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Philosophieren XLII

20.09.2013

Die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke ist nicht identisch mit den Hirnzuständen, die auftreten, wenn wir sie bilden und verwenden.

Du sagst mir: „Ich habe Schmerzen im rechten Knie“, weil und während du in diesem Moment, da du den Satz aussprichst, Schmerzen im rechten Knie hast. Wäre die Bedeutung des sprachlichen Ausdrucks identisch mit dem neuronalen Muster, das auftritt, wenn und weil du Schmerzen hast, hätte der von dir zwei Tage später geäußerte Satz: „Ich erinnere mich, vorgestern Schmerzen im rechten Knie gehabt zu haben“ nicht die von dir intendierte Bedeutung, weil die Erinnerung an die Schmerzen, die nicht schmerzhaft ist, nicht mit demselben neuronalen Muster in deinem Gehirn hinterlegt ist wie die aktuellen Schmerzen. Was aber, wenn die Bedeutung des Satzes „Ich habe Schmerzen im rechten Knie“ durch den Hirnzustand realer Schmerzen determiniert wäre, du aber den Satz äußerst, ohne überhaupt Schmerzen zu empfinden, also lügst oder die Unwahrheit sagst? Wie erklären wir die Bedeutung der Negation, im Falle du sagst „Ich habe keine Schmerzen (mehr) im rechten Knie“? Du kannst ja nicht das neuronale Schmerzmuster haben, und gleichzeitig tut es nicht weh!

Wenn du im Fremdsprachenunterricht den Satz zu bilden gelernt hast: „Jʼai des douleurs dans mon genou droit“, müsstest du dann diesen französischen Satz mit demselben neuronalen Muster in deinem Gehirn repräsentieren wie den deutschen Satz „Ich habe Schmerzen in meinem rechten Knie“? Wenn die Bedeutung identisch wäre mit dem Hirnzustand, der auftritt, wenn du den Satz verwendest, könnte der französische Satz keine Übersetzung des deutschen Satzes sein, weil die Lautbildung im einen und anderen Falle durchaus unterschiedlich ausfällt, gewiss aber auch diese mittels neuronaler Muster im Gehirn repräsentiert wird. Und wollen wir die Bedeutungen unserer Sätze jenseits aller Lautbildung als abstrakte Entitäten in einen platonischen Himmel verweisen? Wäre dem so, könnte die Bedeutung der sprachlichen Ausdrücke erst recht nicht mit unseren Hirnzuständen identisch sein!

Wären die Bedeutungen sprachlicher Ausdrücke identisch mit den neuronalen Mustern, die auftreten, weil und wenn wir sie verwenden, wie könnte wohl die Bedeutung des sprachlichen Ausdrucks, die dein Hirnzustand repräsentiert, identisch sein mit der Bedeutung des sprachlichen Ausdrucks, den mein Hirnzustand oder der Hirnzustand deines Gesprächspartners repräsentiert?

Weil nämlich Gehirnzustände verschiedener Individuen, die dieselben Sätze bilden und verwenden, immer nur mehr oder weniger ähnlich, nicht aber ganz und gar identisch zu sein pflegen, könnten die Bedeutungen der von ihnen geäußerten Sätze nicht übereinstimmen, wenn diese denn mit den Hirnzuständen identisch wären. Folglich wäre eine sprachliche Verständigung nicht möglich. Da wir uns aber spielend über das wirkliche oder vorgetäuschte Vorhandensein von Schmerzen im rechten Knie verständigen können, folgt daraus, dass aufgrund der Differenz der aktuellen Hirnzustände der Unterredner die Bedeutungen der von ihnen verwendeten sprachlichen Ausdrücke nicht mit den neuronalen Mustern identisch sind, die bei eben dieser Verwendung der Sätze auftreten.

Wären die Bedeutungen der sprachlichen Ausdrücke identisch mit den Hirnzuständen, die auftreten, wenn wir sie verwenden, wäre mein aktueller Hirnzustand, stimuliert durch das Sehbild einer in einem dunklen Zimmer brennenden realen Kerze, identisch mit meinem Hirnzustand, stimuliert durch das Sehbild derselben Kerze – nur dieses Mal zweifach reflektiert mittels zweier so gegeneinander gedrehter Spiegel, dass ich das Spiegelbild der Kerze nicht seitenverkehrt, sondern in der originalen Ausrichtung wahrnehmen kann. Indes wäre die jeweilige Bedeutung des von mir angesichts des jeweiligen Sehbildes geäußerten Satzes „Dort brennt eine Kerze“, den ich sowohl verwende, um den Seheindruck der realen Kerze wiederzugeben, wie auch verwende, um den Seheindruck der Schein-Kerze wiederzugeben, das eine Mal ein wahrer Satz und das andere Mal ein falscher Satz – die jeweilige Bedeutung der beiden sprachlichen Ausdrücke bei gleichzeitiger Identität der neuronalen Muster oder Hirnzustände, die ihn repräsentieren, also denkbar verschieden, ja die eine Bedeutung das Gegenteil und die Negation der anderen, denn die Tatsache des Brennens der realen Kerze ist das Gegenteil oder die Negation der Tatsache des scheinbaren Brennens der imaginären Kerze, die in Wahrheit dort nicht brennt.

