Sinniges über philosophischen Unsinn
„Alle Körper sind ausgedehnt.“ – „Alles, was wir erfahren, hat die Anschauungsformen von Raum und Zeit.“ – „Alles, was ich sehe, sehe ich aus meinem Blickwinkel (perspektivisch).“
Diese Sätze sind keine empirischen Aussagen; andernfalls müßte ich sie auch negieren können und etwa fragen, ob es einen unausgedehnten Körper geben könnte, ob ich etwas Unräumliches oder Unzeitliches sehen könnte, ob ich wohl etwas sehen könnte, was außerhalb meines Blickwinkels oder Gesichtsfelds liegt.
Ist der blaue Himmel, dessen grenzenlose Ausdehnung ich nicht ermessen kann, unkörperlich?
Diese Sätze sind, obwohl sie es unter der empirischen Haut verhüllen, grammatische Bemerkungen zu der Art und Weise, wie wir die Begriffe Körper, Erfahrung und Sehen korrekt verwenden sollen.
Freilich, als Vorspiegelung von Aussagen über empirische Sachverhalte gelesen, sind die Sätze philosophischer Unsinn.
Die Grammatik, die uns die Regeln der Verwendung der Begriffe „Körper“ „Ausdehnung“ und „Raum-Zeit“ angibt, fällt wie die Sprache nicht unter ihre Regeln. Ist sie deshalb unkörperlich, unausgedehnt, jenseits von Raum und Zeit?
Wir können die Sprache nicht vor der Sprache untersuchen, von der Sprache nicht handeln, ohne zu sprechen.
Die Grammatik der Verwendung der Begriffe „Körper“ „Ausdehnung“ und „Raum-Zeit-Erfahrung“ kommt in der Tatsache zum Vorschein, daß wir „körperlich“ und „ausgedehnt“ meist synonym gebrauchen. Wir können unsere Wahrnehmung eines Gegenstandes nicht beschreiben, ohne Wörter zu gebrauchen wie „nah“ und „fern“, „rechts“ und „links“, „oben“ und „unten“, aber auch „jetzt“ und „dann“, „vor einem Augenblick“ und „hernach“. Und es ist klar, daß all diese Beschreibungen ihren Bezugs- und Quellpunkt in demjenigen haben, der beschreibt, was und wie er etwas sieht.
Daß ich nicht umhinkann, das beobachtete Ding als so und so nah oder fern, rechts oder links von mir, soeben dort und jetzt hier zu beschreiben, drückt keine objektive Notwendigkeit aus, sondern den grammatisch-logischen Zwang, der ihrem regelförmigen Gebrauch anhaftet.
Wir beschreiben, was wir wahrnehmen gemäß dem grammatischen Muster eines Gegenstandes, dem wir bestimmte Eigenschaften zuschreiben. Auch dies ist ein normativer Zug unserer Art, über unsere Erfahrung zu reden. Wir könnten uns auch eine Sprache ausdenken, in der wir nicht sagen: „Dort geht mein Freund Peter“, sondern „Dort manifestiert sich Peters Gehen.“
*
„Er war wieder bei Bewußtsein.“ – „Menschen haben Bewußtsein.“
Der erste Satz ist gutes Deutsch und ohne weiteres verständlich; der zweite philosophischer Unsinn.
Wir bemerken in Fällen der Verwendung des Begriffs Bewußtsein die Grenze zum Unsinn, wenn wir nicht mehr wie in gewöhnlicher Rede das Substantiv durch das Adverb „bewußt“ ersetzen können. Denn wir können ja von dem aus dem Koma Erwachten auch sagen, er war sich seiner (und der Umgebung) wieder bewußt. Ansonsten reden wir nur einigermaßen besonnen daher, wenn wir Sätze bilden wie: „Er war sich der Schwere seiner Verantwortung bewußt.“ – „Er hat ihr die Türe ganz bewußt vor der Nase zugeschlagen.“ – „Er runzelte die Stirn und biß sich auf die Lippen, so konzentriert und aufmerksam verfolgte er das Wettrennen.“ – „Die Rede langweilte ihn, seine Gedanken schweiften ab zu ganz anderen Dingen.“
Das Bewußtsein ist ein Pseudo-Gegenstand. Darin ähnlich der Bedeutung eines Worts oder der Existenz einer Zahl. Dasselbe gilt für Begriffe wie das Selbst, das Ich, das Selbstbewußtsein.
