Philosophie und Grammatik III
Vom Sinn der Interjektionen
Am Anfang war, könnten wir sagen, die Interjektion, Ausrufe wie „O!“, „Ach!“, „So was!“, „Du liebe Güte!“, „Was du nicht sagst!“, „Wirklich?“, „Das ist ja allerhand!“, „Wer hätte das gedacht!“, „Wie häßlich!“, „Wie schön!“, „Wie grauenhaft!“, „Wie wunderbar!“ – Ausrufe, die unser Erstaunen, unser Entsetzen, unsere Ergriffenheit, unseren Abscheu, immer aber unsere Betroffenheit bekunden.
Die Interjektion, eingebettet in die Welt sinnenhafter Bedeutsamkeit, signalisiert unseren Zugang zu dieser Welt und belehrt uns über unsere elementaren Lebensvollzüge – nicht die wissenschaftliche Theorie, weder die Biologie noch die Soziologie.
Wenn wir uns ins Denkerstübchen, den Elfenbeinturm oder wie Descartes hinter den warmen Ofen zurückziehen und auf den eigenen Nabel oder den phantasmatischen Dunst im eigenen Kopf starren, sind wir bald von allen guten Geistern verlassen, sprich, der rauhe Wind der Wirklichkeit fährt uns nicht mehr an und verwirrt uns die Frisur, sodaß wir ausrufen „Oh!“, die sanfte Brise weht uns keine Sommerdüfte mehr aus den Gärten heran, sodaß wir seufzen „Ah!“
Das, was wir in Interjektionen zum Ausdruck bringen, ist die Initialzündung für unser religiöses Gefühl, für Dichtung und Musik, aber es ist auch der Sinnkeim für das Verständnis unserer alltäglichen Praxis.
Wie spät, wie geistlich müde und ergraut sind theoretischen Argumente der Philosophen und Theologen zum Beweis des Daseins Gottes. – Freilich, dies begriffliche Spinnenweb mit barscher Hand wegzuwischen und in die blaue, leere Luft starrend mit hohler Prophetenstimme auszurufen, es sei kein Gott, ist indes nicht weniger eitel, aufgeblasen und sinnlos.
„Aha!“ sagen wir, wenn der Groschen gefallen ist und wir die richtige Schublade, die richtige Tür, den richtigen Weg gefunden oder den Griff, den Hebel, den Knopf gedrückt haben, der die Maschine in Gang setzt.
Interjektionen bezeichnen und benennen nichts; „O!“ bezeichnet nicht das Erstaunen, es drückt das Erstaunen aus, „Pfui!“ bezeichnet keinen Gegenstand des Ekels, sondern ist ein Ausdruck des Ekels und Abscheus. Die Interjektion, können wir sagen, ist ein integraler Teil dessen, was sie ausdrückt, oder sie steht als Ausdruck einer Gemütsbewegung mit dieser in einer internen Relation.
Wenn wir gefragt werden, was uns zu diesem oder jenem Ausruf bewogen hat, können wir auf den entsprechenden Gegenstand zeigen oder ihn benennen; doch wir hätten ihn als solchen nicht entdeckt, er hätte sich uns als solcher nicht enthüllt ohne die im Ausruf der Interjektion sich kundgebende Gemütsbewegung.
Die Welt, in der wir leben, enthüllt sich uns nicht durch theoretische Betrachtung, sondern infolge des praktischen Umgangs mit den Dingen, die Bedeutung für uns haben, weil sie uns dazu dienen, unser Dasein zu fristen und das Leben zu bewältigen.
„So viel!“ – „So wenig!“ – „Prima!“ sind Ausrufe, die unser Erstaunen, unsere Enttäuschung und unsere Befriedigung über die Tatsache zum Ausdruck bringen, daß die Menge und Anzahl der Dinge unsere Erwartung übertrifft, unterbietet oder erfüllt; hernach mögen wir sie zählen und uns arithmetische Gewißheit darüber verschaffen, inwiefern unsere Erwartung nicht stimmte oder genau richtig gewesen ist. Dann finden wir ein Maß, an dem gemessen unsere Erwartungen sich erfüllen oder nicht erfüllen, wie so und so viele Scheffel Weizen, so und so viel Liter Wasser oder so und so viel Morgen oder Hektar Ackerland.
