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Von Blinden sehen lernen

25.06.2019

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Man sieht durch die Brille, aber sieht nicht die Gläser.

Wenn ein Riß durch ein Glas geht, sieht man das Glas.

Was du an der Äußerung, der Miene, der Geste des anderen unmittelbar verstehst, ist gleichsam unsichtbar und transparent wie das Brillenglas.

Wenn einem etwas wie ein Riß, ein dunkler Fleck, ein Rätsel an der Äußerung des anderen erscheint, bemerkt man sie als solche, wie man aufgrund des Risses im Brillenglas allererst das Glas wahrnimmt.

Die Buchstaben, Silben, Wörter und Sätze, die wir lesen, bleiben unsichtbar und lichtdurchlässig gegen den Sinn, den wir mit ihnen unmittelbar verknüpfen. Wenn sich ein Druckfehler eingeschlichen hat, werden wir auf das Geschriebene oder die Zeichen aufmerksam.

Der Stotterer macht uns hellhörig für den die Bedeutungen distinguierenden Wert der Vokale und Konsonanten.

Der Blinde macht uns hellsichtig für die Wagnisse und Hindernisse der Wege, ihre Unebenheiten und Ränder, die zögernd betretenen Schwellen und die Gefahren des Abgrunds.

Dem Melancholiker, der hellen Bilder des Lebens überdrüssig, sinken wie dem Engel der Schwermut auf Dürers Kupferstich die Gebrauchsdinge und Instrumente der forschenden Neugier auf den Boden bloßen Gerümpels herab.

Wenn der Pfad abbricht oder sich im undurchdringlichen Dickicht verliert, merken wir auf die Länge, die Mühsal, die Vergeblichkeit des zurückgelegten Lebens.

Alt, gebeugt, erschöpft nehmen wir den Ranzen vom Rücken, schütten seinen Inhalt vor uns aus, den Proviant, die Bücher, die schönen am Wegesrand aufgelesenen Glimmersteine (Wem noch wollten wir sie schenken? Wir schleppen sie immer noch mit uns herum), die Andenken, selbst geschnitzten Figürchen, die Amulette (Wer gab sie uns gleich Fürbitten mit auf den Weg?), die topographischen Karten, den alten Kompaß, das Fernglas, die fast vergilbten Fotos, die vielen schon unleserlich gewordenen Notizbücher – wir wollen uns von unnötigem Ballast trennen, um den Rest des Weges leichter zu meistern. Doch wir finden uns keinen Rat, was behalten, was mitnehmen. Es ist ja nicht mehr allzu weit. So lassen wir alles zurück.

Am Ende des Weges muß man die unsinnigen Fragen und Einwürfe unterdrücken. Ich hätte damals abbiegen sollen. Dort hätte ich rasten und aufhören, jene freundliche Einladung annehmen, in jener Hütte unterschlüpfen sollen. Als ich auf die ersten traf, die mir entgegenkamen und meine Sprache nicht mehr verstanden (so weit, in solche Fremde hatte ich mich schon verirrt), hätte ich umkehren müssen.

Warum habe ich ihr nicht geschrieben? Warum hat er mir nicht geantwortet? Letzte Anflüge intimer Gedanken an den und jenen, deren Namen wir schon vergessen haben.

Die einen sitzen an Tischen auf Stühlen und essen mit Messer und Gabel, die anderen kauern am Boden und essen mit Stäbchen. Die einen sind beschnitten und essen koscher, die anderen sind tätowiert und essen Gemüse. Das ist der Graben. Doch alle beäugen und beobachten einander, wer wo sitzt und wieviel wovon vertilgt, wer das erste Wort hat und wer das letzte. Das ist die Brücke.

Wie der Blinde mit seinem Stock tasten wir uns mit Worten voran.

Bevor man Gründe anführt und argumentiert, muß man etwas erspürt oder gesehen haben.

Der Grund, auf dem wir stehen, gehen und bauen, in den wir die Saat und die Toten bergen, erkundet sich eher durch Tasten und Fühlen als durch Betrachten. Was als Schauer und Dunst, als Quellen und Rieseln aus der Erde aufsteigt, wittern, erlauschen, eratmen wir, ohne noch seinen Ursprung gesehen zu haben.

Der Blinde macht sich aufgrund der motorisch-taktilen Eindrücke seines sinnenfälligen Abtastens der Umgebung, ob mit Händen oder einem Stock, ein Bild seiner Welt. Er könnte etwa aufgrund der spezifischen Härte und Dichte des ertasteten Bodens auf seine Beschaffenheit schließen und angeben, ob es sich um Erde, Lehm, Schotter oder Asphalt handelt. Er könnte sich in seinen Annahmen und Voraussagen leicht irren, wenn plötzlich wider Erwarten der bisher feste Grund nachgibt oder er ins Leere stochert.

Wenn der Blindenstock an der Spitze eine metallene Kuppe besitzt, kann der Blinde aus dem Klang und der Klangfarbe bei ihrem Auftreffen die Beschaffenheit des Materials erraten.

