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Wittgensteins Sinnbilder XI – die neapolitanische Geste

06.04.2019

Wittgenstein was insisting that a proposition and that which it describes must have the same ‘logical form’, the same ‘logical multiplicity’. Sraffa made a gesture, familiar to Neapolitans as meaning something like disgust or contempt, of brushing the underneath of his chin with an outward sweep of the finger-tips of one hand. And he asked: ‘What is the logical form of that?’

Wittgenstein bestand darauf, daß eine Proposition und dasjenige, was sie beschreibt, dieselbe „logische Form“, dieselbe „logische Mannigfaltigkeit“ haben müssen. Sraffa machte eine Geste, wie man sie in Neapel zu machen pflegt, die so etwas wie Abscheu oder Verachtung ausdrückt, indem er sich kräftig unter dem Kinn mit den Fingern der flachen Hand entlangfuhr. Dann fragte er: „Und was hat dies für eine logische Form?“

Norman Malcolm, Ludwig Wittgenstein: A Memoir, London 1958, S. 58–59

 

Wittgenstein stand wie bekannt längere Zeit im Gesprächskontakt und brieflichen Verkehr mit dem italienischen Ökonomen Piero Sraffa. Die Anekdote, die sich während einer Zugfahrt abgespielt haben soll, wird von ihm selbst nicht erzählt, aber im Anschluß an den Bericht Malcolms immer wieder gerne kolportiert.

Nehmen wir die seltsame Geschichte einmal für bare Münze: Warum sollte die Geste des Italieners den Philosophen beeindruckt, ja ihm überhaupt als stichhaltiger Einwand zu seiner damaligen Ansicht von der logischen Form des Satzes gegolten haben? Das ist wenig plausibel, denn nicht einmal der orthodoxeste Logozentrist, dem alles Zeichenhafte sich in den Dienst der semantisch abgedichteten Mitteilung stellen muß, würde glauben und erwarten, auch eine Geste habe eine propositionale Struktur und drücke einen Gedanken über einen möglichen oder wirklichen Sachverhalt in der Welt aus.

Wie sollte die Geste, bei der ich mit dem Finger auf eine Person auf der anderen Straßenseite zeige, der Aussage äquivalent sein: „Schau mal, dort geht unser Freund Peter!“? Mit dem Finger deute ich auf irgendetwas, nur der Name identifiziert das Gezeigte.

Zumal die Geste des Italieners (sich mit der Innenfläche der Hand rasch über das Kinn zu fahren, die Finger dabei auseinanderspreizend) eine neapolitanische Geste des Abscheus und der Verachtung ist, durch welche derjenige, der sie vollführt, nichts sagt, sondern etwas ausdrückt, eben diesen spezifischen Gefühlswert und diese maliziöse Einstellung zu seinem Gegenüber.

Wir können mit dem Finger auf Peter deuten, aber nicht „Peter“ meinen, denn wir können auch auf Peter zeigen, wenn wir nicht wissen, daß die Person „Peter“ heißt, und wenn unser Freund uns mit dem Finger auf die Person auf der anderen Straßenseite deutet, ersehen wir daraus natürlich nicht, daß es sich um Peter handelt, welcher uns bisher leider noch nicht vorgestellt worden ist.

Wenn ein Mann sich am Kopf kratzt, mag es ihn da jucken; wenn er es während eines heiklen Gespräches tut, in dessen fatalem Verlauf ihn seine Frau aufs Glatteis führt und ihm den Brief an seine Geliebte vor die Nase hält, drückt er mit der Geste, ohne daß es ihn da juckte, Ratlosigkeit oder Verlegenheit aus – ja, beides mag zusammenkommen, es juckt ihn wirklich und so kratzt er sich, aber er kratzt sich so … bedächtig, umständlich, daß er damit zugleich seine Verlegenheit ausdrückt.

Sicher, wir könnten Gesten mit Händen und Armen in der Weise austüfteln und verfeinern, daß sie ähnlich wie Morsezeichen eindeutige Mitteilungen und Botschaften darstellten, wie man mit Hilfe von regelförmig nach Vorschrift geschwenkten Fähnchen in der Schiffahrt, beim Militär oder am Flugzeughangar Warnungen und Anweisungen übermitteln kann. Doch handelte es sich dann nicht mehr um Gesten von der Art Sraffas oder des Mannes, der sich verlegen am Kopf kratzt, sondern um semantisch gehaltvolle Symbole.

