Kuhweide oder eine postmodern gequetschte Glasfassade; wir können den Eindruck Zeile für Zeile nachschmecken an einem Börsenbericht oder einem Abituraufsatz.

Wenn in der Friedhofskapelle neben dem Sarg des Toten zu seinem Angedenken die Jazz-Combo aufspielt, so nennen wir auch dies geschmacklos, und da es eigentlich pietätlos ist, sehen wir die Grenze zwischen dem Ästhetischen und Ethischen verwischt und durchlässig.

Männer, die nicht in Würde altern können und sich über die Glatze keck ein Base-Cape schieben.

Manche Völker scheinen Geschmack im Blut zu haben, wie die Japaner oder die alten Griechen.

Wegen mangelnder Lektüre der Klassiker leider kein Schulstoff mehr: in der Diktion geschmackvoll oder wenigstens nicht geschmacklos daherkommen.

Sublimer Geschmack: viel mit wenig Worten sagen; vulgärer Geschmack: wenig mit einem Bombast von Worten.

Leeres hauchgraues Blatt, nur eine Linie, einer zarten Maserung gleich, einem feinen Riß, einer zitternden Grenzscheide zwischen Ja und Nein.

Die Vulgären schmieren mit dicken Quasten oder drücken gleich ganze Tuben aus.

Die Tuben, die sie hastig ausdrücken, um von sich selbst zu künden, erstehen sie im Supermarkt um die Ecke.

Die Vulgarisierung des Geschmacks beginnt mit dem scharfen Epochenschnitt der Guillotine.

Wahrhaft allegorisch und sinnbildlich für die Ausbleichung der volkstümlichen Identitäten und nationalen Kulturen durch die suizidale Europa-Idee (wer heute Europa sagt, will die physische und kulturelle Auflösung zumindest des eigenen Volkes) oder die parasitären Politchargen in Brüssel und Straßburg ist die Geschmacklosigkeit, Fadheit und Verwaschenheit im Design der Euro-Scheine, aus dem jeder eigentümliche Charme, jede legendäre und stilistische Eigenheit zugunsten öder Ikea-artiger Mustervorlagen ausgeschwemmt und ausgewetzt worden ist.

Die Geschmacklosigkeit der ästhetischen Anmutung der Nationalflaggen ist ein Niederschlag republikanischer Gesinnung – man halte das schöne Lilienwappen der Bourbonen neben das ästhetische Nichts der Trikolore. Nur Flaggen, in denen sich ein Rest der alten Adelsgesinnung und des Mythos des Volkes spiegelt, wie im Sonnenemblem der japanischen, haben einen gewissen ästhetischen Reiz behalten.

Unten, am Gezeitenstrom des Blutes, der Geburts-, Hochzeits-, Beerdigungs-, Kampf- und Festrituale des Volkes finden wir den sicheren, starken, elementaren Geschmack im intuitiven Ausdruck der großen Lebensmächte; oben, im blauen, bisweilen heiteren, bisweilen scharfen Luftstrom zwischen Herrschaft und Dienst, finden wir den reinen und sublimen Geschmack des Adels im höfischen Zeremoniell, dem Dekor von Fayence, Orchideen, Vignetten, Wandteppichen, in wohlduftenden Essenzen, wohlgesetzten Tanzschritten und zierlichen Worten.

Dazwischen: serielle Fertigung von Kleidern, Möbeln, Tapeten, Tassen und Tellern, Häusern, Bildern, Musik, Texten – der Ort, an dem wir jetzt hausen.

Geschmacksfragen bewegen sich im umfassenden Rahmen des Sittlichen und Ästhetischen.

Eine Bemerkung diskreditieren wir als geschmacklos, wenn wir sie als ungehörig, beleidigend, schamlos verwerfen.

Wider den guten Geschmack: was das Auge, das Ohr beleidigt. Wessen Auge, wessen Ohr? Nun, halten wir uns an die sensitiv Genialen, einen Goethe, einen Nietzsche, einen Stefan George oder Ludwig Wittgenstein.

Mit dem deutschen Expressionismus in Malerei und Dichtung nimmt der Formverlust bisweilen apokalyptische Ausmaße an.

Man könnte seinen Kirchenaustritt etwas hochtrabend mit dem Hinweis darauf begründen, die Dogmen hätten sich einem als taube Eier erwiesen, weil sie auf der Übernahme einer sei es falschen sei es sinnlosen antiken Metaphysik der körperlosen Seele beruhen. Doch robuster und schlagender ist der Hinweis auf den Verfall der pastoralen Formen durch dem Zeitgeist nachschwätzende Pfaffen und die Entweihung der Liturgie mittels geschmackloser musikalisch-szenischer Darbietungen.

