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Wittgensteins Sinnbilder X – der Wettlauf

05.04.2019

Im Rennen der Philosophie gewinnt, wer am langsamsten laufen kann. Oder der, der das Ziel zuletzt erreicht.

Ludwig Wittgenstein

 

Hier scheint alles auf dem Kopf zu stehen, rückwärts zu laufen, den Atem anzuhalten.

Oder will hier jemand gar einen pastoralen Ton anschlagen und es mit den Letzten vor den Ersten halten?

Aber der Igel freut sich zu früh, der nur immer still stehen blieb, während der Hase rannte.

Wer am längsten getrödelt und Löcher in die Luft geglotzt hat, erhält freilich nicht den Lorbeer.

Die einen kommen und bringen Blüten, die sie dem Schiedsrichter vor die Füße legen, die anderen Früchte, gemeine und seltene, wieder andere zierliche Muscheln, einer sogar die scheckige Haut einer Schlange. Doch zuletzt kommt, ganz außer Atem, einer, der mit letzter Kraft einen Meteoriten herbeischleppt.

Wer so spät kommt, darf mit dem Applaus der Menge nicht rechnen, doch mit der Gnade eines Richters, der es vermag, die Mühe, die einer bei jedem Schritt aufwenden mußte, gegen den Anprall des teuflischen Winds abzuwägen, der ihm, nur ihm allein, entgegenblies.

Was verlangsamte die Denkschritte des Philosophen und war nicht Wittgenstein, er selbst, berühmt und berüchtigt für die Schnelligkeit, mit der er Fragen seiner Schüler beantwortete und ihre unsinnigen Äußerungen wie der geschickte Fechter seitliche Hiebe parierte?

Der schwere Brocken, der von einem fernen Meteor auf die Erde gefallen war und den er herbeischleppte, lag an einer unwegsamen Stelle und war teilweise in ekelerregendem Schlamm eingesunken, sodaß er sich einen Weg durch dornige Hecken bahnen und seine Umgebung mühsam trockenlegen mußte, bevor er ihn ausgraben konnte.

Blumen am Wegrand zu pflücken oder hier einen Apfel, dort eine Handvoll Kirschen von überhängenden Zweigen, selbst ein paar Muscheln aus dem Sand aufzuraffen, ist nicht so schwer.

Im Märchen könnte sich die Königstochter, die im Garten neben der Quelle auf ihn wartet, demjenigen Freier versprechen, der ihr den besten Grund gibt, sie dort um ihre Gunst anzuhalten. Nun, alle beeilen sich, ein jeder greift nach einem funkelnden Geschmeide, pflückt einen Strauß schönste Lilien, einer bringt gar einen exotischen Sittich, und jeder legt, was immer er für sein Kostbares hält, der Schönen zu Füßen. Doch diese weist sie alle der Reihe nach ab. Da kommt schließlich noch einer in schäbigem Gewand gleich dem eines Bettlers daher und gar mit leeren Händen. Er nennt auf die Frage, was er denn wohl für einen guten Grund habe, nach der Königstochter zu verlangen: Er habe so großen Durst und komme, aus ihrer Quelle zu trinken. Ja, das nahm die Schöne für den besten Grund.

Wenn die Prüfung darum geht, ein schönes Muster aus einem Haufen von bunten Stofflicken, den ein jeder Kandidat in seinem Korb vor Augen hat, zusammenzustellen, beeilen sich alle und ein jeder greift nach diesem und jenem Lappen, schneidet rings die Fransen um die Stücke ab und näht sie flugs, wie sie gerade passen und sich fügen, aneinander. Doch einer trennt die Flicken aus seinem Korb der Reihe nach mühsam auf, bis eine Schar bunter Fäden vor ihm liegt und aus diesen webt er ein schönes neues, nie gesehenes Muster. Gewiß braucht er am längsten, doch seine Mühe wird mit dem Siegespreis belohnt.

Ja sicher, die Flicken und Lappen können auch Fetzen aus Zeitungen und Büchern sein, und was die gewöhnlichen Kandidaten daraus zusammenleimen, ist hinlänglich bekannt. Was aber sind die Fäden Wittgensteins, die er aus jenen Flicken gewinnt, indem er sie vollends auflöst? Es könnten solche sein, die er zu den Mustern neuer Sprachspiele verwebt.