„Mist!“ – „Verdammt!“ – „Verflixt!“ sind offenkundig Ausrufe, die unseren Ärger über eine verpaßte Gelegenheit, eine Sache, die nicht klappt, einen erlittenen Schaden oder ein Mißgeschick zum Ausdruck bringen. Wir haben den Nagel schief eingeschlagen, der Ausguß ist verstopft, der Türgriff klemmt. Erst wenn wir, durch das Mißgeschick oder den Schaden gleichsam aus der Alltagssituation herausgerissen, die Dinge, die uns bisher ohne Widerstreben ihre Dienste taten, auf die schadhaften Stellen hin betrachten und begutachten, wird, mit Heidegger zu sprechen, aus dem uns fügsamen Alltagszeug ein Gegenstand der theoretischen Neugierde, ein so und so beschaffener Gegenstand, ein vorhandenes Etwas, das wir auf seine Funktionsweise und interne Struktur hin untersuchen und analysieren.
Unser primärer Weltzugang ist demnach nicht durch die theoretische Neugierde und das zweckfreie Sehen und neugierige Betrachten geprägt, wie es uns die platonische Tradition bis hin zu Descartes und Husserl eingeschärft hat, sondern durch den Umgang mit den Pragmata, den Dingen und Vorgängen unserer alltäglichen Lebensbewältigung. Nicht das theoretische Wissen, das sich in die dünne Luft der Wesenheiten, Ideen und Strukturen versteigt, wo wir nicht mehr atmen können, bereitet die Schwelle zur Weltweisheit, sondern all jene Fertigkeiten und Gewohnheiten, die wir im Umgang mit den Dingen und miteinander eingeübt und verfeinert haben.
„Wie herrlich!“ – „Wie wunderbar!“ – „Wie schön!“ Auch was uns zu Ausrufen des Entzückens, der Bewunderung und Ergriffenheit veranlaßt, die duftend aufgegangenen Rosen des Gartens sowohl als die gemalten des Stillebens, das Rauschen des Wassers und des Blattwerks, das Lied der Nachtigall und die Gesänge Sapphos oder Goethes, die Arien aus Mozarts Opern, aber auch die geistlichen Hymnen und religiösen Lobgesänge, all dies ist kein bloßer ästhetischer Gegenstand der interesselosen Betrachtung eines blasierten und gelangweilten Eckenstehers oder des dumpfen Genusses eines Müßiggängers im Sonntagsstaat, sondern die Nahrung für unseren Hunger nach lebendiger Harmonie und seelischem Trost.
„Ach!“ – „Weh!“ – „Mein Gott!“ Solche Interjektionen verweisen auf die Nahtstelle zwischen dem Klagenden und dem, was er für bedeutsam erachtet und was seinem Leben Bedeutung verleiht, wie der Geliebten, die ihn verlassen hat, dem Bruder, der Schwester, dem Vater, der Mutter oder dem Kind, dem Angehörigen, dessen Tod er beweint.
Der Nahestehende, dessen Verlust wir beklagen, ist kein natürlicher Gegenstand, den unser Geist wie das Objekt der theoretischen Neugierde in einem mentalen Symbol repräsentiert und dieses nach syntaktischen Regeln mit anderen Symbolen in sinnvollen Aussagen verknüpft – er ist männlichen Geschlechts, so und so alt, so und so schwer, blauäugig, von Beruf Maler und starb an Herzschwäche; vielmehr ist der Verstorbene der Knotenpunkt eines Netzes von Bedeutungsfäden, die sich um unsere Begegnungen, unser Miteinander, unsere Gespräche gewoben haben.
Wenn wir an der Beerdigung des Freundes teilnehmen wollen, um unserer Trauer Ausdruck zu geben und den Angehörigen unsere Anteilnahmen zu bezeigen, müssen wir uns vielleicht davon in Kenntnis setzen, wo und wann die Trauerfeier und die Grablege stattfinden und welche Bahn wir nehmen müssen, um rechtzeitig vor Ort zu erscheinen. Diese Weisen der Information sind, können wir sagen, Bestandteile unseres Trauerbenehmens und erhalten einzig von ihm her ihren Sinn. Indes sind der Anlaß und der Grund unserer Trauer nicht in solchen Formen der Kenntnisnahme, der Mitteilung und des Wissens gegeben – auch wenn wir vom Tod des Freundes durch einen Anruf oder eine Traueranzeige verständigt und in Kenntnis gesetzt wurden.
Unsere wesentlichen Lebensvollzüge, die in Interjektionen des Erstaunens, der Freude, der Bestürzung oder der Begeisterung Ausdruck finden, sind keine Funktionen des Wissens, auch wenn wir Weisen der Mitteilung als Medium und Mittel nutzen, sie in die rechten Bahnen zu leiten.
Der Christ, der an der Passion, dem Leiden und Sterben Jesu, Anteil nimmt, wird für seine Trauer keinen Trost und keinen Grund der Steigerung darin finden, daß die historische Forschung ihm erklärt, das Sterben und die Leiden Jesu hätten weniger lang oder länger gedauert, als bisher angenommen.