Die Aussage, daß wir Menschen Bewußtsein zuschreiben, ist eine kryptische Bemerkung über die grammatische Regel, nach der wir Begriffe wie „denken“, „wissen“, wahrnehmen“, „sprechen“, „sich erinnern“, „wünschen“, „hoffen, „befürchten“ und manche andere verwenden sollten – nämlich anders als die Begriffe, mit denen wir Größe, Farbe, Gewicht oder Temperatur eines Gegenstandes bestimmen. Der Gedanke, die Äußerung, die Erinnerung oder der Wunsch sind keine Modifikation des Körpers dessen, dem wir sie zuschreiben (auch keine bloße Modifikation seines Nervensystems).
*
Das Selbst oder das Ich ist ein Pseudo-Gegenstand. Wir können diese philosophische Hypostasierung streichen, indem wir korrekte Sätze bilden wie „Ich bin müde“ oder „Ich selbst habe das und das getan.“
Wir verstehen, wenn es heißt, er habe die Vase selbst umgestoßen und nicht wie es zunächst den Anschein hatte sein Tischnachbar, oder er selbst habe die Tür geöffnet und nicht wie es dem Gast zunächst schien, sein Zwillingsbruder. So kann er von sich sagen: „Ich war es selbst, der die Vase umgestoßen, der die Tür geöffnet hat.“
Was wir von uns selbst sagen, kann auch ein anderer von sich sagen. Darum versteht er, was wir meinen.
„Hast du das selbst geschrieben?“ – Oder war es ein anderer und es ist nicht auf deinem Mist gewachsen? Mit „selbst“ akzentuieren wir die Urheberschaft der handelnden und sprechenden Person. – „Selbst Peter mußte am Ende eingestehen, daß wir uns im Weg geirrt haben.“ – Hier heißt „selbst“ nur soviel wie „sogar“.
*
Das Gute ist ein Pseudo-Gegenstand. Darin ähnelt es den Begriffen das Böse, das Schöne, das Häßliche, das Erhabene.
„Er glaubte an das Gute im Menschen.“ – Das kann heißen: Obwohl er nicht die besten Erfahrungen mit seinen Mitmenschen gemacht hatte, zerstörte ein gerüttelt Maß an gewachsenem Mißtrauen und Argwohn dennoch nicht den Wunsch und die Hoffnung, es mit dem einen oder anderen zu versuchen oder ein gedeihliches Auskommen zu finden.
Wir verwenden „gut“ in gutem Deutsch als Adverb und Adjektiv, um Dinge, Ereignisse, Eigenschaften zu charakterisieren, die uns förderlich, gedeihlich, erwünscht scheinen.
Etwas kann gut riechen, schmecken, tun, dann heißt „gut“ soviel wie angenehm. „Es hat gut geklappt.“ – „Das ist noch einmal gut gegangen.“ – „Sie erwiesen sich als gute Fußballspieler, Unternehmer, Techniker.“ –„Er hat seine Sache gut gemacht.“ Dann heißt „gut“ soviel wie „ohne Schwierigkeiten, Hindernisse, professionell, perfekt, gekonnt.“
„Sie war ihm wieder gut.“ – Sie grollte ihm nicht länger, war mit ihm versöhnt, war ihm gewogen.
„Und Er sah, daß alles gut war.“ – Alles war in der vorbedachten, gewünschten Ordnung, hier Himmel, dort Erde und Meer, hier die Tierwelt, hier die Menschen im Garten Eden.
„Er hatte es doch nur gut gemeint.“ – Obwohl er mit den hehrsten Absichten ans Werk ging, ist es schiefgegangen.
„Der Unterschied zwischen gut und angenehm hat seinen guten Sinn.“ – Die Bedeutungsdifferenzierung ist sachgemäß.
„Er war doch ein guter Kerl.“ – Er hat zwar viel Mist gebaut, am Ende ist er aber gereift und hat manches wiedergutgemacht.