Wenn es darum ginge, aus dem Märchenbuch der Brüder Grimm ein musterhaftes Beispiel zu finden, blättert ein jeder in dem Schmöker und führt mit dem Finger über das Inhaltsverzeichnis, um sein Lieblingsmärchen herauszupicken. Der eine erzählt dieses, der andere ein anderes. Doch einer läßt sich Zeit und liest und liest und kommt nach einer guten Weile zu dem Ergebnis, ein Muster der Grimmschen Märchen finde man, wenn man jene zusammenstellt, die mit den Worten beginnen: „Es war einmal“ und mit den Worten enden: „Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.“

Wenn es darum ginge, typische Wendungen in der Alltagskommunikation der Deutschen zu finden, kommen die einen bald mit „Guten Morgen“ und „Gute Nacht“, andere mit „Herzlich willkommen“, „Auf Wiedersehen“, wieder andere mit „Haben sie gut geschlafen?“, „Es freut mich, sie zu sehen“, „Ich wünsche Ihnen alles Gute“ oder „Ich hoffe, Sie bald wiederzusehen“ sowie „Ich empfehle Ihnen, den botanischen Garten zu besichtigen“ und „Hier ist das Buch, das sie mir geliehen haben“. Einer läßt sich Zeit und beißt sich durch den Lokalteil einer Zeitung und kommt dann zu dem Ergebnis: „Es gibt mindestens folgende kommunikativen Muster: etwas behaupten oder fragen, zu etwas auffordern oder etwas befehlen, seine Wünsche und Gefühle für das Gegenüber ausdrücken, etwas versprechen.“

Bestünde die Aufgabe darin, mit Worten oder Zeichen die Anlage und die verschiedenen Viertel einer alten, in die Moderne gewucherten Stadt zu beschreiben, würden die meisten bald aufgeben. Einer könnte sich aber die Mühe machen und auf viele verschiedene Kärtchen ikonische Zeichen typischer Bauweisen, wie Fachwerk, klassizistische und Jugendstilvilla, Hochhaus, aber auch Grünanlage und Park, aufmalen und sie gemäß ihrer Anordnung in dieser Stadt zusammensetzen.

Wäre die Aufgabe, bei der Addition der Zahlen von 1 bis 10 ein sinnvolles, übersichtliches und schönes Muster zu bilden, blieben die meisten bei ihrer Einteilung in gerade und ungerade Zahlen hängen. Einer könnte aber genügend Geduld aufbringen und die Reihe der Zahlen folgendermaßen anordnen:

1      2    3    4     5       6     7     8   9   10
+(4   3    2    1    5)    –(1    2      3    4   5)
5 +   5  + 5 + 5 + 10 +  5 +  5 +  5 +  5 + 5 = 11 x 5 = 55

Oder schlicht:

1 + 10 = 11
2 + 9 = 11
3 + 8 = 11
4 + 7 = 11
5 + 6 = 11

5 x 11 = 55

Dies ist nur ein Spiel, ein Zahlenspiel unter tausend möglichen, mehr oder weniger gewitzten oder langweiligen, mehr oder weniger reizvollen oder faden. Wer immer die amüsanteren, geistvolleren, subtileren, mysteriöseren Muster, Girlanden, Bordüren und im Licht changierenden goldenen Vliese vor uns ausbreitet, seien sie aus Zahlen gewebt, aus Worten geklöppelt, aus Klängen gehaucht, mag er auch eine Stunde zu spät kommen, er macht das Rennen.

Da weicht einer von der staubigen Schotterbahn des allgemeinen Geredes auf schattige, bemooste Nebenwege aus, durchwühlt den Abfall der Hinterhöfe, stromert in verwilderten Gärten, kitzelt der Muse der Dorfkirmes mit seiner Hahnenfeder ihr trauriges Liedchen aus der Kehle, kommt auf der Spur eines Waldschrats oder Einhorns noch weiter vom Wege ab – und gelangt wie durch Zufall auf die Lichtung, wo die flotten Boten des Gewöhnlichen die Zuschauer mit ihren faden Anekdoten langweilen und wird mit gutem Wein und dem Lächeln der Entrückten bedankt, denen er wunders welche Abenteuergeschichten, Schwänke und Schnurren von seiner sentimentalen Reise auftischt, daß sich die Balken biegen.

Am guten Ausgang des Wettlaufs zählt nicht einmal mehr die Wahrheit, nicht einmal die Wahrscheinlichkeit, sondern das Faszinosum, das Berückende eines neuen schlichten oder verschlungenen Musters, der transparente oder in ein träumerisches Chiaroscuro getauchte Kosmos eines sublimen Gewebes, dessen Schimmer und farbige Schatten uns für einen Augenblick die Leere unserer Blicke benehmen.

 

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