Guter Geschmack ist erfahrbar, bildbar, erlernbar, falls man sich der gediegenen Traditionen des Kunsthandwerks, seiner Technik und Weisheit, in stiller Betrachtung widmet und den Wert der schönen Gebilde der Töpferkunst und Vasenmalerei, des Goldschmiedehandwerks und der Glasmalerei, der Seidenstickerei, der Webkunst und des Teppichknüpfens, der Kalligraphie oder der Buchmalerei schätzen lernt.

Die sensorischen Distinktionen der Geschmackserlebnisse scheinen zunächst recht simpel, wenn wir nur süß und sauer, bitter und fade, mild und scharf unterscheiden; doch gehen wir bei einem echten Weinkenner in die Lehre und erfahren, wie viele Nuancen der Gaumen und die Zunge zu bemerken und herauszuschmecken in der Lage sind.

Das Volkslied gleicht in den eigentümlichen Valeurs seiner Klänge und Farben, seiner Bilder und Stimmungen den wohlschmeckenden Gerichten der regionalen Küche; werden sie mit beliebigen Gewürzen und exotischem Schnickschnack verrührt und vermanscht, geht ihr einmaliger Geschmack, ihr unnachahmlicher Duft verloren.

Keine Rose der großen Dichtung ohne das Gras und die Kräuter des Volkslieds, die um sie sprossen.

Gewiß, statt der Rose kann es auch ein Veilchen sein, ein Krokus, ja ein Hahnenfuß oder eine Distel – immer haben die Blumen der Dichtung ihren Ort, ihre Herkunft, ihre Lust des Pollenflugs oder ihre Trauer, sich vor der Zeit den Schatten zu ergeben, kurz, ihre Schicksalslinie, nicht nur in den Träumen, Sehnsüchten und Leidensgeschichten der Dichter, sondern zuallererst in den Wundern, den Offenbarungen, den Passionen des dichterisch inkarnierten Logos.

Der Gärtner und die feinfühlige Hausfrau sind es, bei denen wir uns Auskunft zu holen haben über die Arten und Kulturen der Pflanzen, das Arrangement und den Schmuck der Blumen in Vasen und Schalen – kurz, über die Möglichkeiten, den Geschmack des Dichters zu bilden und zu verfeinern.

Gewiß geht es nicht bloß um Idyllen. Jede Lebensmacht hat ihren Gott oder ihre Himmel und Erde umspannende Wahrheit, und jeder Gott seine Blume, seine Frucht, das vegetabilische und biotische Reich seines Wirkens, das die Dichtung in Evokationen seelischer Wirklichkeiten verwandelt, wie die Trauben des Rausches, das Wasser der Ernüchterung, den Efeu des Gedenkens, den Mohn des Vergessens. Hier werden die Lebensmächte des dionysischen Rausches, der apollinischen Nüchternheit, der Muse der Erinnerung oder der Göttin des Schlafs, Mächte, die Schelling mythische Potenzen nennt, leicht als allegorische Figuren in antikem Gewand sichtbar.

Der dichterische Geschmack ist, so könnten wir sagen, das Vermögen der ausgleichenden Disposition und Anordnung ästhetischer Urqualitäten wie des Schönen, Erhabenen, Grotesken, Idyllischen in einer harmonisch-intensiven Ganzheit zur Gewinnung einer sittlich und geistig läuternden Wirkung.

Der dünne Stiel des Verses, der unter der üppig aufgeschossenen Blütenkrone überschwänglicher Bedeutung einknickt.

Der süßliche Kitsch heilloser Heilsverkünder geht uns ebenso wider den Geschmack wie der saure arroganter Lebensverleumder.

Hier die stickige Atmosphäre verstaubten Gerümpels, dort die sterile einer aseptisch glänzenden Leere.

Die meisten sind so von sich eingenommen, daß sie nicht bedenken, in welchem Maße ihre Empfehlung eines Schriftstellers, Musikers, Malers sich wie ein Siegel auf ihrem Qualitätsbewußtsein, dem kulturellen Niveau ihres Geschmacks ausnimmt.

Unser unaufhaltsamer Fortschritt in der Geschmacksbildung: vom sublimen, leisen Rausch der Mandelblüten eines van Gogh bis zu den feministischen, mit fader Ekstase herausgekitzelten Farbejakulaten des Mädchen-Mal-Vereins aus Klein-Kleckersheim.

Wo die rituelle Wurzel abgeschnitten ist, verdorrt die Kunst.

Ist der mit den Wellen der Nacht, den Ähren der Sonne wogte, der Refrain der alten Lieder verhallt, kriecht die müde Schnecke der Poesie auf dem Asphalt trockener, banaler Selbstbekenntnisse.

 

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