Unsere Lebensvollzüge stehen in keiner internen Relation zu dem, was die Wissenschaften als ihren Gegenstand definieren, behandeln und untersuchen. Der verstorbene Freund war zweifellos ein Exemplar der Gattung Homo sapiens, aber unsere Trauer gilt keinem Exemplar einer natürlichen Gattung namens Peter, sondern unserem Freund Peter.
Die Briefe, die unser verstorbener Freund uns geschickt hat und in denen wir zu seinem Angedenken gern wieder lesen, sind gewiß aus dem Papier mit jenen Eigenschaften, die uns der Chemiker aufzählen kann; doch die Zeichen, die wir lesen, sind keine natürlichen Phänomene, sondern erhalten ihre Bedeutsamkeit als die Handschrift dessen, um den wir trauern.
Keine wissenschaftliche Linguistik und keine Sprachwissenschaft können den Zusammenhang zwischen dem Schriftbild jener Briefe und der Bedeutung der Zeichen erklären, die sie für mich haben, keine Psychologie kann den Zusammenhang der wörtlichen Bedeutung der Zeichen und der Tatsache erklären, daß sich mir bei der Lektüre dieser so beiläufigen Briefstelle der Ausruf „Ach!“ und jener so unscheinbaren der Ausruf „Wie schön!“ entringen.
Der menschliche Geist oder das Bewußtsein ist keine innere Welt oder ein Behälter von Vorstellungen, Gedanken und Gemütsbewegungen und ihren Dispositionen, der auf mysteriöse Weise mit dem Gehirn verbunden oder mit ihm identisch wäre, sodaß die mentalen Bilder und Repräsentationen dasselbe wären wie ihre neuronalen Zwillinge. Als würde ich von den Außenposten dieses mentalen oder neurophysiologischen Behälters wie den Augen und Ohren mysteriöse Botschaften empfangen, die mich beispielsweise zu den Interjektionen „Ach!“ und „Weh!“ stimulieren könnten.
Ich lese die Todesanzeige des Freundes und rufe „Ach!“ und „Weh“; dieselbe Anzeige bleibt unter den Augen meines Nachbarn eine bedeutungslose Anhäufung von Zeichen, die ein Wimpernschlag verdunkelt.
Wir verstehen Ausrufe und Interjektionen so, wie wir den Ausruf „Au!“ dessen verstehen, der Schmerzen empfindet. Denn wie den Ausruf „Au!“ in der Äußerung „Es tut mir weh“ lernen wir die Interjektionen „Ach“ und „O!“ beispielsweise in den Äußerungen „Das finde ich schade“ und „Das erstaunt mich“ sinngemäß wiederzugeben.
Die korrekte Übersetzung des Ausdrucks von Interjektionen ist ihre Einbettung in die pragmatische und sprachliche Umgebung ihrer Äußerung; nicht korrekt ist ihre Übersetzung in Aussagesätze wie „Hier ist etwas, was Schaden verursacht“ oder „Dort gibt es etwas, was Staunen hervorruft“. Denn diese Aussagen ließen sich im Gegensatz zu Interjektionen anzweifeln und infrage stellen.
Unsere Ausrufe richten sich im sozialen Feld der Bedeutsamkeit an ein gegenwärtiges oder imaginäres Gegenüber, einen gegenwärtigen oder imaginären Hörer. Der Seufzer dessen, der bewegt und ergriffen seine Briefe liest, gilt ja dem verstorbenen Freund; und hier dürfen wir, ohne metaphysischen Illusionen zu frönen, sagen, seiner Seele. Das „Ach!“ und „O!“ dessen, der die Lieder Schuberts hört, sie gelten der imaginären Figur des Wanderers, aus dessen Mund sie tönen, und in der er bisweilen den Komponisten zu vernehmen wähnt.
Auch die Ausrufe des Verirrten, des Verzweifelten und des Sterbenden durchschneiden gleichsam das Feld der Bedeutsamkeit, das schon von jeher von Rufen und Ausrufen durchfurcht und wie mit Ritzen oder Löchern markiert worden ist; sie haben indes kein Gegenüber mehr wie das imaginäre Gegenüber der Mutter, wenn das Kind seine Rufe der Angst oder des Schmerzes in das finstere Zimmer der Abwesenheit ruft. Hier wäre, könnten wir sagen, die äußerste Schwelle menschlichen Rufens erreicht, auf der uns aus der Nacht wie ein Echo die Worte des Psalms widerklingen: „Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir.“
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