Wittgensteins Sinnbilder VII – der Masseur
In seinem kleinen Buch mit Erinnerungen an seine Studienzeit in Cambridge erzählt Theodore Redpath, Wittgenstein habe zur Eröffnung eines Kollegs über die Philosophie der Mathematik in seiner Wohnung im Trinity College den Anwesenden erklärt, sie würden von ihm weder metaphysische Wahrheiten noch irgendwelche Inhalte wissenschaftlicher Natur vernehmen; er halte schießlich keine Vorlesung über Geographie oder Physik. Was er betreibe, sei eher der Arbeit eines Masseurs zu vergleichen, der Krämpfe und Verspannungen des Denkens auflöse.
Quelle: Theodore Redpath, Ludwig Wittgenstein. A Studentʼs Memoir, London 1990, 3. Kapitel
Wer unter starken Verspannungen oder Muskelkrämpfen leidet, kann seine alltäglichen Wege nur schlecht und recht, seinen alltäglichen Verrichtungen nur mit Mühe nachkommen. Wir sind dankbar, wenn der Krampf nachläßt, und haben ihn schon vergessen, wenn wir später wie gewohnt unseren Freund zu einem Spaziergang im Park abholen.
Manchmal genügt es, sich auszustrecken und abzuwarten, bis der Krampf im Fuß aufhört; manchmal wenden wir kalte Bäder an oder tragen eine Heilsalbe auf. Doch in hartnäckigen Fällen, vor allem wenn wir immer wieder nachts von Krämpfen aus Albträumen aufgeschreckt werden, suchen wir nach professioneller Hilfe. Wir bekommen vom Arzt ein krampflösendes Mittel injiziert und erhalten eine Überweisung zu einem medizinischen Physiotherapeuten.
Nun, Wittgenstein gibt seinen Studenten ein Bild von dem, was er als Philosoph betreibt, und damit ein Bild von dem, was er unter Philosophie versteht: Seine Methode ähnelt also der Arbeit des Masseurs, deren Erfolg sich in der Auflösung von muskulären Spannungen und Verkrampfungen zeigt; die Arbeit und Methode seiner Philosophie ist demnach eine Art Massage, durch die geistige Spannungen und Verkrampfungen des Denkens aufgelöst werden sollen.
Platon hat seinen Lehrer Sokrates als Heilkundigen und Therapeuten stilisiert oder ikonisiert, dessen Ziel er darin sah, die Seele seiner Mitmenschen zu heilen, indem er sie auf den rechten Pfad der Erkenntnis und wahren Einsicht leitete. Die Krankheit der Seele oder die Geisteskrankheit, von der sie Sokrates als apollinischer Arzt zu heilen berufen war, diagnostizierte er als Befangenheit im Schein, im Scheinwissen und der irrigen Meinung der Doxa, die gleich der Augenerkrankung durch den Star die klare Sicht vernebelt und nur durch einen chirurgischen Eingriff behoben werden kann.
Wie bekannt, sträubten sich die Kranken und Halbblinden auf der Agora von Athen sowohl gegen die Diagnose als auch gegen die Therapie und klagten den aufdringlichen Arzt der Scharlatanerie an – mit durchschlagendem Erfolg.
Je nachdem, welchen Krankheitstyp welchen Schweregrads der wirklich oder vermeintlich Fachkundige, der Schamane oder Heilsbringer anthropologisch am Mark oder der Oberfläche dem Falle Menschheit bescheinigt, lautet die Diagnose: benigne Wucherung oder bösartige Geschwulst der Seele. In der platonisch-staatlichen Heilanstalt werden die Gesunden nach eugenisch-charismatischen Kriterien herausgemendelt und sind alsdann nach jahrelangem psychogymnastischem und dialektischem Training zur Führung berufen.
In der christlichen Heilsökonomie diagnostiziert der große Medizinmann eine allgemeine Verderbnis des Lebens und eine Fäulnis der Herzen, angesichts derer die Selbstheilungskräfte der Vernunft und der moralischen Ertüchtigung verzagen müssen. Da hilft nur eine Radikalkur oder ein radikaler Eingriff. Immerhin inkarniert sich der gottgesandte Heilsbringer in die leibhaftige Gestalt des tödlich Erkrankten, ein letzter Hoffnungsschimmer vom Lichte der Schöpfung. Freilich, anders als die rettende Einsicht, welcher der platonische Sokrates wenn auch unter schmerzlichen Wehen maieutisch-dialektisch aus dem dunklen Schoß der Erinnerung ans Licht der Sonne des Guten zu befördern vermag, muß der christliche Sünder alle Viere, sprich die platonischen Tugenden, von sich strecken und die durstige Zunge in blindem Vertrauen nach dem Tropfen der Gnade hinhalten.
