Abschied vom Symbolismus
Francis Jammes, Il y a un petit cordonnier
À Stéphane Mallarmé
Il y a un petit cordonnier naïf et bossu
qui travaille devant de douces vitres vertes.
Le dimanche il se lève et se lave et met sur
lui du linge propre et laisse la fenêtre ouverte.
Il est si peu instruit que, bien que marié,
il ne parle jamais, paraît-il, sur semaine.
Je me demande si le Dimanche, quand ils promènent,
il parle à sa femme vieille et toute courbée.
Pourquoi fabrique-t-il des souliers, marchant peu ?
Ah !… Il fait son devoir et fait marcher les autres.
Aussi il y a une pureté dans le petit feu
qui s’allume chez lui et luit comme de l’or.
Aussi, lorsqu’il mourra, les gens au cimetière
le porteront, lui qui les aura fait marcher.
Car Dieu aime bien les pauvres et les pierres
et lui donnera la gloire d’être porté.
Ne riez pas ! Qu’est-ce que tu as fait de bon ?
Tu n’as pas la douceur de cette lueur verte
qui passe doucement par la vitre entr’ouverte
où il taille le cuir et croise les cordons.
Crois-tu donc, toi qui mets des ornements,
et parce que tu plais à des femmes en parfum,
que tu as sur le front ce vert rayonnement
d’une douleur triste et douce comme une chanson ?
Ô petit cordonnier ! cloue tes clous encore longtemps.
Les oiseaux qui passeront au doux printemps
ne regarderont pas plus les couronnes de roi
que ton vieux couteau qui coupe le pauvre pain noir.
Da lebt ein kleiner Schuster
Da lebt ein kleiner Schuster, einfältig, bucklicht,
er schuftet vor milden grünen Scheiben.
Am Sonntag wacht er auf, wäscht und kleidet sich
in reines Tuch, das Fenster kann offen bleiben.
Er ist so wenig gebildet, daß obzwar verehelicht
er niemals redet wie es scheint an Wochentagen.
Ob er am Sonntag, wenn sie vor die Tür sich wagen,
mit seiner Frau, der alten, ganz gekrümmten, spricht?
Weshalb macht er Schuhe, geht er selbst doch kaum?
Ach! … Er tut seine Pflicht, so können andre gehen.
Reinheit ist auch, was da sprüht an Herdes Saum,
die Flamme seines Heims macht es wie Gold erglühen.
Und wenn er einmal stirbt, dann tragen die kleinen
Leute ihn zum Friedhof hin auf seinen Schuhen.
Denn Gottes Liebe gilt den Armen und den Steinen
und will, daß Seine Palmen auf dem Grab ihm ruhen.
Du, lache nicht! Was hast du Gutes denn erzeugt?
Du hast die Süße nicht von jenem grünen Blinken,
das sanft durch Fenster fließt, die einwärts winken,
wo er das Leder glättet und die Schnüre kreuzt.
Wähnst du etwa, der du Ornamente malest,
den parfümierten Damen zum Pläsier,
daß du wie er so grün bekränzet strahlest
von einem Leid, das traurig-süß ist wie ein Lied?
O kleiner Schuster, mögest Nägel du noch lange schlagen.
Die Vögel, wenn sie weichen Frühlings Lüfte tragen,
sie schauen lieber als nach Gold, das hohe Stirnen kleidet,
auf dein schartig Messer, wie es hartes Schwarzbrot schneidet.
Anmerkungen und Anregungen zur Interpretation
Wir können den Rang und die geschichtliche Bedeutung des Gedichts von Francis Jammes mit dem Rang und der geschichtlichen Bedeutung des Gemäldes „Der Heuhaufen“ (ca. 1874) von Jean-François Millet vergleichen: Wir sehen in beiden Werken die Ablösung vom Geist der Romantik und die Hinwendung zur natürlichen und kreatürlichen Welt; die Schöpfer beider Werke haben sich entschieden der Welt der kleinen Leute und der Armen, der Welt des Alltags und des Werktags, dem profanen und gewöhnlichen Leben von langer Mühsal und kurzer Rast der Bauern und Hirten im Kreislauf des Jahres zugewandt – wenn auch im Werk von Francis Jammes dann und wann auf die zerfurchte Stirn des todverfallenen Menschen ein verklärendes Licht aus dem göttlichen Geheimnis fällt.
Die Gedichtsammlung, der das obige Gedicht über den kleinen Schuster entnommen ist, trägt den programmatischen Titel De l’angélus de l’aube à l’ angélus du soir, das Angelusläuten des Morgens und das Angelusläuten des Abends sind seine Schwellen oder Pforten. Die Sammlung erschien im Jahre 1898, und dies scheint von symbolhafter Bedeutung: im Todesjahre des von Francis Jammes geschätzten symbolistischen Dichters Stéphane Mallarmé, dessen Umgang er auch pflog.