Folglich ist die Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks nicht identisch mit dem neuronalen Muster, das auftritt, wenn wir ihn bilden und verwenden.

Wo steckt denn, wirst du fragen, die vermaledeite Bedeutung des von dir geäußerten Satzes, wenn wir sie auch mit den modernsten bildgebenden Verfahren nicht in deinem Gehirn als neuronales Muster identifizieren und scannen können?

Bedeutungen werden erzeugt von den Formen oder Strukturen der sozialen Praxis unserer Sprache, mit der wir hierzulande und hienieden uns verständigen. Sie sind nicht in unseren Köpfen oder Gehirnen verborgen, sondern liegen wie die Gegenstände und Ereignisse, die sie bezeichnen, gleichsam offen zutage. Ich sehe, wie du mit verzerrtem Gesicht dein Knie umfasst und dabei stöhnst. Ich frage dich: „Hast du Schmerzen in deinem Knie?“ Du bejahst meine Frage – oder gibst die verblüffende Antwort: „Ich übe die Rolle eines Hypochonders und Simulanten für ein Theaterstück. Ich habe also weder jetzt Schmerzen noch werde ich Schmerz empfinden, wenn ich meine Rolle im Stück zum Besten geben werden!“ Ich verstehe beides, dass du Schmerz empfindest wie dass du Schmerzempfindungen simulierst – ein Rekurs auf deinen jeweiligen Hirnzustand erübrigt sich.

Du sagst: „Ich kann mich gar nicht daran erinnern, dass ich vorgestern diese argen Schmerzen im rechten Knie hatte.“ Ist die Tatsache, dass du dich nicht erinnerst, etwa mittels des Umkehr- oder Negativmusters jenes Musters repräsentiert, welches deine Hirnaktivität bildet, wenn du aktuelle Schmerzen im rechten Knie hast?

Du sagst: „Wenn ich vorgestern nicht so hastig von meinem Schreibtisch aufgestanden wäre, hätte ich mir nicht das Knie an der Stuhllehne gestoßen und mir nicht diese bösen Schmerzen eingehandelt.“ Sollen wir dem irrealen Bedingungsgefüge als probatem Mittel der Konstruktion kontrafaktischer Welten Bedeutung nur zusprechen, wenn es auf ein neuronales Muster abgebildet werden kann, das aufträte, wenn wir diesen Satz äußern? Um was für ein Muster könnte es sich dabei handeln? Wie könnten Neuronen Muster mittels aktueller und realer chemisch-elektrischer Aktivitäten formen, die virtuelle und irreale Zustände abbilden sollen?

Wären die Bedeutungen der sprachlichen Ausdrücke identisch mit den sie repräsentierenden Hirnzuständen, hätten sie Teil an den grundlegenden Eigenschaften physikalischer Systeme, wie der Eigenschaft, systemisch oder kausal determiniert zu sein. Wenn du aber deiner Freundin reumütig bekennst, sie damals belogen zu haben, wie könnte sie dich dann tadeln oder dir verzeihen, wenn die Bedeutung des Satzes, mit dem du ihr die Lüge mitgeteilt hast, identisch mit deinem damaligen Hirnzustand gewesen wäre? Wärest du denn überhaupt in der Lage gewesen, den fatalen Satz nicht zu sagen oder einen anderen Satz oder schlicht die Wahrheit zu sagen, wenn die Bedeutung deiner Äußerung die systemischen oder kausalen Eigenschaften von physikalischen Gegenständen aufwiese?

Wäre die Bedeutung unserer sprachlichen Ausdrücke identisch mit den neuronalen Mustern, die auftreten, wenn wir sie verwenden, könnten wir im eigentlichen Sinne nicht willentlich die Unwahrheit sagen oder lügen oder Sätze äußern, für die wir ernsthaft zu tadeln sind.

Wie könnten wir die Sprache lernen oder andere in der Sprache unterrichten, wie könnten wir korrigiert werden oder andere korrigieren, wenn wir und sie bei der Verwendung der Wörter oder der syntaktischen Konstruktion der Sätze Fehler begehen, da physikalisch determinierte Zustände schlechterdings keine Fehler begehen und nicht getadelt werden, sondern schlimmstenfalls ausfallen und eine Panne haben können?

Ich werde dich ja auch beileibe nicht korrigieren oder tadeln, wenn du zu stottern beginnst oder deinen Satz plötzlich abbrichst oder wie in Trance sinnlose Sätze bildest – aufgrund der fatalen Tatsache, dass deine aktuellen Hirnzustände aufgrund pathogener Ereignisse wie der Wirkung von Drogen oder eines Hirnschlags durcheinandergeraten sind?

Weil wir mit einem Gutteil unserer Äußerungen auf das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein von Tatsachen Bezug nehmen, ist unser Sprachgebrauch gleichsam verwoben mit den Konzepten des Wahren und des Falschen. Wahrheit und Falschheit sind logische Eigenschaften und keine physikalischen Eigenschaften. Hirnzustände aber sind gewiss physikalische Eigenschaften. Folglich kann die Bedeutung der von uns verwendeten sprachlichen Ausdrücke nicht mit unseren Hirnzuständen identisch sein.

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