Der Blinde, der Blindenschrift kundig, kann in gewisser Weise oder per analogiam die Welt der Sehenden kennenlernen; er liest beispielsweise ein Buch über Rosen – er hat schon oft ihren betörenden Duft gerochen, die weiche Substanz ihrer Knospen und Blüten berührt – nur die Schönheit ihres Wuchses und die Mannigfaltigkeit und Pracht ihrer Farben bleiben ihm auf immer verschlossen. – Fehlen sie ihm? Nein; was wir nie kennengelernt haben, dessen Abwesenheit können wir nicht vermissen.

Wenn wir den Blindenstock wie einen beliebigen Gegenstand oder ein Objekt wissenschaftlicher Neugierde methodisch untersuchen, finden wir alle möglichen physikalisch-chemischen Eigenschaften, aber nichts, was uns darauf hinweist, daß er in der fühlenden Hand des Blinden ein Instrument der Welteröffnung oder der Konstitution von Sinn wird.

Der Stock, mit dem der Blinde sich den Weg bahnt, wird ein Organ seines motorisch-taktilen Wahrnehmungssystems; der Blinde nimmt den Stock nicht eigens und für sich wahr, sondern durch ihn hindurch und an ihm entlang, was er tastend an Weltgehalt aufspürt und erkundet.

Wenn wir das Laut- oder Schriftbild des Wortes „Rose“ phonologisch und schriftwissenschaftlich untersuchen, finden wir nichts, was uns auf seine Bedeutung hinweist.

Wie der Stock des Blinden wird uns beim Gebrauch des Worts sein Laut- und Schriftbild völlig durchsichtig, gleichsam wie ein luzides Glas, durch das wir den gemeinten Sinn betrachten.

Wenn ein freches Kind den Stock des Blinden packt und daran zieht, fühlt und erlebt er seine physische Präsenz und Widerständigkeit. Wenn das Fensterglas des Laut- oder Schriftbilds eines Worts gleichsam eingetrübt und fleckig ist, fühlen wir seine physische Präsenz und Widerständigkeit.

Das mittels des Stocks vom Blinden erkundbare Tastfeld ist eine nach relativen gegensätzlichen Bestimmungen strukturierte Skala: hart – weich, widerständig – elastisch, voll – leer, begrenzt – offen. Die Skala eröffnet einen Sinnhorizont, der sich in Orientierungen entfaltet: Hier geht es nicht weiter, hier muß ich ausweichen, dort ist der Weg offen.

Der mit den ertasteten Orientierungen gegebene Richtungssinn eröffnet dem Blinden, was in der Welt der Sehenden die leibbezogene Skalierung des Sehfelds nach links und rechts, oben und unten, vorn und hinten bewerkstelligt.

Der Blinde koordiniert und verschmilzt fortlaufend seine akustischen und taktilen Eindrücke; der Klang des mit dem Stock abgeklopften Pflasters bleibt gleich, also wagt er den nächsten Schritt, beim Übergang zu lehmigem Grund wird der Klang gedämpft oder verschluckt, also hält er inne, zögert und tastet genauer nach, ob ihn der Boden zu tragen vermag.

Wir sehen, wie der Blinde sich mühsam mit dem Stock vorwärtstastend seinen Weg bahnt, indem er Hindernisse ausmacht und umgeht, bei unbekannten Übergängen möglichen Gefahren ausweicht, innehält, die Richtung ändert und seinen Gang zögernd und bedächtig fortsetzt.

So, könnte Homer sagen, sehen uns die olympischen Götter; wo wir mitfühlend die Augen senken, betrachten sie schamlos oder höhnisch lachend ein komisch-groteskes Schauspiel. – Der Metaphysiker freilich würde sagen: Wie wir den Blinden betrachten, so betrachtet uns Gott – als Blinde zweiten Grades.

Der Blindenstock diene uns zum Analogon der Sprache; der Stock spricht dem Blinden von den Strukturen und Gestaltungen der Umwelt, wenn er glatt und geschmeidig in seiner Hand liegt, sich wie ein künstliches Organ vollständig seiner Leiblichkeit und Wahrnehmungsaktivität anschmiegt. Würde er gleichsam widerspenstig und erhöbe wie ein magischer Stab Anspruch auf Eigenwilligkeit, würde er abwechselnd in sich erzittern und wieder erstarren, wäre der Fluß der Mitteilung im Tastfeld des Blinden unterbrochen.

Sehen wir durch die Sprache wie durch ein Fenster, das uns eine Aussicht auf die Landschaft eröffnet, verfallen wir leicht einer epistemischen Täuschung, wenn wir uns gleichzeitig vorstellen, uns von außen zu betrachten und den Rahmen des Fensters abzumessen: Als müßten wir uns fragen, ob der Fluß, den wir dort unten sehen, jenseits des Bildrahmens weiterfließt, ob sich die Hügel und der Wald jenseits des Weltausschnittes, den uns das Sprachbild vergönnt, weiter ausdehnen und die Wolken am Himmel über den Rahmen unserer Aussicht hinaus weiterziehen.