Das Gedicht Il y a un petit cordonnier ist dem Dichter Mallarmé gewidmet, es ist freilich keine verehrende Nänie, sondern ein Abschied vom Meister aus Paris und seiner ganzen Art zu denken und zu dichten, ein Abschied vom Symbolismus, dem Francis Jammes in seinen Jugendtagen nahestand und poetologisch verpflichtet war.
Das Gedicht ist sowohl ein Gedicht über das im Titel genannte Sujet als auch ein Gedicht über die Dichtkunst, es bedenkt und besinnt sich auf sich selbst und die Mittel und Wege, die Macht und Ohnmacht der dichterischen Zeichen. Die vorzügliche Richtung dieser Selbstbesinnung des dichterischen Sagens verkörpert es in der Figur, deren Dasein es beschwört: ein kleiner Schuster, irgendwo in der Provinz, alt, ungebildet, bucklig, und daneben seine alte Frau, die schon ganz krumm geworden sonntags mit ihm spazierengeht.
Das kleine Leben, seine Dürftigkeit und Armut, seine Stummheit und Schicksalsergebenheit, das sind die Stoffe, Motive und Quellen, aus denen sich die reife Dichtung von Francis Jammes nährt. Gewiß sind sie aus christlichem Geist, ja franziskanischer Geistlichkeit, erwachsen; doch dies allein, mit beifälligem oder abfälligem Gestus, zu betonen, reicht nicht aus, uns die poetische Mitte, Gehalt und Dichte, des Gebildes zu erschließen.
Das Gedicht besteht aus sieben Strophen, seine natürliche Mitte oder seine innere Schwelle ist demnach die vierte Strophe (wie wir noch genauer sehen wollen). Wir erwähnen vom Einsatz poetisch-formaler Gestaltungsmittel nur den Reim, der für Jammes wesentlich ist, und zwischen offener (vertes – ouverte) und geschlossener Form (peu – feu) wechselt; besonders auffällig sind, wiederum für den Dichter typisch, Verwendungen unreiner Lautausgänge wie bossu – sur, autres – l’or, parfum – chanson.
Charakteristisch ist die Ungezwungenheit und Natürlichkeit von Syntax und Satzbau: Sie sind der mündlichen Sprache, der schlichten Diktion, angenähert. Den syntaktischen Auftakt gibt der an scheinbarer Naivität nicht zu übertreffende Anfang: „Da lebt ein kleiner Schuster.“ Zwar scheut der Dichter nicht vor komplexeren Satzgebilden zurück („Il est si peu instruit que, bien que marié,/il ne parle jamais“ – „Er ist so wenig gebildet, daß obzwar verehelicht/er niemals redet“), doch streben sie nicht über Gepflogenheiten der Umgangssprache hinaus.
Dies ist, wie der Kenner sieht (und er sollte hier, romanistisch geschult, die Vergleiche und Kontraste in Mallarmés Gedichten suchen und finden), das gerade Gegenteil der syntaktischen Komplexitäten, Aberrationen und Extravaganzen, wie sie die Dichtung Mallarmés prägen, ja, in dem durch sie evozierten Gleiten, Schillern und Verschwimmen des Sinns geradezu auszeichnen oder feierlich siegeln.
Doch ist Francis Jammes auch im Ausdruck des Schlichten und scheinbar Einfachen, darin Mörike nicht unähnlich, sich aller höheren Kunstmittel des poetischen Ausdrucks bewußt und verschmäht es nicht, sie souverän über das ganze Gebilde, wie kleine bunte Blüten, auszustreuen. Nehmen wir die Lautmalerei wie im Satz: „il se lève et se lave“ – „erwacht wäscht er sich“ oder die geistvolle Verwendung der Wörtchen „petit“ und „douce“, deren Bedeutungen sich eigentümlich überkreuzen und verschränken: Denn das ärmliche und stumme Leben der kleinen Kreatur hat ihre eigentümliche Süße, die auf ein göttliches Geheimnis hindeutet (wenn es auch nicht vergegenständlicht oder ausgeplaudert wird), so in dem Leid des kleines Mannes, das zugleich traurig und süß genannt wird, „wie ein Lied“.
Die ersten vier Strophen evozieren das Leben des kleinen Schusters, seinen Werktag, seinen Sonntag, sein Leben in Pflichtreue und schlichter Häuslichkeit, bis zu seiner Beerdigung, bei der die Leute, die ihn zu Grabe tragen, die Schuhe anhaben, die er selbst gefertigt hat. Wir bemerken, daß Jammes keiner Neigung nachgibt, das ärmliche Dasein in eine weich mit Moos und Flocken ausgelegte Krippe einer Idylle oder bukolischen Behäbigkeit zu bergen.