Wir können den außermoralischen Sinn von „gut“ auch anhand solcher Verben erhellen wie guttun, wiedergutmachen, gutschreiben, vergüten, begütigen, begutachten, verbessern.
Was dem einen guttut und wohltut, kann dem anderen wehtun. – Sie küßte Peter, nicht Hans.
Was für den einen eine gute Tat, ist dem anderen eine Kränkung. – Den einen heilt der Wunderrabbi, sein kranker Nachbar geht leer aus.
„Und er sah, daß alles gut war.“ – Aber der Sohn des Chaos sagt: „Schlecht!“
Wir können in eingeschränkten Fällen von DEM Guten oder dem GUTEN sprechen, wie: „Er hat das Gute genossen (und jetzt kommen die dunklen Tage).“ – „Das Gute daran war, daß …“ – „Er sah, daß er noch manches Gute tun konnte.“
Ein gütiger Mensch ist einer, der versöhnlich, verträglich und nicht nachtragend ist, eher freigebig als knauserig, eher zuvorkommend und offenherzig als engherzig und verschlossen. – Doch am falschen Platz (als Polizist, Richter, Staatsanwalt) mag der gütige Mensch einfältig, naiv oder töricht erscheinen.
„In terra pax hominibus bonae voluntatis.“ – Die göttliche Gnade also ist denen gewährt oder versprochen, die guten Willens sind. Heißt dies: die fromm sind wie das Lamm? Aber so zu sein, wäre selbst eine Wirkung der die menschliche Natur verwandelnden Gnade. – Etwas, wovon wir philosophisch nicht sprechen können.
Der Arzt weiß, welches Medikament dem Kranken hilft und guttut, der erfahrene Therapeut weiß, welche Verhaltens- und Einstellungsänderung den Patienten aus seiner Sackgasse bringen könnte, der Weise führt dem Verwirrten Sinnbilder vor Augen, die ihn vielleicht aus der Verstrickung lösen.
Doch der Scharlatan, der Weltverbesserer, der Terrorist, sie glauben zu wissen, was für alle gut ist, sie geben vor, im Namen des Guten zu handeln, wenn sie ihr Gift verabreichen, die Guillotine aufs Hochgericht stellen, die Bombe zünden.
Es gibt keine allgemeine Definition des Guten, und diejenigen, die sie verabreichen, verdienen unseren Argwohn. Wir können den Sinn dessen, was wir „gut“ nennen, nur der kaum übersehbaren Mannigfaltigkeit der Verwendungen des Begriffs in mehr oder weniger verflochtenen und sich überkreuzenden Sprachspielen entnehmen.
Wir können aus der Vielzahl der Verwendungen des Begriffs keinen idealen Allgemeinbegriff destillieren, als wäre dies das reine weiße Licht im Verhältnis zum Schillern der Farben, wenn es sich in einem trüben Medium bricht. Was dabei herauskommt, ist der philosophische Unsinn der reinen Sonne und der losgelösten Idee des Guten. Vom weißen Licht geblendet, würden wir die kleinen blauen Veilchen nicht mehr sehen, die den Kopf hängen lassen und nach dem Wasser verlangen, mit dem wir sie besprengen sollten.
Sind wir also auf verlorenem Posten? Keineswegs. Denn wir haben einen sicheren moralischen Instinkt im schlechten Gewissen; so wenn wir die Augen vor einem Freund niederschlagen, dem gegenüber wir das (ausgesprochene oder implizite) Versprechen, ihm unsere Freundschaft in Rat und Tat zu bezeigen, nicht eingelöst haben, weil wir ihn im Stich ließen, als er krank daniederlag.
Wir bedürfen nicht der Idee und des Begriffs des Guten, solange wir wissen, was es heißt, anständig zu handeln.
Aber, könnte man einwenden, haben nicht Leute quicklebendig vor Leichenhaufen gestanden und sich gerühmt, inmitten aller Greuel anständig geblieben zu sein? – Nun, dies waren Weltverbesserungsfanatiker, die das Gespür für Anstand mit dem guten Gewissen vermengten, ihre blutrünstigen Ideale zu verwirklichen. Das schlechte Gewissen ist, mag auch der Übermensch kalte Füße bekommen, ein besseres Thermostat der Moral als das gute.
Comments are closed.