Wittgensteins Sinnbilder V – der exotische Volksstamm
Nehmen Sie einen Volksstamm, bei dem die Länge der Felder gemessen wird, indem man daran entlanggeht und die Schritte zählt. Wenn vom selben Feld verschiedene Resultate erzielt werden, denken sich die Leute gar nichts dabei – selbst wenn Zahlungen von den Resultaten dieses Zählens abhängen! Wenn Sie nun daherkommen und sagen, Sie hätten eine bessere Methode, bei der ein Meßband benutzt wird, könnten die Leute ganz uninteressiert sein und sagen: „Was für eine seltsame Methode, die mühsam Geräte benutzt und immer dasselbe Resultat erzielt. Unsere Methode ist viel besser.“
Der Begriff einer genauen Messung taucht in ihrem Leben gar nicht auf und ebensowenig der Begriff der wahren Länge. Wenn wir sagen „Sie müssen den Begriff der wahren Länge haben“, so ist das nur, weil wir uns ein komplizierteres Leben vorstellen, in dem eine Methode zu messen einer anderen vorgezogen wird. Aber so ist deren Leben nicht.
Quelle: Norman Malcolm, Ludwig Wittgenstein, Ein Erinnerungsbuch, München und Wien 1958, Seite 64
Der exotische Volksstamm sind WIR ohne die Voraussetzung bestimmter Begriffe und Methoden, in diesem Falle oder in diesem Modell einer Lebensform ohne den Begriff der wahren Länge und die Methoden der technischen Zivilisation, beispielsweise das Verfahren des Messens mit Geräten wie einem Meßband.
Die Folie mit dem seltsamen Gebaren exotischer Ureinwohner wird auf ein Blatt mit einer Skizze von unserem technischen Alltag gelegt, um die Stellen merklicher Abweichung zu markieren. So sehen wir, was bei uns los ist, wenn wir mit dem Fernglas auf das Treiben exotischer Inselbewohner blicken.
Die ersten Aufzeichnungen des Menschen, die wir auf Stein und später auf Papyrus finden, sind Angaben über die Einteilung der Felder und die Ernteerträge, die diese am Saum jener der agrarischen Kultur so förderlichen Ströme von Euphrat, Tigris und Nil abwarfen. Aus ihnen erhellt, daß den Schriftkundigen oder den Vermessungstechnikern die grundlegenden geometrischen Relationen wie der Satz des Pythagoras bekannt waren, auch wenn sie nicht wie später die Griechen durch Anwendung von Formeln zu exakten Ergebnissen kamen, sondern mehr oder weniger gute Schätzgrößen anwandten.
Doch dem Philosophen geht es nicht um kulturmorphologische Vergleiche, sondern um das kulturelle oder lebensprägende Gewicht von Sätzen. Die einen bleiben im Ungefähren und reden vage von Größenordnungen, die wir mit präzisen Meßmethoden wie dem Anlegen starrer Maßbänder und der Flächenberechnung anhand geometrischer Formeln exakt vermessen.
Doch wir sagen Dinge wie: „Hier ist es schön, hier wollen wir uns ins Gras legen!“, unbekümmert darum, daß jemand mit dem Ortsadverb „hier“ einen vagen Umkreis oder ein mehr oder weniger eng umgrenztes Gesichtsfeld benennt, sobald er den sprachlichen Ausdruck benutzt. Das hindert dich nicht, wenn du gemeint bist, deinen Rucksack abzulegen und eine Decke auf die Wiese zu breiten.
Dieselbe Vagheit der Benennung finden wir in der alltäglichen Verwendung vieler Ausdrücke wie „dort“, „oben“, „unten“, „vorn“, „hinten“, „links“, „rechts“, „der da“, „jener dort“, aber auch „gleich“, „dann“, „darauf“, „bald“, „nach einer Weile“ oder „schön“, „fein“, „angenehm“, „gut“.
Wir sind demnach nach Ausweis unserer alltäglichen Sprachgewohnheiten jener exotische Volksstamm, der sich nicht darum schert, daß es im Vagen bleibt, wenn jemand sagt: „Ich komme gleich zurück“ oder „Dort hinten geht doch unser Freund Peter“ oder „Sieh mal, unten am Ufer, wie viele Möwen!“
Wenn wir auf die vielen Möwen am Ufer zeigen, deutet unser Finger vielleicht auf eine, aber wir meinen und verstehen „viele“. Kinder können das Versmaß eines Kinderlieds an den Fingern einer Hand abzählen, aber sie brauchen nicht eine Vorstellung von vier Fingern, um das Metrum von „Hänschen klein“ zu bestimmen. Ebensowenig bedarf ich der Vorstellung von einer Menge an Schritten, wenn du mir bei deiner Heimkehr sagst, du seist einen weiten Weg gegangen.