Ein vulgäres Analogon der neapolitanischen Geste wäre das Ausspucken. Die Spucke gehört wie andere leibliche Absonderungen zu den Intima, die wir vor fremden Augen abschirmen und nur zum Zeichen extremer Verachtung auf der öffentlichen Bühne hinterlassen. Vielleicht will der Kerl, der vor dir auf den Gehweg spuckt, bloß ein Haar oder den Rest eines Bonbons loswerden, doch wenn er vor dir ausspuckt, weißt du, daß du in seinen Augen ein Paria bist.

Heißt dies, das Ausspucken bedeute, du seist ein Paria und eine nichtswürdige Kreatur? Nein. Das fidele In-die-Welt-hinein-Spucken und das gezielte Ausspucken unterscheiden sich in nichts, doch letzteres gewinnt in seinem spezifischen Kontext jenen verächtlichen Sinn.

Eine Phänomenologie der Gesten können wir leicht verfassen, wir brauchen uns dafür nur aus dem Fenster zu lehnen oder auf eine Bank bei einem belebten Platz zu setzen und die Augen aufzuhalten; wir können den Fernseher auf stumm schalten und öde Serien, dümmliche Talkrunden oder reißerische Krimis anschauen; dann notieren wir emsig in unser Notizbuch eine Liste von all den Gebärden, Faxen, Fratzen und Gestikulationen, mit denen sich die Leute betören oder verstören. Eine philosophische Analyse der menschlichen Gesten zu verfassen, ist allerdings weniger leicht.

Der Priester küßt, bevor er sie anlegt und zur heiligen Handlung schreitet, die Stola; der Gläubige küßt die Ikone. Der Verliebte küßt das Bild der Geliebten. Der Kuß der Devotion und religiösen Verehrung ist rituell und geschieht vor aller Augen, das heißt, er wird an einem geweihten Gefäß oder Gewand und einem heiligen Bild regelmäßig, zur bestimmter Stunde, im Zusammenhang einer religiösen Feier vollzogen; der Kuß des Verliebten ist nicht rituell, er geschieht als intimer Akt im Verborgenen. Der Diakon, der vor der Lesung das Evangelium rituell zu küssen verabsäumt, verstößt gegen eine Regel des Ritus. Anders der Verliebte, der sich nicht schuldig fühlen muß, wenn er das Bild seiner Geliebten heute Abend einmal nicht an die Lippen führt. Und wenn er es verschlampt hat und im Durcheinander der Schublade nicht mehr findet? Nun, dann ist er nicht mehr verliebt.

Wenn der Angehörige dem Sterbenden ein angefeuchtetes Tuch an die durstigen Lippen hält, stillt er ihm wohl den Durst; doch zugleich ist dies eine Geste – Gebärde der letzten innigen Nähe, des Danks, des Abschieds.

Wenn wir gefragt oder zu etwas aufgefordert werden, können wir nicken und damit ja sagen oder den Kopf schütteln und damit nein sagen. Aber wir können nicht ohne vorausgehende Frage oder Aufforderung mittels Nicken oder Kopfschütteln etwas sagen.

Wenn dich dein Freund einlädt, noch eine Weile im Park spazierenzugehen, kannst du mittels Kopfnicken dein Einverständnis bezeigen; freilich, dein Nicken hat keine Ähnlichkeit mit der Antwort, die du aussprechen könntest, wie: „Ja, gehen wir noch etwas spazieren.“

Würde der Lehrer den Schüler, der bei der Rechenaufgabe versagt hat, mit den Worten anfahren: „Du weißt doch, daß sieben mal sieben neunundvierzig ist!“, und der Schüler würde daraufhin wie mundtot nur stumm nicken, sieht es so aus, als hätte sein Nicken einen semantischen Gehalt und somit das, was Wittgenstein die dem Behauptungssatz zugehörige logische Form nennt; aber das ist eine dem Kontext geschuldete perspektivische Täuschung.