Der kleine Mann steht vor uns im Sonntagstaat und läßt das Fenster halb offen, nur angelehnt – offen für jenes Geheimnis, das wir nannten. Das Fenster aber hat grüne Scheiben, und die Farbe Grün bekommt hier eine symbolische, keine nur idyllisch-malerische Bedeutung, wie Strophe 5 heraushebt: „Du hast die Süße nicht von jenem grünen Blinken,/das sanft durch Fenster fließt, die einwärts winken,/wo er das Leder glättet“ – so wird er dort zu Mallarmé sagen.
Zur Charakterisierung der Häuslichkeit („chez lui“) wird das kleine Herdfeuer genannt, dessen goldener Schein sich im Zimmer verbreitet, das Feuer, vom dem es ausdrücklich heißt: „Aussi il y a une pureté dans le petit feu.“ Dies, die Reinheit und das Gold, haben einen unmittelbaren Bezug zur Metaphorik des Symbolismus, schimmert doch Mallarmés Gedicht geradezu vom Glitzer und Glanz reiner Metalle und kostbarer, edler, reiner Stoffe und Materien wie eben von Gold oder Wasser, das den himmlischen Ort oder die abgründig-azurne Tiefe des Mallarméschen Gedichts widerspiegelt, das Blau des Himmels. Ja, das Blau Mallarmés, können wir sagen, steht in augenscheinlichem Farbkontrast zum Grün bei Francis Jammes, dem Grün des primitiven, urtümlichen Lebens, Grün von Gras und Wiese, wo die mit den Armen verwandten Tiere sich tummeln und weiden, Kuh, Schaf und Esel, Hase und Ziege. „Auch hier ist Reinheit, mein Mallarmé“, sagt Jammes und verweist die vom Symbolismus beschworene Reinheit des unbefleckten sprachlichen Ausdrucks ins Reich der surrealen Fabel, denn die Reinheit des wahren Lebens ist wie die Schuhe Van Goghs voller Erde und Lehm.
Es geht um das Leben der Armen, und Jammes hat hier auf der Schwelle des Gedichts, der erwähnten Mittelstrophe, die Kühnheit, sie wie Steine neben Steine zu stellen, rohe Grenzsteine des Felds und wuchtige Menhire des Ahnengedenkens, kaum oder kunstlos behauene Grabsteine, im Gegensatz zu den funkelnden und reich mit Rubinen und Smaragden besetzen Amuletten und Spangen, Fibeln und Reifen der symbolistischen Metaphern, die gern das Licht in Kristall, Perlmutt und Blütenfeuchte spielen lassen. Gottes Liebe aber gilt diesen beiden, den Armen und den groben Steinen: Die Ehre und der Ruhm sind nicht verkörpert im Lorbeerkranz des Dichters, dem Kranz, den die Muse verleiht, sondern wie die Palmen des Siegs auf dem Grabstein, die wiederum ins göttliche Geheimnis weisen.
Dem apollinischen Auge aus der teilnahmslosen Höhe oder grenzenlosen Tiefe des reinen Azurs mögen die kleinen Leute, die ihrem Schuster das letzte Geleit geben, der Erdkrumen zu viele an den von ihm gefertigten Schuhen mit sich schleppen: „Du solltest darob nicht lachen, mein Mallarmé“, erhebt Jammes nun seine bis zur Ungehaltenheit, ja Anklage sich steigernde Stimme: „Was hast du Gutes denn erzeugt?“ Ihm, Mallarmé, fehle, heißt es weiter, die Süße des grünen Leuchtens, das dem kleinen Schuster ins angelehnte Fenster fließt. Er male bloß Ornamente, rätselhaften Zierrat auf die fahle Pergamenthaut des Nichts, der dem seltsam überfeinerten Geschmack der soignierten Damen in jenen Pariser Salons schmeicheln mag, die den Achatglanz ihrer verführerischen Augen hinter ebenso zierlich bemalten Fächern halb hervorglimmen lassen, halb verschatten. O ja, die gebildeten Damen, denn gebildet sind sie über die Maßen, daß sie, anders als der dumme, einfältige Schuster, die leisesten Anspielungen und mythopoetischen Zaubertricks der Mallarméschen Dichtkunst wie die schwebenden Harmonien des Wagnerschen Tristanakkords, die fast verschwimmenden Duftnoten ihrer Parfums oder die schillernden Nuancen ihrer seidenen Wäsche wie geträumte Muster auf Schmetterlingsflügeln zu distinguieren vermögen.