Wir schließen von Sätzen über den uns präsenten phänomenalen Bildausschnitt der Welt auf Sätze, deren Wahrheit für uns nicht sichtbar ist: Der Fluß strömt weiter und mündet ins Meer; der Tag mündet in die Nacht, das Leben in den Tod. Desgleichen der Blinde, der fühlt: Hier habe ich festen Tritt, auch dort, sagt mir der Stock, wird der Boden mich tragen.

Die Blindheit ist nur aus der Sicht des Sehenden ein dunkles Verlies; doch die innere Wohnstatt des Blinden kennt den Unterschied von Licht und Dunkel nicht. Der Blinde haust demnach paradoxerweise nicht im Dunkel.

Die Sprache ist das Haus, in dem wir wohnen, das wir nicht verlassen und von außen betrachten können, ohne daß wir uns deshalb darin gefangen wissen müßten.

Wie träumen Blinde? Was ersetzt ihnen unsere Traumbilder?

Der Blinde spürt den Fugen, Wülsten, Falten und Einbuchtungen der Dinge mit der Subtilität und Hellfühligkeit seines überwachen Tastsinnes nach. Wir ordnen und verorten die Plastizität der Dinge in den gestuften Vordergrund vor der Tiefe des grenzenlosen Raums; doch sind unsere Hände blind und taub geworden für ihre glatte und ihre welke Haut, die Zartheit des Blatts und die sanft bemooste Wucht des Steins.

Der Blinde zeigt uns etwas von der Bedeutung des Zögerns, Innehaltens, Atemholens, vom Sinn des Umwegs, des Harrens auf der Schwelle, des Wartens sowie der Witterung der Leere und des Unwegsamen und der geschickten Meisterung der Gefahr.

Die Welt des Blinden scheint aus der Perspektive des Sehenden defizient, unvollkommen, bedauernswert; doch dies ist eine epistemische Täuschung, denn sie ist in sich – von ihrer internen Struktur her betrachtet – lückenlos, stimmig und wohlgeordnet.

Nur wenn wir unsere Welt in die metaphysischen Perspektive eines uns von außen erblickenden göttlich-übersichtigen Auges rücken, erscheint sie ebenfalls mangelhaft und beklagenswert; doch auch dies ist eine epistemische Täuschung, denn sie ist in sich – von ihrer internen Struktur her betrachtet – lückenlos, stimmig und wohlgeordnet.

Die Sprache ist das Modell der internen Struktur unserer Welt; doch nicht die Sprache als Substanz oder neutrale Gegebenheit, die wir phonologisch, morphologisch und grammatisch auf ihr internes Bezugs- und Verweisungssystem hin befragen, sondern als gesprochene Sprache, deren Struktur in unserem leibhaftigen Weltumgang und unsere alltägliche Kommunikation eingesenkt und verkörpert ist.

Wir staunen, daß der Blinde sich in gleicher Weise durch die Präsenz der fremden Stimme, ihre Modulation und Klangfarbe, ihre Macht und Brüchigkeit angesprochen weiß wie wir, wenn wir auf den fragenden, bittenden oder herausfordernden Blick des anderen antworten, auf seine mehr oder weniger scharfe oder getrübte Strahlkraft, sein kühnes oder demütigendes Blitzen und Glänzen oder sein schamhaftes Niedersinken.

Wir bemerken auch, daß der Blinde weder von den Augen und dem Mienenspiel des anderen noch von der vibrierenden Gestik seines Leibes dessen Stimmung und Neigung, dessen Habitus und Status physiognomisch ablesen kann; er erscheint uns daher bisweilen wie ein Nomade in der sozialen Ordnung, insofern sie durch den Zeichen- und Verweisungscharakter der Blicke und Mienen, der Körperhaltung und Kleidung strukturiert und aufgeladen ist.

Doch könnte er von der Sicherheit und Fülle, der Verhaltenheit und Fragilität in der Intonation der Stimme auf die Befindlichkeit, das Selbstverständnis, die soziale Stellung und den Rang des Sprechenden schließen.

Wie kann der Blinde jene Metaphorik der Sprache, der alltäglichen und dichterischen, verstehen, die durch die Bilder von Helligkeit und Dunkel, Tag und Nacht, Licht und Schatten gleichsam überwachsen und überwuchert ist?

Denken wir uns eine gleichsam blinde Sprache jenseits von Tag und Nacht, in der das Höhlen- und Sonnengleichnis Platons, die religiöse Offenbarung vom Licht und der Finsternis der Welt oder der Sonnengesang des Franziskus nicht ausgedrückt und reflektiert werden könnten.

Vielleicht könnte die Lichtmetaphorik der Sprache der Sehenden durch eine Rhetorik der Töne und eine Poetik des gleitenden oder jähen Übergangs von Klang und Stille ersetzt werden.

 

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