Ebenso steht es um die neapolitanische Geste: Sie mag einem eitlen Laffen gelten, der seinen Mund zu weit aufgerissen hat, und scheinbar den deskriptiven Inhalt mit sich führen: „Kerl, wovon du das Maul so vollnimmst, das ist alles erstunken und erlogen!“; doch kein Finger der Hand, die sie ausführt, verrät den Hauch einer Negation der anmaßenden Behauptung, die der Herausgeforderte von sich weist. Insofern hat Sraffa recht, wenn er Wittgenstein ad oculos demonstriert, Gesten seien nicht deskriptiv und somit semantisch gehaltlos; aber das ist nichts weniger als ein tiefer Gedanke, sondern eine Trivialität.

Wir sagen, einer hob flehentlich die Augen empor, einer runzelte bedenklich die Stirn, einer verzog spöttisch die Lippen oder rümpfte die Nase, einer lächelte dem Gast freundlich zu, einer zuckte abweisend mit den Schultern, einer winkte dem Fahrradfahrer entgegenkommend mit der Hand, einer schlug beschämt die Augen nieder.

Wir machen zwei Beobachtungen: Wir gewinnen den funktionalen und kontextuellen Sinn der jeweiligen Geste aus dem Verb, das sie näher spezifiziert, wenn wir sie beschreiben: So finden wir im Emporreißen des Blicks den gestischen Ausdruck des Flehens, im Runzeln der Stirn den Ausdruck des Vorbehalts und der Bedenklichkeit, im Schürzen der Lippen und im Naserümpfen den Ausdruck des Spotts und des Widerwillens, im Lächeln den Ausdruck freundlicher Bewillkommnung, im Schulterzucken den Ausdruck der Abweisung oder Kaltsinnigkeit, im Winken den Ausdruck von Höflichkeit und Zuvorkommenheit, im Niederschlagen des Blicks den Ausdruck der Scham.

Die zweite Beobachtung gilt den verschütteten, in den Humus und das Grundwasser der Sprache, die Metaphorik, herabgesunkenen Gesten: So sprechen wir davon, daß einer die Nase hochtrage, einer den Stab über seinen Gegner breche, einer mit dem Feuer spiele, einer Schaum vor den Lippen habe, einem die Haare zu Berge stehen, einer uns Honig ums Maul schmiere, einer auf hohem Kothurn einhergehe, einer mit geschwellter Brust daherstolziere, einer die Ohren spitze, einer den Mund zu voll nehme, einer sich mit hängenden Schultern davonschleiche, einer sich in die Hosen gemacht habe, einer weiche Knie bekommen habe, einer sich lieber auf die Lippen beiße, als mit der Wahrheit herauszurücken, einer die Flinte ins Korn geworfen habe.

Wir bemerken, daß viele Metaphern einen oft urtümlichen gestischen Sinn mit sich führen, der im alltäglichen Sprachgebrauch meist verblaßt oder schattenhaft unter die Schwelle der Wahrnehmung gesunken ist.

Auch jene metaphorischen Wendungen, mit denen wir unsere ästhetischen Eindrücke wiederzugeben pflegen, haben oft einen gestischen Einschlag. So sprechen wir davon, das Andante schleppe sich schwerfällig dahin, eine Satire verspritze Gift, eine Polemik zeige Zähne oder habe Biß, der Rezitator töne hohl und maskenhaft, der Dichter gehe vor dem Zeitgeschmack in die Knie, er schiele mit obszönen Anspielungen nach dem billigem Applaus, er gestikuliere wie ein Besessener, er verhülle seine Blöße unter dem Schleier des Rätsels, das Bild verkleistere seine häßlichen Falten mit greller Schminke, das Adagio sei wie ein scheues Winken in unabsehbare Fernen, das Finale erstarre wie in plötzlich hereinbrechender Eiseskälte, die Klarinette hüpfe wie ein frohes Kind, die Blumen, die uns das Gedicht aufdringlich unter die Nase hält, duften nicht – sie stammen von einem Kirmesstand oder einem Trödelladen und sind aus Plastik.

Können wir die menschlichen Gesten nach Typen und Mustern ordnen, ähnlich den performativen Äußerungen und Sprechakten wie dem Fragen, Bitten, Auffordern, Danken, Klagen, Fluchen, Sichentschuldigen, Verzeihen, Versprechen oder Ernennen, Taufen und Lossprechen?