Gewiß, in der Welt der kleinen Leuten und der Armen hat es diese Fächer, diesen Zierrat, diese entrückenden Düfte nicht; hier auch werden andere Lieder angestimmt, doch keine beschwingten einer rustikalen Folklore, sondern solche grünen Schimmers, die wie vom betauten Moos des nächtlichen Quells aus dem Leiden der Kreatur herauftönen.
Der parfümierte Geschmack des Symbolismus rümpft die Nase vor dem Geruch der Erde, des nach dem Regen feuchten Heus, dem Stallgeruch und beißenden Dunst aus den schweren Leibern der Kühe, er hält sich die Ohren zu vor dem Brüllen der kalbenden Kuh, den scharfen Klängen der Sense oder beim harschen Splittern des gefällten Holzes, die durch Francis Jammes Eingang in die Verse der höheren Dichtkunst erlangen.
Alles drängt in der kreatürlichen Welt des Blühens und Wachsens, des Furchens und Säens, des Werkelns und Bauens zur Reife, zur Frucht, zur Ernte, auf daß dem dürftigen Leben die kurze Rast des Feierabends oder des Singens am Herdfeuer gespart und gegönnt sei.
Anders die unfruchtbare, sterile Zone des symbolistischen Traums, dessen Figuren blendend weiße Knospen vor der schweigenden Bläue des Himmels sind und denen zu vollen Früchten sich zu runden und auszureifen, geschweige denn auf den herben Lippen eines Bauernmädchen ihren roten und blauen Saft zu verschwenden verwehrt ist.
Und die lesenden, malenden, Tagebuch auf kostbares Japanpapier schreibenden Damen, denen die Fächer Mallarmés den lüstern verzagten Schwung der Lippen und die Schatten um die von Sternlicht entzündeten Augen diskret, aber ohne Scham verhüllen – sie sind wie duftlose Knospen, denen jene Früchte, die schwer in den Herbst des Lebens fallen, nicht reifen. Sie aber hetzen von Lesung zu Lesung, von Vernissage zu Vernissage, hecheln von Höhepunkt zu Höhepunkt – und bleiben im Herzen frigide. Anders als der ungebildete, stumme Schuster verplaudern sie, ihre Lesefrüchte träumerisch zerkauend, die Luft des eigenen Schicksals, sodaß sie ohne Bindung und Bezug zu den elementaren Mächten des Daseins den zierlich bemalten Fächer aus Langeweile oder Neugier auf gewagtere Travestien und neumodische Maskeraden alsbald fahren lassen.
Der Arme findet nicht den an Ekstase und Schwindel grenzenden wollüstigen Trost der Selbstvergessenheit im Anblick der sich spreizenden, sich bauschenden, unter blaue Schatten sich duckenden symbolistischen Tiere wie des Pfaus, des Schwans, des edlen Wilds. Ihn sänftigen das runde Auge der Kuh und das dunkle Gurren der Taube. Im Frühling aber die Vögel, Schwalben vielleicht, vielleicht aber auch Engel, die an seinem Fenster vorbeistreifen; und sie schauen nicht nach dem Goldglanz jenes Stirnreifs, mit dem sich der königliche oder hochpriesterliche Sinn eines Mallarmé selber krönt, sondern eher auf das alte Messer, mit dem der kleine Schuster das harte Schwarzbrot schneidet.
„Was hast du Gutes denn vollbracht?“, eine provokante Frage, die Jammes an den Meister richtet, der seine reine Dichtung von jedem religiösen und moralischen Wert emanzipiert zu haben glaubte. Freilich, wenn einzig das leere Spiel der nur aufeinander anspielenden Zeichen zählt, erübrigt sich die Frage nach dem Guten, Echten, Lebenerweckenden. Was bleibt, sind Ornamente, bemalte Fächer, Kalligraphien der Leere – die Perfektion der Form ohne transzendenten Gehalt.
Francis Jammes aber öffnet die Form für dein Zustrom neuer dichterischer Gehalte, die sie als Medium des Gesprächs restaurieren. Gespräch mit sich selbst, Gespräch mit dem Leser. Worüber? Das Leben, seine Traurigkeit und Süße, seine Armut und Größe, seine Verlorenheit und Heiligkeit. Doch all das – und dies ist die poetologische Pointe – nicht bei einer Verwerfung, sondern durch Mitnahme, Rettung, subtile Anordnung der von der symbolistischen Dichtung eroberten Ausdrucksmittel: So ergießt sich ein weiches Fluidum, ein milder Glanz, ein grünes Leuchten über das sorgsam ausgeführte Gebilde, doch nicht um ihm eine selbstherrliche Aureole zu verleihen, sondern um es gleichsam auf eine reine, offene Hand zu heben, zu legen, die sich gütig hinabreicht.
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