Es mag wohl wichtig sein zu sehen, daß Regen und Nässe zwei verschiedene Sachen sind. Denn wir können feststellen, daß es regnet und die Straße naß ist, aber auch, daß es nicht geregnet hat und die Straße naß ist.
Die Genauigkeit der logischen Beziehungen ermitteln wir durch Ausprobieren typischer Satzverbindungen mit „und“, „nicht“, „weil“ und „obwohl“. „Es hat geregnet, denn die Straße ist naß.“ – „Die Straße ist naß, weil es geregnet hat.“ – „Die Straße ist nicht naß, weil es geregnet hätte.“ – „Obwohl es nicht geregnet hat, ist die Straße naß.“ Wenn solche und ähnliche Satzverknüpfungen sinnvoll sind, wissen wir, daß es sich bei den genannten Ereignissen um logisch unabhängige Sachverhalte handelt.
Freilich, diese Form der Genauigkeit unterscheidet sich grundlegend von dem Hang, in allem und jedem einen wahren oder idealen Maßstab anzulegen. Es genügt, miteinander darin übereinzukommen, hier noch eine kleine Weile zu rasten; zu sagen, wir geben uns noch achteinhalb Minuten, wäre albern.
Noch törichter ist es, Maßstäbe, die im atomaren und subatomaren oder im kosmischen Bereich eine Relevanz haben, auf unsere mittleren Größenverhältnisse herunterbrechen zu wollen und fidele Quantensprünge im Unternehmensmanagement zu machen oder den Abgrund schwarzer Löcher im sozialen Universum heraufzubeschwören.
Die Klarheit, die Wittgenstein anstrebte, ist nicht aufgrund der Exaktheit idealisierender Meßmethoden zu erreichen, sondern besteht in Einsichten, wie jener, daß für unseren alltäglichen Umgang vage Angaben genau das Richtige sind.
Wären unsere Worte Münzen, Geldscheine, Aktien, wir könnten sie nicht wie diese in exakte Mengen einer idealen Währung wie Gold umtauschen.
Dir zum Abschied zu winken oder Lebwohl nachzurufen, liefe in etwa auf das Gleiche hinaus; doch ist der Sinn des Abschiednehmens und des Abschieds nicht eine von solchen Gesten und Redewendungen unabhängige Idee, keine geistige oder vorstellungsmäßige Entität. Wir haben die Bedeutung des Abschieds nur an solchen Gesten, deren Variation und Färbung uns verraten, wie schwer oder leicht er sei, ein „Auf Wiedersehen“ auf bald oder ein „Lebe wohl“ für immer.
Wir fassen das Thema unserer Aussagen, anders als das musikalische Thema der Fuge, der Sonate oder Sinfonie, nur in der ganzen Reihe seiner Variationen.
Die Aussagen über die vermessene Strecke, ob in der Mitteilung der Anzahl von Schritten oder der Anzahl von starren Maßeinheiten, sind Variationen über das gleiche Thema.
Wären Worte Tänze, haben wir sie als Ländler, Polka, Walzer, aber nicht als Tanz an sich, wären sie Blumen, als Veilchen, Butterblume, Aster, aber nicht als Blume an sich.
Wären Worte Blumen, könnte die Butterblume bisweilen wie ein Veilchen duften.
Wir können unser bisheriges Leben anhand der Wege und Schritte vermessen, die wir gegangen sind; sodann können wir die Wege auf einer Landkarte eintragen, um eine Übersicht zu erhalten. Die Lebenswege sind wir nach und nach abgeschritten, die auf der Karte markierten Wege sind gleichzeitig da.
Die Varianten der Wörter und die Variationen des Satzes, den wir jetzt aussprechen, sind wie virtuelle Punkte und Linien auf der grammatischen Landkarte gleichzeitig vorhanden.
Wir sagen „Leb wohl“, und im Echoraum der Worte ertönen mehr oder weniger schwach die mitgesagten, mitgemeinten und ungesagten Worte wie „Auf bald“, „Auf Wiedersehen“, „Ade“, „Pfiat di Gott“ und manche andere. Aber Floskeln wie „Guten Morgen“, „Gute Nacht“ und „Schlaf gut“ resonieren nicht und bleiben außen vor.
Wir erinnern uns an die Wege, die wir gegangen sind und wie wir an den Ort kamen, wo wir uns jetzt daran erinnern. Doch sehen wir dieselben Wege auf einer Karte, eingebettet in all die Regionen und Orte, die sie durchkreuzen oder berühren, wissen wir nicht, daß es unsere Wege sind.
Wir verstehen einen, der uns erzählt, er sei von Frankfurt nach Bad Homburg gewandert; doch wenn er von sich wie von einem Dritten spricht, verstehen wir nicht, was er uns sagen will.
Jemand, des Umgangs mit Karten unkundig, versteht nicht, daß die eingezeichneten Linien Wege bedeuten. So auch mit den Karten unserer Wortvarianten und Satzvariationen, wenn einer ihre Grammatik nicht beherrscht.
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