Jedenfalls können wir die deiktische Geste, mit der wir auf etwas zeigen und hinweisen, von der expressiven Geste unterscheiden, mittels derer wir unser Gefühl, unser Befinden oder die emotionale und moralische Einstellung zu unserem Gegenüber zum Ausdruck bringen.

Natürlich können wir mit konventionellen Gesten vollbringen, was wir mit Worten machen, wenn wir jemanden um etwas bitten oder auffordern, etwas zu tun: Der Bettler ringt die Hände oder hält seine leere Schale hin, der Wachmann auf der Kreuzung benutzt seine Trillerpfeife und regelt behende den Verkehr.

Wir können jemandem ohne viel Wortgeklingel um Verzeihung bitten, indem wir eine traurige Betroffenheitsmiene aufsetzen und schuldbewußt die Blicke zu Boden senken.

Wir besiegeln eine Abmachung oder einen Vertrag mittels üblicher Redewendungen und per Unterschrift unter ein Dokument und haben solchermaßen einen deklarativen Sprechakt vollzogen; so tun wir es auch stillschweigend, einander die Hände reichend oder in aufgeräumter Stimmung per Handschlag.

Wir müssen das unwillkürliche Zucken des Lids im Windzug vom Zwinkern des Schwerenöters unterscheiden, der die üppige Blondine dort an der Bar ins Auge gefaßt hat.

Das gleisnerische Lächeln des betrügerischen Versicherungsvertreters unterscheiden wir wohlweislich vom süßen Lächeln des Backfischs, wenn der große lange Blonde zum ersten Rendezvous einherstolziert.

Wie wir spielend Worte als unechte Münzen glänzen lassen und das Blau vom Himmel herunterlügen können, tun wir es auch mit Gesten: winken freundlich den Gästen nach, die einen den ganzen Abend mit ihrem intellektuellen Geschwätz verleidet haben; heucheln Herzeleid mit falschen Tränen, auf daß uns der Herzbube an der Angel bleibe; doch halten wir manchmal das Taschentuch noch gedankenverloren in die graue Luft der Dämmerung, wenn der Zug mit der Geliebten schon längst abgefahren ist.

Wenn wir jemandem im Gedränge auf die Füße treten, so haben wir gelernt, um Entschuldigung zu bitten; gleiches gilt für den Rotzlöffel, der es nicht lassen kann, anderen eine Nase zu schneiden oder die Zunge rauszustrecken; nach einer letzten Watschen reift er endlich zum höflichen Zeitgenossen heran.

Was für die Sprache gilt, gilt auch für stumme, aber beredte Gesten: Wie es keine private Sprache geben kann, so auch keine privaten Gesten.

Na gut, willst du als Hans Dampf oder faustische Natur in neuen Gesten dich ergehen, rasch eine taufrische aus der Nase gezogen! Schnippe nur mit dem Finger oder schnalze mit der Zunge und mach es mit dir selber aus, was das bedeuten soll – beispielsweise die Aufforderung, jetzt bin ich dran, ihr seid mucksmäusenstill, jetzt rede ich. Probierʼs mal aus! Es klappt nicht? Sie quasseln ungerührt weiter? Sie schauen nur aus dem Augenwinkel, was mit diesem Kerl da wieder los ist, was er wieder für Torheiten und Donquichotterien treibt?

Ebensowenig wie die Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks – assoziativ oder kausal – an die Vorstellung oder das mentale Bild geknüpft ist, die wir daran heften mögen, ist es die Geste: Nehmen wir an, der Neapolitaner sieht immer einen Mailänder Snob vor Augen, wenn er die verächtliche Geste Sraffas macht; gut, aber wenn er sie in Rage wieder einmal gegenüber seiner Schwiegermutter anbringt? Er muß sich überhaupt nichts dabei denken, Geste bleibt Geste. Und auch die gedankenlos vollführte hat er auszubaden, wenn die Schwiegermutter so recht in Stimmung kommt.

Einen Versuch philosophischer Betrachtung und Analyse unserer gestischen Spiele zu unternehmen, die noch dazu unseren Instinkt für musterhafte Ordnung und unser Behagen an der subtilen Klassifikation befriedigten, wäre durchaus wünschenswert.

 

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