Wie es ausschaut, ist die Diagnose Wittgenstein nicht ganz hoffnungslos, wenn die Krämpfe und die Stumpfsinn und Benommenheit verursachenden Verknotungen des Denkens, die es zu lösen gilt, auch in der Tiefe der Sprache wurzeln. Oder sind es Luftwurzeln eines Parasiten am grammatischen Stamme? Gewöhnlich reden wir ja ganz vernünftig in den Tag hinein, grüßen einander, zeigen uns, was wir meinen und wollen, und gehen mit einer vollen Einkaufstasche nach Hause.
Doch mancher bleibt mitten im Gedränge gedankenverloren stehen und hält den ganzen Betrieb oder Fluß des Lebens auf, indem er auf den Wegweiser mit der Aufschrift „Notausgang“ starrt und sich fragt und grübelt: „Sollte ich den jetzt nehmen? Meine Frau hat mich verlassen und meine Kinder reden nicht mehr mit mir. Was soll ich hier länger weilen?“
Dem Manne kann vom Sprachtherapeuten leicht durch den Hinweis darauf geholfen werden, inwiefern sich eigentlicher und metaphorischer Sprachgebrauch unterscheiden.
Anders der sprachlogisch schwerer Erkrankte, der auf der Uhr nach der Zeit sieht und sich fragt, ob es auf der Sonne jetzt auch 7 Uhr ist, oder ob sein Wecker beim Urknall auf 12 Uhr oder auf 24 Uhr gestanden hätte, oder was das denn eigentlich sei, die Zeit.
Hier muss der Sprachmasseur bisweilen lange massieren, um den Patienten zu lockern. Oft helfen aber schon augenzwinkernde Hinweise darauf, daß es keinen Einheitswecker für alles, was wir Zeit nennen, gibt, und daß der Gedanke an das Verschwinden unserer Europäischen Normalzeit am Rande des Schwarzen Lochs im Zentrum der Galaxie uns nicht daran hindern sollte, rechtzeitig in die Straßenbahn zu steigen, um pünktlich zur Arbeit zu kommen.
Doch selbst große Helden wie Achilleus mögen am Wettlauf des Daseins scheitern, wenn sie vor der kleinen Schildkröte zurückschrecken, der man einen Vorsprung eingeräumt hat.
Hier muß der Masseur eine muskuläre Verknotung lösen, die eine wichtige Versorgungsader des Gehirns blockiert, weswegen unser Held beim Gedanke ans Voranschreiten vor dem chimärischen Abgrund des Unendlichen sich in die heroische Hose gemacht hat.
Ist es mehr nicht als dies, was der Sprachtherapeut Wittgenstein bietet, dem Mann, der seine Brille nicht findet, zu zeigen, er habe sie in die Stirn geschoben? Vielleicht. Doch immerhin, jetzt sieht er wieder klar und kann anderes, Besseres, Vernünftiges, Unvernünftiges, tun, als seine Zeit mit der vergeblichen Suche unter dem Tisch und den Kissen zu verschwenden oder anderen mit seinem wichtigtuerischen Geschrei auf die Nerven zu fallen, er sehe nicht mehr durch.
Wahre Erkenntnis und große Theorie? Seelische Heilung? Das Heil der Seele gar? Zu hoch gegriffen. Sondern schlicht und einfach weiterleben, sich selbst weniger durch unsinnige Gedanken ins Gehege kommen, weniger anderen durch unsinniges Gerede ins Gehege kommen, kurz: die Zeitung weglegen, den Mund halten, Unkraut jäten und Beeren, Kirschen oder Blumen pflücken.
Bei manch einem genügt schon eine herzhafte Watschen, daß er aufwacht und nicht mehr so dämlich aus der Wäsche schaut.
Indes, jenem, der die ganze Sache leid ist und den Büttel, er selbst zu sein, hinschmeißen will, indem er den Packen mit dieser Zumutung von Wackerstein einem anderen aufzubürden gedenkt, seiner Frau, seinem Kind, einer Puppe namens Niemand aus dem Simulantenstadl, helfen selbst hart walkende Griffe nicht mehr.
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